09.08.2002

Der Wahnsinn, die Macht und die Lust am Untergang

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Der Wahnsinn, die Macht und die Lust am Untergang

DER „Lügenkapitalismus“ mitsamt seinen gigantischen Pleiten – Enron, WorldCom, Lucent, Xerox etc. – wirft eine beunruhigende Frage auf: Gibt es eine Beziehung zwischen „wahnsinnigen Amokläufern“ wie dem Erfurter Schüler Robert Steinhäuser und den „Allmächtigen der Welt“, wie dem Vivendi Universal-Präsidenten Jean-Marie Messier oder dem Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff? Der „wahnsinnige Chef“ bläht sein Unternehmen durch Übernahmen und Fusionen immer weiter auf, will ihm alles einverleiben, bis in einer finalen Explosion alles mit ihm untergeht. Der Amokläufer will im Rausch einer wahnsinnigen, tödlichen Umarmung mit den anderen verschmelzen. Wie lange wollen wir noch – fassungslos und fasziniert – diesen mörderischen Wahnsinn mitansehen? Wie lange lassen wir es uns noch gefallen, von den allmächtigen Chefs globalisierter Unternehmen manipuliert zu werden – von einer Art globaler Sekte, die sich die Individuen und Ressourcen untertan macht?

Von DENIS DUCLOS *

Der große Crash von 1929, schreibt der berühmte amerikanische Ökonom und Sozialhistoriker John K. Galbraith in seiner Untersuchung über Ursachen und Verlauf des „Großen Börsenkrachs“, wurde erst durch völlig irrwitzige Investitionen auf den Höhepunkt getrieben.1 Schon damals stürzten sich in der Wall Street die Banker aus den Fenstern ihrer Büros, und die Psychoanalytiker fragten sich: Sprangen sie aus bitterer Enttäuschung in den Tod, oder war ihr Selbstmord – ähnlich wie bei Gewohnheitsspielern, die ihre Umgebung ruinieren, ehe sie sich selbst zerstören – die Vollendung eines Wahns, in den sie möglichst viele Leichtgläubige hineingezogen hatten – nach einem ähnlichen Muster wie die Gurus einer Selbstmordsekte?

In Zeiten großer Unsicherheit antworten die individuellen Störungen auf den Erregungszustand des Kollektivs. Die verhängnisvoll auf den Untergang zusteuernde Gewinnsucht der „Allmächtigen der Welt“ spiegelt sich im hemmungslosen Verbrechen der Amokläufer, deren „wahnsinniges Töten“ die gesellschaftlichen Tendenzen wie in einem Zerrspiegel zur finsteren Karikatur gerinnen lässt. Fasziniert von den Exzessen des kulturellen Verfalls, auf dessen Boden ihre Bluttaten gedeihen, versuchen diese Todesschützen, ihr eigenes Schicksal in einem Vernichtungsakt mit dem der Gruppe zu verbinden, so wie spekulierende Konzernchefs das Vermögen ganzer Völker einsetzen und diese mit in den Untergang reißen.

Einige prominente Fälle öffentlicher Amokläufe, die im Selbstmord endeten (oder enden sollten), haben sich in Quebec, den USA, der Schweiz, Frankreich und jüngst in Deutschland zugetragen. Da ist Denis Lortie, der am 8. Mai 1984 in der Hoffnung, erschossen zu werden, zuerst die Zitadelle von Quebec und dann die Nationalversammlung stürmte. Er wollte die Regierung töten, der Sitzungssaal war leer, beim Amoklauf durch die Flure wurden drei Menschen getötet, Lortie überlebte. Da ist Marc Lépine, der am 6. Dezember 1989 vierzehn Studentinnen der École Polytechnique in Montreal umbrachte, ehe er die Waffe gegen sich selbst richtete. Da ist Fritz Leibacher, der am 28. September 2001 in den Sitzungssaal des Zuger Kantonsparlaments eindrang, vierzehn Menschen niederschoss und sich dann das Leben nahm. Und da ist Richard Durn, der am 26. März 2002 acht Mitglieder des Stadtrats von Nanterre tötete und tags darauf aus dem Fenster sprang.

Der Massenmörder – ein mustergültiger Angestellter

DAS jüngste Beispiel schließlich ist der Amoklauf von Erfurt am 26. April dieses Jahres, bei dem Robert Steinhäuser in seinem Gymnasium sechzehn Menschen (darunter dreizehn Lehrer) und anschließend sich selbst erschoss. In seiner Ankündigung hat Steinhäuser sich explizit auf das Massaker vom 20. April 1999 (Hitlers Geburtstag) in der Schule von Littleton berufen; auch hier nahmen sich die beiden Täter, Eric Harris und Dylan Klebold, anschließend das Leben.

Jeder dieser Amokläufer hat eine Umgebung angegriffen, mit der ihn eine Hassliebe verband, die ihm nahe war und die er verabscheute: Für Lortie war es erst die kanadische Armee, dann die Nationalversammlung, in der er „das Gesicht seines Vaters“ zu erkennen glaubte; für Lépine war es die in seinem Abschiedsbrief geschmähte „Gang der radikalen Feministinnen“2 ; für Leibacher „die Zuger Mafia“; für Richard Durn die „lokale Mini-Elite“ in Person der „Bürgermeisterin“, der Einzigen, die er „absichtlich“ treffen wollte. Für Steinhäuser war es das gesamte Lehrerkollegium seiner Schule, für Harris und Klebold alle Mitschüler.

In irgendeiner Form ist der „wahnsinnige Massenmörder“ immer Teil des Ganzen, gegen das er seine Aggressionen richtet, ob Komitee, Versammlung, Parlament, Schulklasse, Institution oder Stadt. Nach Angaben seiner Vorgesetzten war der Gefreite Lortie „ein exzellentes Element“. Marc Lépine hatte sich an der École Polytechnique beworben, Leibacher war ein mustergültiger städtischer Angestellter und Durn ein vielseitig engagierter Parteigenosse, humanitär und polyglott. Steinhäuser, der als sympathischer Klassenkamerad beschrieben wird, war ein brillanter Programmierer, Harris und Klebold schließlich galten als ausgesprochen gute Schüler.

Dennoch hatte jeder von ihnen das Gefühl, keinen eigenen sozialen Wert zu haben, eine „Sache“ zu sein, die von „fremden Mächten“ gesteuert wird. Der Amokläufer zieht die Feindseligkeit auf sich, die im gegebenen Moment zum Auslöser wird. Um zu existieren, muss er sich von der Mittelmäßigkeit seiner Umgebung abheben. Oft beschließt er im Voraus, so groß wie die Gruppe zu werden, die er niederstrecken wird, als könne ihn nur das Töten in den Augen des Kollektivs angemessen aufwerten. Die Monströsität der Tat macht ihn zum unvergesslichen Helden – „von allen anerkannt“, wie Steinhäuser sagte – und wird mit einer Gleichsetzung beschlossen: Sein eigener Tod ist gleich die Summe aller anderen Tode. Wenn ihm der Selbstmord nicht gelingt, verlangt er, dass er von denen, die er angreift, getötet wird. Bei Lortie waren es die Militärkameraden, bei Durn die Mitglieder des politischen Establishments.3

In diesem Wahn gefangen, endet der Amokläufer in einer tragischen Verschmelzung zwischen sich und den anderen, dem Individuum und der Gesellschaft. Ein Rausch, der jedoch nicht nur den „Wahnsinnigen“ eigen ist. Er entspringt einer Faszination für die Vereinigung von Körper und Geist (dem Individuellen und dem Kulturellen), die als verborgene Sehnsucht in uns allen steckt.

Was nun die anderen „Rasenden“ betrifft, die fanatischen Verfechter der Globalisierung, so bilden sie eine Art Weltsekte, die danach strebt, an die Stelle der verschiedenartigen Gesellschaften zu treten, das Projekt einer Weltdemokratie aber ablehnt.4 Diese Weltsekte setzt sich aus einer ebenso faszinierenden wie abstoßenden Gruppe zusammen, sie ist eine so verlockende wie grausame Gemeinschaft, welche die Wünsche der anderen voraussieht, ihre Bedürfnisse steuert, Verträge überprüft, die Menschen als normal oder anormal taxiert und ihnen auf diese Weise die Fähigkeit raubt, noch spontanen Umgang miteinander zu haben.

Im Zeitalter der Globalisierung bewegen sich die großen Finanzzampanos nicht mehr in der Sphäre der Wirtschaft, sondern auf Regierungsebene. Indem sie eine Währung platzen lassen oder ein Regime stützen, das ihre Vorschriften befolgt, sichern sie ihre Macht als Manager der Welt ab und fordern die demokratischen Prinzipien heraus. Durch ihren Zugriff auf den gewaltigen Kapitalzuwachs der letzten fünfzehn Jahre haben sie bereits ganze Wirtschaftsbranchen vereinnahmt; die übrigen vermögen sie zu kontrollieren, weil sie ihnen vernichtende Operationen androhen können.

So haben die Geldtransaktionen, das Verschieben von Spekulationskapital, einen Staat nach dem anderen in die Knie gezwungen, erst Mexiko (1994), dann Thailand (1997), Korea (1998), Russland (1999), Brasilien (1999), die Türkei (2001) und schließlich Argentinien (2002). In diesen Erscheinungen scheint sich die Anarchie der Märkte zu äußern. In Wirklichkeit sind sie Beispiele für eine bestimmte Form strategischer Einflussnahme auf Regierungen, die anlässlich wichtiger Entscheidungen einzusehen haben, wer in Wahrheit die Macht ausübt. Eine Art Elektroschlagstock mit geopolitischer Wirkung, der dafür sorgt, dass die geoökonomischen Auftragstäter an die entscheidenden Hebel herankommen. Deren gewalttätige, raffinierte, verlogene und niederträchtige Methoden werden der Öffentlichkeit erst in dem Maße bewusst, wie sie ihre Namen lernt: Enron, WorldCom, Global Crossing, Tyco, Ouest, Imclone Systems, Lucent, Xerox, Vivendi Universal und deren zahlreiche „Berater“ wie Arthur Andersen.

Die Finanzmacht besteht vor allem in der Macht, andere um ihr Vermögen zu bringen. Da sie es sich leisten kann, astronomische Summen über Jahre irgendwo ruhen zu lassen, kann sie den günstigen Moment abwarten und zuschlagen, wenn alle anderen aus dem Rennen sind – ganz wie die wohlhabende alte Dame aus Amerika in dem italienischen Kartenspiel-Filmklassiker Lo scopone scientifico von Luigi Comencini: Alljährlich ruiniert sie ein Elendsviertel von Neapel durch ein Kartenspiel, bei dem immer der die letzte Runde gewinnt, der das meiste Geld in der Kasse hat. Trotzdem lässt das arme Volk nicht ab, Jahr für Jahr seine Ersparnisse zusammenzukratzen und stellvertretend einen Spieler zu entsenden, der dann alles an diese Todesgestalt verliert.5 Pech oder Masochismus? Vielleicht doch die Faszination der Macht des Geldes an sich, deren Opfer man lieber wird, als dass man die Idee einer egalitären Welt ertragen würde.

Die Realität übertrifft die Fiktion noch bei weitem. Auch ein Jean-Marie Messier war – bevor er als Boss von Vivendi Universal seinen Hut nehmen musste – mit der Wahrnehmung der Interessen williger Opfer beauftragt, die über ihre Verhältnisse gepokert haben und von sehr viel reicheren Leuten über den Tisch gezogen wurden. Auch er hat das ihm anvertraute Geld durchgebracht – mit dem Unterschied, dass es sich hier um Industrie- und Kulturgüter handelt, um Errungenschaften der Völker, die sie geschaffen haben und sie dann über Nacht loswurden. Ein abgekartetes Pokerspiel – betrieben von einigen internationalen Familien, die auf den Absturz von Vivendi spekulierten – zwang Messier schließlich zum Rücktritt und droht nun Canal+ zu zerschlagen, den Förderer des europäischen Films. Auch der Wasserversorger Générale des Eaux, der französische Spross der sanften Technologien, droht abgestoßen zu werden, damit der Konzern irgendwelche undurchsichtigen Anteile an US-Medienunternehmen halten kann.

Wie viele Führungskräfte – von France Télécom, Alcatel und Arcelor, von Crédit Lyonnais und Crédit agricole, von Pechiney und von Gemplus – kopierten Messiers Versuche, mit den Gamblern der Hautevolee zu spielen, bis man sie abgezockt hatte und sie den Steuerzahlern zerstörte Unternehmen und offene Rechnungen von mehreren hundert Milliarden hinterließen? Wie viele ach so kultivierte Eliten ließen sich mit Begeisterung übers Ohr hauen, um anschließend ihresgleichen in Armut und Schande zu stoßen?

Dabei können wir sicher sein: Zwischen zwei kalkulierten Schmeicheleien, die den nächsten Dummkopf an den Spieltisch locken sollen, zerreißen sich die Allmächtigen und ihre perfiden Berater das Maul über die kleinen Möchtegerne, die damit, nolens volens, die aktive Unterordnung ihrer Völker und Eliten unter die einzig wahre Zentralgewalt organisieren. Denn es ist ganz deutlich, dass auf den strategischen Posten europäischer oder asiatischer Unternehmen kaum noch „Einheimische“ sitzen, sobald das US-Finanzkapital die Kontrolle übernimmt.

Aber lassen wir den Kitzel und die Härte des Machtspiels beiseite und kommen zu der grundsätzlichen Frage: Ist der erbitterte Wille, Menschen und Ressourcen zu beherrschen, eigentlich vernünftig? Was bringt er den Siegern? Was hat die Finanzmacht am Ende davon, wenn sie mit brutaler Autorität ganze Berufszweige und Loyalitätsbeziehungen zerschlägt, die ihr im Wege stehen? Die Arbeitslosigkeit grassiert in den USA wie anderswo auch, und die „Herren der Welt“ erweisen sich als unfähig, „Projekte für die Werte der Welt“ zu unterstützen. Besessen vom Drang, Geldströme in Macht über Menschen zu verwandeln, setzen sie auf Mehrausgaben für den Militär- und Polizeiapparat, statt in das Abenteuer Wissenschaft zu investieren. Immer schneller treiben sie die Zerstörung der Natur voran und schikanieren unzählige Arbeitnehmer und Konsumenten mit dem Zwang, sie zu verehren, nur weil sie die Allmächtigen sind.

Die Sehnsucht nach der Ekstase im Ruin

DIESE sich ständig verschlimmernde Bilanz des Börsenkapitalismus, der sich zum „Lügenkapitalismus“ gewandelt hat, erweckt den Verdacht, dass diese Herren ein irrationales Motiv umtreibt. Sind sie nicht auf der Suche nach einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt? Suchen sie nicht die Ekstase im Ruin, erst dem der anderen, aber am Ende auch ihrer selbst? Selbst ein so fieberhafter Spekulant wie George Soros – im Übrigen ein subtiler Theoretiker der „offenen Gesellschaft“ – vertritt die These, die Bestimmung der Märkte sei nicht das Gleichgewicht (wie es die Blindesten der Blinden immer noch glauben), sondern im Gegenteil: die sich selbst verstärkende Katastrophe.

Erinnern wir uns an die These, der zufolge eine politische Klasse, die allzu lange regiert, aufgrund ihrer akkumulierten Fehler auf das vollständige Scheitern zusteuert. Gilt das nicht auch für die Welteliten, die wie besessen vom Gedanken an drohende Verluste, lieber sinkende Profitraten bekämpfen, als Pläne für eine langfristige produktive Nutzung der Reichtümer zu entwickeln? Kann es nicht sein, dass sich hinter den eisigen Reden über die Geschäftsperspektiven, mit denen sich die Großaktionäre und ihre Stellvertreter an die hoch disziplinierten Massen ihrer Untergebenen wenden, eine glühende Leidenschaft verbirgt: sich – wie die Amokläufer – mit den anderen in einer letzten Gefühlswallung der höchsten Gefahr auszusetzen?

Das wahre Ziel der „Erfolgsstorys“ ist der Fall des Ikarus, der Tod des Gladiators – fieberhaft erwartet vom begierigen Publikum des globalen Zirkus. Messier – der nur einer der vielen Fanatiker ist – hat die Rolle dessen, der das Ich mit dem Universellen verschmelzen lässt, nur gespielt, um den einen dramatischen Augenblick zu antizipieren: den Moment, in dem die wahren Herren – die Familie Bronfman oder andere Kapitalriesen – beschließen würden, die Vivendi-Aktien abstürzen zu lassen, um den arroganten kleinen Frenchie, der bei den Großen mitspielen wollte, auf die Plätze zu verweisen.

Es sieht ganz danach aus, als fühlten wir uns alle in den Bann eines Spiels gezogen, in dem der Höchstgewinn das „Alles verlieren“ ist. Liegt es denn allein an den Manipulationen skrupelloser Berater, dass wir unsere Zukunft durch irgendwelche „Derivatengeschäfte“ oder ruinöse Spekulationsfonds aufs Spiel setzen und vergessen, welche desillusionierenden Erfahrungen es in der Vergangenheit immer wieder gegeben hat – etwa die Millionen Rentner, die vor dem Krieg in Europa und den USA durch ungültige Spargutschriften ruiniert wurden?

Hier muss eine gemeinsame Tendenz zur Selbstvernichtung vorliegen – anders ist die Bereitschaft, alles immer wieder neu aufs Spiel zu setzen, gar nicht zu erklären. Warum zerschlagen, was wir zum Wohl der Allgemeinheit aufgebaut haben: funktionierende öffentliche Dienste, professionelle Kompetenz, uralte Hochschultraditionen, Grundlagenforschung, solide Altersversorgung, staatsbürgerliche Achtung der Armen, Konsolidierung des kulturellen Erbes, internationales Gleichgewicht, eine eigenständige Staatsbürgerschaft?

Gewiss, es lohnt sich, an bürokratisierten oder chauvinistischen Institutionen zu rütteln, um diejenigen aufzuwecken, die es sich in ihrem Sessel zu bequem gemacht haben. Aber bei all dem Drängen auf permanente Reform wird das Ziel der Befreiung immer suspekter. In seinem bedingungslosen ständigen Drängen erscheint das ultraliberale Denken als Zeichen eines pervertierten, im Grunde selbstzerstörerischen Willens – auch wenn die besten und nüchternsten Elemente der sozialistischen oder liberalen Eliten auf den Ultraliberalismus abfahren.

Hier ein paar besonders krasse Beispiele. Da werden etwa „Schmalspuroptionen“ gefördert (wie etwa die Wahl: welchen Anbieter vom Typ Enron soll ich diesen Monat für meine Stromrechnung benutzen?), die nur Ersatz sind für die wirkliche Freiheit, ohne Konsumzwang zu leben. Da ist der unbändige Drang zur Privatisierung, die in der Konsequenz dazu führt, dass die von der globalen Wirtschaftsmacht unabhängigen Unternehmen ihrer Substanz entleert und ihre Daten zu undurchsichtigen Zwecken ausgeweidet werden, dass ihre Eigenständigkeit lahm gelegt und ihre „staatsbürgerliche“ Rolle ausgehebelt wird. Da ist auch die ewige Kritik an den Beamten, die immer zu viele, immer zu „privilegiert“ sind – als wünschten wir uns englische Verhältnisse herbei, unter denen alles zerfällt: die Post, die Forschung, die Schulen, das Eisenbahnwesen und die Krankenhäuser. Da ist die Tendenz, systematisch das republikanische Prinzip abzuwerten und damit die Zerstückelung des sozialen Raums zu begünstigen, also die Aufteilung in Ethnien, Interessengruppen, partikulare Gemeinschaften und Marktsegmente. Oder denken wir an die Stigmatisierung der freien Zeit und die Überhöhung kleiner neurotischer Verrichtungen; die „Abstempelung“ der Armen, die von einem Schalter zum nächsten geschickt werden, um ihren Status nach allen Regeln der Bürokratie mit „Nachweisen“ zu dokumentieren – die ihnen ihre mildtätige Schutzheilige namens Sozialdemokratie eingebrockt hat, die aber von Schuldgefühlen geplagt wird, sobald von angemessenen Löhnen und Arbeitsteilung die Rede ist. Und denken wir schließlich an das Einsperren von so genannten kriminellen Jugendlichen, bis die Mauern der neuen Erziehungsanstalten hochgezogen sind.

Die Tragik von Herr und Knecht

DIE Zustimmung zu dieser Logik der sozialen Selbstverstümmelung zeigt fast unverhüllt den Wunsch nach einem wirtschaftlichen und politischen Desaster. Die absurde Perspektive verschärft sich noch durch zwei verführerische Angebote, die implizit dazu gehören, auch wenn man es gar nicht wahrhaben will. Das erste Angebot: Selbst wenn ich mich in einer geknechteten Position befinde, kann ich mir vom System der Sklaverei erhoffen, eines Tages Herr zu sein; und das zweite: Noch in der Vernichtung durch das allmächtige Prinzip werden wir gemeinsam an der Allmacht teilhaben.

So seltsam der aktuelle Drang zur freiwilligen Knechtschaft erscheinen mag, äußert sich darin doch die ewige Neigung, das Leben, die Freiheit und die Würde jedes Einzelnen aufs Spiel zu setzen – in der Hoffnung, andere durch Gewalt oder grausame Hinterlist zu beherrschen. Von den Zirkusspielen der Römer bis zu „Big Brother“, von den amerikanischen „Finanzpyramiden“ bis zum Kinderspiel „Die Reise nach Jerusalem“ stützt sich das Streben, sein eigenes Unglück zu schmieden, auf den Wunsch, in den Genuss umfassender Machtsysteme zu gelangen, und auf die Versuchung, „sich einzuschließen, um sich zu zerstören“.6

Neben zahlreichen Aufständen und Befreiungskämpfen hat es in der Geschichte – von der Taylor‘schen Fabrik bis zur heutigen Erpressung durch die employability – eine lange Vergangenheit der knechtischen Infantilisierung gegeben, die eine Bereitschaft der Menschen zeigt, das Unannehmbare zu ertragen und sich manchmal damit abzufinden. Die Selbstausschaltung erfolgloser Bewerber oder Angestellter (das berühmte „schwächste Glied“) ist mittlerweile selbstverständlich für den unternehmerischen Liberalismus, der seinen morbiden Sadomasochismus unter dem Kennwort „ökonomische Rationalität“ verbirgt. Es gibt keine große Firmengruppe, in der das Gesellschaftsspiel, das im Namen der Aktionäre gespielt wird, nicht darauf hinausliefe, Junge gegen Alte auszuspielen, Beamten gegen „Private“, Einheimische gegen Fremde, ja sogar Männer gegen Frauen.

Auf den ersten Blick scheint es die abgeschottete Konzentration auf interne Kämpfe zu ermöglichen, dass Geld gespart und eifriger gearbeitet wird. Bei näherem Hinsehen lässt sich – abgesehen von der aktiven Lust, die Untergebenen niederzudrücken, und dem passiven Genuss, die Herren zu ertragen – eine Neigung zur Selbsterniedrigung erkennen. Merkwürdigerweise geht die moralische Ablehnung jeder faschistoiden Tendenz bei vielen Verfechtern des Ultraliberalismus mit einem Hang einher, die eigene Kultur abzuwerten (möglichst viele Wörter durch amerikanische Begriffe zu ersetzen); mit einer Verzichthaltung (immer dem „internationalen Berater“ den Vorzug vor dem heimischen Unternehmen geben); mit der Bereitschaft zum Verrat (Agenturen – die durchsetzt sind von Spionen im Dienst der Macht – bekommen Einsicht in die kostbarsten Archive des Unternehmens), zur Denunziation (sich über den geringsten Widerstand gegen die Hierarchie zu beschweren), zum Misserfolg (die Zerschlagung von Produktionsstätten und den teilweisen Aufkauf durch einen feindlichen Investor zu akzeptieren) und zu aufdringlicher Selbstbezichtigung (immer auf den eigenen, „privilegierten“ Beruf schimpfen, und sich scheinheilig zu den „Unterprivilegierten“ herunterbeugen).

Im Unternehmen wie beim Massenkonsum ist die freiwillige vollzogene Selbstvernichtung vor dem „Herrn für alle“ (dessen Fähigkeit, jeden Einzelnen wie eine Sache zu benutzen, zum kollektiven Genuss wird) in vollem Gange. Wann sagt man uns endlich die mit allen Mitteln unterdrückte Wahrheit: dass derzeit alles zu Gunsten der Zentralgewalt des einen Herrn umgekrempelt wird? Dabei handelt es sich um nichts anderes als eine weltweite Faschisierung, die sich im Namen des Widerstands gegen den Populismus ausbreitet: das aktuelle Werkzeug einer fortschreitenden Zermalmung aller durch die endgültige Übermacht.

Wir alle möchten gern zu der Selbstmordsekte gehören, die uns verheißt, den intimsten Teil unserer selbst mit ihrem universellsten Teil zu verschmelzen. Und wir möchten, dass dieser universelle Teil unserem Inneren sein Gesetz auferlegt, damit jeder „lokale“ oder persönliche Widerstand in uns erstickt wird. Wir genießen es zu sehen, wie die alten Formen der kollektiven Macht über die spontane Kultur kommunizierender Individuen durch neue Formen abgelöst werden, denn nichts ist Furcht erregender als die Freiheit – selbst für die „Liberalen“.

In diesem Zusammenhang ist die paranoide Ausprägung der amerikanischen Hypermacht eine Bedrohung für den Weltfrieden. Viel gefährlicher aber ist sie für Amerika selbst, das ja einen entscheidenden und oft glanzvollen Beitrag zur Freiheit geleistet hat. Allem Anschein nach vollzieht sich im Inneren der amerikanisierten Weltgesellschaft ein verzweifeltes Ringen zwischen zwei entgegengesetzten Prinzipien. Das ist zum einen die Öffnung zum unabhängigen und abenteuerlichen Leben, das stolz und misstrauisch den Einfällen der Bürokraten trotzt – ein kostbarer Wert, den kein Vertreter der menschlichen Emanzipation verleugnen oder vernachlässigen sollte. Und das ist zum anderen das Ideal der reibungslosen Einordnung (asexueller) Körper und (infantilisierter) Geister in eine umfassende Handelsstruktur, die letztlich für die Geschicke aller verantwortlich ist.

Wie lange noch wollen wir der Fantasie vom „Allmächtigen der Welt“ anhängen und diese liberal-kollektivistische Träumerei zur höchsten Vernunft erklären? Wann werden wir begreifen, dass es für unser Überleben unerlässlich ist, den irrsinnigen Wettlauf in den Selbstmord aufzuhalten? Wann werden wir es wagen, zum Sturm auf jene „globalisierten“ Agenturen zu blasen, die in London oder in New York oder in Hongkong ihre Pläne schmieden? Die nichts anderes wollen, als systematisch die sozialen, kollektiven und kulturellen Strukturen kaputt zu machen, die den Völkern dienen, weil nur auf ihrer Grundlage Allianzen des gegenseitigen Respekts zu errichten sind.

dt. Grete Osterwald

* Soziologe, Forschungsdirektor am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) in Paris. Autor von „Société-Monde, le temps des ruptures“, Paris (La Découverte) 2002, und „Entre Esprit et Corps. La culture contre le suicide collectif“, Paris (Anthropos) 2002.

Fußnoten: 1 John K. Galbraith, „Der große Crash 1929. Ursachen, Verlauf, Folgen“, München (Heyne) 1989. 2 Vgl. Hélène Y. Meynaud, „Blanche-neige et l‘épine: femmes, technologies et folies“, mit dem Abschiedsbrief von Marc Lépine, Chimères, Nr. 38, Paris 2000. 3 Viele „Serienmörder“ sind Massenmörder, die ihre Taten über einen längeren Zeitraum verteilen: Viele haben es auf eine bestimmte Kategorie von Menschen abgesehen, organisieren eine dramatische Steigerung, indem sie einen Hauptfeind bezeichnen (meistens eine Mutterfigur) und begehen schließlich Selbstmord oder verlangen, getötet zu werden. 4 Das zeigt beispielsweise Washingtons Weigerung, dem internationalen Strafgerichtshofs zuzustimmen. 5 „Lo scopone scientifico“, 1972, wunderbar dargestellt von Bette Davis, mit dem genialen Alberto Sordi als Partner. 6 Wie André Breton 1942 in einem wunderschönen Text („La clé des champs“, Pauvert, 1979) an die in Amerika lebenden französischen Studenten schrieb.

Le Monde diplomatique vom 09.08.2002, von DENIS DUCLOS