09.08.2002

Pfeifen auf die Marseillaise

zurück

Pfeifen auf die Marseillaise

ES ist schon erstaunlich, was ein Pfeifkonzert korsischer Schlachtenbummler gegen die französische Nationalhymne in Gang setzen kann. Es geschah im Pariser Fußballstadion am 11. Mai dieses Jahres, beim französischen Pokalfinale zwischen Lorient und Bastia. Staatspräsident Jacques Chirac kam, hörte und verließ empört die Tribüne. Erst als der Präsident des französischen Fußballverbands sich inständigst bei dem Staatsoberhaupt entschuldigte, kehrte Chirac auf seinen Platz zurück. Von den Medien und der politischen Klasse Frankreichs und Korsikas wurde der Zwischenfall fast einhellig verurteilt, und in Paris ertönte sogar der Ruf nach einer Untersuchungskommission.

Von DIDIER REY *

Dass korsische Schlachtenbummler beim Erklingen der „Marseillaise“ ein Pfeifkonzert anstimmen, wie beim Endspiel im Mai dieses Jahres geschehen, ist in den Annalen des Coup de France ein Novum. Doch die Beweggründe der Pfeifer, die häufig auch widersprüchlich und oberflächlich sind, lassen sich nicht leicht auf den Punkt bringen.

Der Soziologe Christian Bromberger hat schon vor langer Zeit darauf hingewiesen, dass man das Grölen und Pfeifen der Fans unter sportlichen Gesichtspunkten nicht allzu wichtig nehmen sollte: „Was immer dazu angetan ist, das andere Lager zu schockieren, die bedingungslose Unterstützung des eigenen Clubs zu demonstrieren, den Rivalen aus dem Konzept zu bringen, wird rücksichtslos eingesetzt. Insofern wäre es falsch, den verbalen und gestischen Entgleisungen, den zur Schau gestellten Emblemen und den gebrüllten Beleidigungen allzu viel Sinn beizumessen.“1

Auch an jenem Abend im Mai 2002 ging es wohl vor allem um die Störung einer Veranstaltung, die stets im „Ausland“, das heißt auf dem französischen Festland stattfindet. Dass der Gegner aus der Bretagne kam, war dabei zweitrangig. Wichtig war nur, ihn zu schockieren, ihn und die nationalen Institutionen des französischen Fußballs. Und das konnte nicht wirksamer geschehen als durch die Verunglimpfung dessen, was dem Gegner bei dieser Zeremonie am heiligsten und teuersten ist: die Nationalhymne.

Und dann war da der Präzedenzfall des Länderspiels Frankreich–Algerien am 6. Oktober 2001. Bot das Endspiel in Paris den korsischen Fans nicht eine hervorragende Gelegenheit zu zeigen, dass sie den „Beurs“, der arabischstämmigen Jugend der zweiten und dritten Generation, in Sachen Pfeifkonzert durchaus das Wasser reichen können, wie einige Pfeifer nach Spielende ins vorgehaltene Mikro sagten? Und waren nicht auch wenige Tage zuvor, am 5. Mai, in vielen Stadien Pfiffe zu hören, als man der Opfer von Furiani2 mit einer Schweigeminute gedachte? Und zwar ohne dass es den geringsten Protest gegeben hätte!

Französischer Fußballverband, FC Lorient und die Marseillaise: die Gründe für die Stigmatisierung der Korsen, die in den Sechzigerjahren begonnen hat, sind schnell zusammengetragen. Als die Vereine der Insel damals versuchten, sich in die nationalen Meisterschaften einzugliedern, stießen sie nicht nur auf sportliche Schwierigkeiten. Sie hatten erwartet, als Gleiche unter Gleichen empfangen, als vollgültige Franzosen wahrgenommen zu werden, doch was sie empfingen, war das inakzeptable Bild einer Andersheit, die bislang den Untertanen des französischen Kolonialreichs vorbehalten war.

Schon im April 1959 hatten die korsischen Vereine im Unterschied zu den Clubs aus Französisch-Algerien hart zu kämpfen, um zur französischen Amateur-Meisterschaft (CFA) überhaupt zugelassen zu werden. Schließlich beschränkte man die korsische Teilnahme willkürlich auf eine einzige Mannschaft3 – was erst 1993 wieder revidiert wurde. Die Spielweise der Korsen, ihre Vorstellung von Fußball wurde beständig als minderwertig abgetan. Verbände, Presse, Fußballvereine – sämtliche Akteure des runden Leders warfen den korsischen Spielern brutales Einsteigen und Tricksereien vor, während das kontinentalfranzösische Publikum ihnen schlichtweg absprach, Franzosen zu sein.4

Dabei hatten die Korsen angenommen, sie könnten sich mit ihrem Fußball von der besten Seite zeigen. Die korsische Spielweise spiegelte in gewisser Weise ihre Inselkultur wider, sie zeugte von einer Reihe kultureller Eigenheiten, die ihren Erfolg begründeten5 , vom nationalen Verband jedoch abgelehnt wurden. Überall stießen die Mannschaften wegen ihres Auftretens auf Ablehnung – ein harter Schlag, der zudem völlig unerwartet kam. Hatte sich Frankreich bislang nicht in den höchsten Tönen über die korsischen Qualitäten geäußert, zumal hinsichtlich ihrer Rolle beim Aufbau des Kolonialreichs?

Die Vorsitzenden der korsischen Vereine und ihre Spieler, das Publikum und die Presse sahen sich als Opfer einer „Verschwörung“ der kontinentalfranzösischen Fußballbosse, die sie, nur weil sie Korsen sind, von den nationalen Meisterschaften fern halten wollten. Diese Selbstwahrnehmung als Opfer war aber nicht darauf angelegt, die Anhänger für regionalistische Autonomiebestrebungen zu begeistern. Ganz im Gegenteil: Es war ein verzweifelter Versuch, die Forderung nach Gleichstellung irgendwie mit dem Gefühl des Andersseins zu vereinbaren. Keineswegs aber wurde dieses Anderssein offen zur Schau getragen, zumal es gerade von „den Anderen“ als unvereinbar mit dem französischen Nationalcharakter hingestellt wurde. Die Kritik an hegemonialen Repräsentanten des Festlands betonte zugleich, diese hätten mit dem „wahren“ Frankreich nichts zu tun. Damit wollten die Korsen sich ihr Idealbild von einem Land bewahren, dessen Reaktionen sie nicht mehr richtig nachvollziehen konnten.

Erst viel später, als die Tragödie von Aleria (1975)6 , das Drama von Bastelica (1980)7 und der bewaffnete Kampf korsischer Nationalisten die Insel erschütterten, schmückte sich das korsische Opfer-Selbstverständnis immer stärker – wenn auch nie vollständig – mit Versatzstücken der Frankreichfeindlichkeit aus. Doch diese Tendenz begann sich nach gut zehn Jahren zu erschöpfen, und gegen Ende der Neunzigerjahre lag der antifranzösische Nationalismus in den letzten Zügen. Die Episode vom 11. Mai 2002 war nur ein letztes Aufbäumen.

Hat der inkriminierte Vorfall also keinerlei politische Dimension? Christian Bromberger ist vorsichtig: „Solche Symbole sind keineswegs ohne Bedeutung, sie transportieren Wertvorstellungen, deren emphatische Bekundungen im Alltag gesellschaftlich geächtet sind.“8 Sprechen die Tatsachen also für die Interpretation des nationalistischen Führers Jean-Guy Talamoni, die Pfiffe seien in erster Linie Ausdruck des Zorn des korsischen Volks, weil die Matignon-Gespräche über einen Autonomiestatus endgültig gescheitert seien? Sind die Möglichkeiten, das Korsikaproblem auf dem Verhandlungswege zu lösen, erschöpft? Dann hätten die Nationalisten mit dem Pariser Pfeifkonzert tatsächlich einen großen Sieg errungen.

Nach dieser Lesart gehören die Pfiffe in einen umfassenderen Zusammenhang. Die erneute Attentatsserie auf der Insel und dem Festland, die neuen nihilistischen Parolen9 , der Rückzug der nationalistischen Kandidaten von den Parlamentswahlen und nun auch das Pariser Pfeifkonzert wären als Anzeichen eines Wiederauflebens aggressiver Unabhängigkeitsbestrebungen zu interpretieren. Dass Nationalismus der Beweggrund war, lässt sich nicht von vornherein ausschließen, denn die Verunglimpfung der „Marseillaise“ ist schon eine hochsymbolische Sache. Und einige der Pfeifer machten denn auch aus ihrem politischen Engagement für die Unabhängigkeit Korsikas keinen Hehl.

Gleichwohl ging die Aktion für die Nationalisten eher nach hinten los. Sieht man von der spontanen Bekundung im Vorfeld des Spiels ab, fällt auf, dass sich die Bastia-Fans während des gesamten Spiels ausschließlich auf das sportliche Geschehen konzentrierten, nationalistische Transparente und Parolen bildeten die Ausnahme. Wo waren sie, die Fahnen zum Ruhm der FLNC? Keine Spur von Zwischenfällen wie beim Meisterschaftsspiel in Martigues im April 1981, als das Treffen zwischen den Platzherren und den Gästen aus Bastia von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Ordnungskräften und korsischen Fans begleitet war, die ein ums andere Mal „FLN! FLN!“ brüllten. Kein Vergleich auch mit dem Pokalfinale von 197210 , als die Schlachtenbummler aus Bastia inbrünstig die korsische Nationalhymne „Le Dio vi salvi Regina“ anstimmten. Nicht zu vergessen auch die absolute Gleichgültigkeit, mit der die Inselbewohner die französische Nationalhymne 1981 quittierten.11

Verglichen damit war von korsischem Nationalismus an jenem Abend des 11. Mai 2002 außer ein paar Pfiffen kaum etwas zu spüren. Und auch die Pfiffe galten nicht alle der Marseillaise. Manche hatten den Beginn der französischen Nationalhymne gar nicht bemerkt, weil sie gerade die unablässig heulenden Sirenen der Pariser Polizei ausbuhen mussten. Dass in der blauweißen Menge kaum Parolen zu sehen waren, zeugt eher von zunehmender Entpolitisierung – es ging um die Forderung nach konkreter Anerkennung, nicht um die Unabhängigkeit.

Dass die politische Klasse Frankreichs den Vorfall gleichwohl so massiv verurteilte, sollte indes nicht verwundern, es war schließlich Wahlkampf.12 Als etwa der Linksnationalist Jean-Pierre Chevènement in den Pfeifern „abkommandierte“ FLNC-Mitglieder zu erkennen glaubte und eine veritable Verschwörung der Unabhängigkeitskämpfer am Werk wähnte, bediente er sich ausgerechnet der Rhetorik eines Abbé Barruel13 , der ganz andere Verschwörungen im Auge hatte. Sieht man von der verbalen Überspanntheit des Präsidenten des „Republikanischen Pols“ einmal ab, so belegen die Kommentare wieder mal eine völlig falsche Wahrnehmung der vielschichtigen Beziehungen, die Korsika mit dem Festland verbinden.

Überall ist zu hören, wie wichtig es sei, die Grundsätze und Grundwerte der Republik zu bekräftigen, ihre Bürger zu schützen und ihre Symbole zu verteidigen. Doch Korsika in diesem Zusammenhang zum Paradebeispiel für den Verlust an republikanischer Orientierung hochzustilisieren macht schlicht keinen Sinn. Nicht die republikanischen Prinzipien haben die Zugehörigkeit Korsikas zu Frankreich zementiert – die wurde vom Clansystem14 unter Mitwirkung und Duldung sämtlicher Verwaltungsebenen vielmehr fröhlich unterlaufen –, sondern der massive Beitrag Korsikas zum „kolonialen Auftrag“ der Dritten Republik und die Beteiligung der Korsen an den beiden Weltkriegen.

Die Insel integrierte sich in die Französische Republik, ohne die im übrigen Frankreich geltenden Vorstellungen von Demokratie und Bürgersinn zu teilen. Die Dritte Republik schuf einen Rahmen, in dem Klientelwirtschaft, Wahlfälschungen und Schiebereien aller Art blühten, und gab der real existierenden Inselidentität damit ständig neue Nahrung. In diesem Rahmen entstand eine eigene Beziehung zur lokalen Macht und eine ebenfalls ganz eigene Auffassung von Macht, die enge Bande zur Zentralmacht stiftete.

Dass die Korsen sich lange Zeit als französische Ultrapatrioten gaben, war in der Tat nur das Pendant zu ihrem starken insularen Identitätsbewusstsein. Nach so viel kollektivem Glück und Unglück wurde dies als ein naturgegebener Zusammenhang wahrgenommen. Dieser stille Vertrag, der Korsika ein knappes Jahrhundert an die Französische Republik band, zerbrach mit der Entkolonisierung und den Umwälzungen, die die Insel in den Sechziger- und Siebzigerjahren erlebte. Der Fußball brachte diese Entwicklung nur zum Ausdruck.

Ob es gewissen Leuten – in Korsika wie auf dem Kontinent – gefällt oder nicht, heute steht nicht die Wahl zwischen korsischer und französischer Nationalität auf der Tagesordnung, sondern ein neuer Vertrag, den abzuschließen tatsächlich politische Kühnheit erfordert. Was Not tut, ist also ein demokratischer und republikanischer Rahmen, der sich mit einer offensiv artikulierten korsischen Identität vereinbaren lässt. Der die Menschen also nicht vor die Zwangsalternative stellt, sich für das eine oder das andere entscheiden zu müssen. „Einheit und Vielfalt, und das eine nie ohne das andere“, lautete mit Blick auf Europa der Wahlspruch von Albert Camus.15

Noch ist es nicht zu spät für die Erkenntnis, dass sich die Republik in Korsika auf besondere Weise durchgesetzt hat und hier auch nur mit besonderen Mitteln zu erhalten ist. Es wäre ein schwerer politischer Fehler, den korsischen Partikularismus entweder mit Unabhängigkeitsbestrebungen oder aber mit Ablehnung von Gleichstellung gleichzusetzen und ihm einfach die republikanischen Prinzipien entgegenzuhalten. Solch ein Autismus hätte hier schlimme Folgen. Entpolitisierte Massen sind viel leichter zu manipulieren und neigen viel eher zu Gewalttätigkeiten und Extremismus als politisch gebildete Menschen. Sollte sich die Lage in nächster Zeit aus irgendwelchen Gründen verschlechtern, bestünde die Gefahr, dass Korsika endgültig ins Chaos abgleitet.

dt. Bodo Schulze

* Der Autor promovierte an der Universität Metz im September 2001 mit einer Dissertation zum Thema „Football insulaire méditerranéen et phénomène identitaire: le cas de la Corse 1905–2000“, die bei den Éditions Albiana als Buch erscheinen soll.

Fußnoten: 1 Christian Bromberger, „Le match de football. Éthnologie d‘une passion partisane à Marseille, Naples et Turin“, Paris (Éditions de la Maison des Sciences de l‘Homme) 1995. 2 Wenige Minuten vor dem Halbfinale im französischen Fußballpokal zwischen Bastia und Marseille am 5. Mai 1992 stürzte im Stadion Furiani eine Zuschauertribüne ein. 17 Menschen kamen ums Leben, 2 500 wurden teils schwer verletzt. 3 Nur in den Jahren 1963 bis 1965 durften zwei korsische Vereine teilnehmen. 4 In den Sechzigerjahren wurden die korsischen Fußballer bei Auswärtsspielen oft als Italiener behandelt. 5 Dass der korsische Fußball das Neutralitätsprinzip ablehnte, die Autorität anderer nicht akzeptierte und mit „harten Bandagen“ kämpfte, spiegelte das korsische Politikverständnis der damaligen Zeit ebenso wider wie das „engagierte“ und „energische“ Auftreten der Schlachtenbummler. 6 Am 21. August 1975 besetzte Edmond Simeoni mit Aktivisten der „Action pour la Renaissance de la Corse“ einen Weinkeller. Nach dem brutalen Durchgreifen der Ordnungskräfte waren zwei tote Gendarmen und zahlreiche Schwerverletzte zu beklagen. 7 Marcel Lorenzoni, der zusammen mit seinem Sohn Pierre am 24. Juni 2000 ermordet wurde, war im Januar 1980 bekannt geworden, als er mit einer Gruppe von Autonomisten das Rathaus von Bastelica besetzt und mehrere Mitglieder des Stadtrates als Geiseln genommen hatte. Bei der Befreiung der Geiseln hatte die Bereitschaftspolizei zwei Unbeteiligte getötet. 8 Siehe Fußnote 1. 9 Seit einigen Wochen tauchen in manchen korsischen Städten vermehrt Graffiti auf, die einen ungewohnten Ton anschlagen: „Megliu à more Corsu che à campà Francese“ („Lieber als Korse sterben, denn als Franzose leben“). 10 Am 4. Juni 1972 schlug Olympique Marseille Bastia mit 2:1. 11 Am 13. Juni 1981 schlug Bastia AS Saint-Étienne mit 2:1. 12 In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Chirac die Pfiffe und Ausschreitungen beim Länderspiel Frankreich–Algerien erst im März 2002 als „inakzeptabel und schockierend“ bezeichnete. 13 In seinen 1798 veröffentlichten „Mémoires pour servir à l‘histoire du jacobinisme“ führte Augustin Barruel (1741–1820) den Ausbruch der Französischen Revolution auf eine Verschwörung der Philosophen und Freimaurer zurück. 14 Dazu Jean-Louis Briquet, „La tradition en mouvement. Clientélisme et politique en Corse“, Paris (Belin) 1997. 15 Albert Camus (1913–1960) in einem Interview mit Demain (24.–30. Oktober 1957). Man denke auch an das Motto der Frankophonie: „Gleich, vereint, verschieden“.

Le Monde diplomatique vom 09.08.2002, von DIDIER REY