Guerilla mit Pfeil und Bogen
SEIT bald vierzig Jahren sind die Papua im Westen Neuguineas, in der indonesischen Provinz Westpapua (Irian Jaya), Opfer einer Kolonisierung, die von Djakarta mit äußerster Brutalität durchgeführt wird. Der Konflikt in Osttimor weckte Empörung in der internationalen Gemeinschaft, doch die Situation in Westpapua scheint weder die Vereinten Nationen noch die internationalen Medien zu interessieren. Von allen vergessen, führt das Volk der Papua, eines der ältesten der Welt, einen hartnäckigen Kampf um kulturelle Identität und politische Anerkennung.
Von DAMIEN FAURE *
Das kleine Motorschiff der Missionsstation von Kiunga hat den Fly River verlassen und ist in einen Nebenfluss eingefahren. Da rücken die Ufer näher, das Grün der Bäume wirkt kräftiger, und nach einigen Minuten Fahrt durch die üppige und bizarre Vegetation erreichen wir einen Binnensee von überwältigender Schönheit. Man könnte sich wie im Paradies fühlen, wäre da nicht der Umstand, dass unser Boot soeben Papua-Neuguinea verlassen hat und wir uns nun in Indonesien befinden, im alten Irian Jaya, Westpapua, der sechsundzwanzigsten indonesischen Provinz.
An der Spitze des Empfangskomitees steht Pater Jacques Gros vom katholischen Orden Saint Vincent de Paul, der als Missionar das gesamte Hochland bereist, das Grenzgebiet, das bis zur Meerenge von Torres reicht. Hinter ihm zwei örtliche Vertreter der TPN1 , des „bewaffneten Arms“ der Papua-Befreiungsorganisation OPM (Organisasi Papua Merdeka).
Die ersten Pfahlbauten kommen in Sicht. Überall am Ufer tummeln sich Kinder, begeistert, dass nach drei Monaten wieder einmal ein Schiff angelegt hat. Nach und nach füllt sich das Militärlager von Memeyop mit fremdartigen Gestalten. Ein beeindruckender, hagerer und weißbärtiger Mann im Tarnanzug, deutlich größer als die anderen, ragt aus der Menge heraus: Bernard Mawen, Chef der Befreiungsarmee im Süden Westpapuas. Der Mann ist eine lebende Legende. Seit Jahren sind Kommandos der Kopassus, indonesischer Spezialeinheiten, hinter ihm her. Dass er noch am Leben ist, verdankt er seiner Kühnheit und Kaltblütigkeit.
Den Nichtangriffspakt, der 1998, nach dem Abgang von Präsident Suharto, zwischen der TPN und der Regierung in Djakarta geschlossen wurde, haben die indonesischen Streitkräfte ignoriert und ihre gnadenlose Jagd auf alle Anführer der Unabhängigkeitsbewegung fortgesetzt. Jüngstes Beispiel ist die Entführung und Ermordung des Vorsitzenden des Papua-Rates, Theys H. Eluay. Seine Leiche wurde am 11. November 2001 nahe der Provinzhauptstadt Jayapura gefunden. Das Militär räumte später ein, dass Kopassus-Einheiten an der Entführung beteiligt waren.
Inzwischen ist es fast vierzig Jahre her, dass Männer wie Bernard Mawen und John Koknat, ein weiterer Kommandant der OPM, zu den Waffen griffen, um für die Unabhängigkeit ihres Landes zu kämpfen. Der Westen Neuguineas, einst unter der Kolonialherrschaft der Niederlande, wurde 1969 zur indonesischen Provinz erklärt – nach einem manipulierten Referendum namens „Freie Entscheidung“. Obwohl nur eine winzige, sorgfältig ausgewählte Minderheit der insgesamt etwa 800 000 Papua abstimmen durfte (und sich für den Anschluss an Indonesien entschied), wurde diese von den Vereinten Nationen überwachte „Volksabstimmung“ von den USA wie von der internationalen Gemeinschaft für rechtmäßig befunden – der Kalte Krieg spielte dabei eine entscheidende Rolle. Westpapua war damit zum indonesischen Herrschaftsgebiet geworden. Die neue Provinz erhielt wieder den alten Namen Irian Jaya („siegreiches Irian“)2 mit der Hauptstadt Jayapura (zuvor: Hollandia)3 .
Unter dem Suharto-Regime erlebten die Papua eine Zeit brutaler Repression, einschließlich schwerster Kriegsverbrechen: 1977 schreckte die Armee nicht davor zurück, Dörfer in der Baliem-Hochebene mit Napalm zu bombardieren, weil sie dort die Hintermänner der Widerstandsbewegungen vermutete. Kultur, Identität und Werte des Papua-Volkes – dessen Traditionen denen anderer melanesischer Völker, etwa den Aborigines in Australien oder den Kanaken in Neukaledonien, ähneln – wurden mit allen Mitteln unterdrückt. In den Augen der Besatzungsmacht waren die Papua nichts weiter als „primitive Wilde“. Also wurde ihnen auch die Ausübung ihrer überlieferten Gebräuche untersagt; im Baliem-Tal etwa durften die Männer nicht länger den traditionellen Penisschutz tragen, der eine große rituelle Bedeutung hat.
Im Rahmen des „Transmigrasi“-Umsiedlungsprogramms, das die übervölkerte Insel Java entlasten sollte (dort lebt bis heute die Hälfte der indonesischen Bevölkerung), schickte die Regierung Siedler in die neue Provinz Irian Jaya.4 Natürlich ging es auch darum, die Herrschaft über Westpapua zu festigen. Die kolonisatorische Maßnahme zeitigte Wirkung: Den Neuankömmlingen aus Java wurde Land zugewiesen, das seit Jahrtausenden den Siedlungsraum der Papua-Stämme gebildet hatte. Überdies begannen Bergbauunternehmen mit dem Abbau von Nickel, Kupfer und Gold – gigantische Tagebaugruben entstanden in der zentralen Bergregion der Provinz.
Sem Kuroba, Europakoordinator der Befreiungsbewegung OPM, schildert die Lage: „Seit 1969 werden wir getötet, unsere Dörfer bombardiert. Wir dürfen unsere Sprache nicht mehr sprechen und haben keinen Einfluss auf unsere Bildung. Unsere Häuser werden zerstört. Unsere Kultur wird verachtet, denn unser Glaube lehrt uns, Bäume, Berge und Flüsse zu heiligen. Die Bergbaugesellschaften sagen, wir sollten an einen einzigen Gott glauben und nicht an die Gottheiten der Natur.“
Die Bergbaugesellschaften, allen voran die US-Firma Freeport, können ihre Praktiken offenbar mit ihren Glaubensgrundsätzen vereinbaren: Seit Jahrzehnten zerstören sie die Natur und laden tonnenweise Chemiemüll ab, eine ökologische Katastrophe, die Teile der Bevölkerung bereits vertrieben hat.5 Sem Kuroba fasst zusammen: „Unser Reichtum an Bodenschätzen war einer der wichtigsten Gründe für die kolonialen Eroberungen. Ausländische Unternehmen betreiben Raubbau an den Vorkommen von wertvollen Hölzern, Gold, Silber und Kupfer. Wenn Sie mich heute fragen, warum ich kämpfe, dann ist meine Antwort: Weil meine Berge bluten, meine Wälder geplündert und meine Flüsse vergiftet werden.“
Etwa 60 000 Mann sind in den verschiedenen Gruppen des bewaffneten Widerstands organisiert, deren Kampf von der internationalen Gemeinschaft bislang kaum zur Kenntnis genommen wird. Sie sind schlecht ausgerüstet und den indonesischen Streitkräften mit ihrem hochmodernen Kriegsgerät hoffnungslos unterlegen. Sie können sich nur in die natürlichen Schutzräume, in die Berge und in den Dschungel an der Grenze zu Papua-Neuguinea retten.
Das Beispiel Osttimor weckt Hoffnungen
TROTZ aller Veränderungen, die Indonesien seit 1998 erlebt hat, hält der Kampf bis heute an. Nach dem Sturz von Präsident Suharto gab es erste Gespräche zwischen der OPM und den neuen Machthabern, zunächst mit Präsident Jussuf Habibi und 1999 mit seinem Nachfolger Abdurrahman Wahid, der zum Zeichen der Versöhnung die Provinz Irian Jaya in „Westpapua“ umbenannte. Doch mit dem Ende der indonesischen Diktatur lebten die Unabhängigkeitsbestrebungen im Inselreich wieder auf, zumal nach der Unabhängigkeit von Osttimor.6
Im Dezember 2000 erklärte der zweite Kongress der Papua (der erste hatte 1961 stattgefunden) die Volksabstimmung von 1969 für nichtig und forderte die Wiederaufnahme der 1961 abgebrochenen Verhandlungen über die Unabhängigkeit. Diese einseitige Erklärung fand allerdings nicht die Billigung der Vereinten Nationen. Einige Monate darauf machten auch Indonesiens Parlament und Armee ihre Ablehnung deutlich. Die Militärs, die Präsident Wahids Politik der Öffnung als Bedrohung ihrer Macht empfanden, verstärkten seither ihre Aktionen gegen die Unabhängigkeitsbewegungen.
Die neue indonesische Präsidentin Megawati Sukarnoputri hat grundsätzliche Veränderungen der Regierungspolitik zugesagt und unter anderem auch ein neues Autonomiestatut für Westpapua in Aussicht gestellt. Aber die Morde an Theys Eluay und William Onde, einem der Kommandanten unter Bernard Mawen, zeigen, dass die Armee und ein Teil der javanischen Führungsschicht ihre Privilegien nicht verlieren wollen. Ein kürzlich erschienener Bericht der australischen Nichtregierungsorganisation AWPA (Association West Papua in Australia) behauptet, dass zahlreiche Kämpfer der islamistischen Organisation Laskar Dschihad von den Molukken nach Westpapua eingeschleust worden seien.7 Diese militante Gruppe trägt die Verantwortung für die wieder aufgeflammten Konflikte zwischen Muslimen und Christen auf den indonesischen Inseln, die viele Opfer gefordert haben.
Um in Westpapua aktiv zu werden, braucht Laskar Dschihad allerdings Unterstützung durch die indonesischen Streitkräfte. In dem AWPA-Report heißt es, Anfang Mai 2002 seien dreitausend Kämpfer in Westpapua gelandet. In der Region Manokwari, wo besonders viele muslimische Einwanderer aus Java leben, seien militärische Ausbildungslager eingerichtet worden, man habe Waffen ausgegeben und Videos und Propagandaschriften über die Erfolge der Dschihad-Kämpfer auf den Molukken verteilt.
Susilo Bambang Yudhoyono, indonesischer Minister für Soziales und öffentliche Sicherheit, erklärte am 21. Mai, die Regierung komme auf ihr Angebot einer regionalen Autonomie für Westpapua nicht zurück: Man werde die Provinz nicht in die Unabhängigkeit entlassen. In seiner Rede vor dem Parlament bezeichnete Susilo die OPM als inakzeptable Bedrohung für die staatliche Einheit Indonesiens. Die Regierung sei durch eine Handvoll Separatisten herausgefordert worden, aber sie werde ein ernsthaftes Programm entwickeln, um solchen Gruppierungen zu begegnen und sie wieder einzugliedern.
Der gemeinsame Widerstand gegen Indonesien hat die Gruppen der Unabhängigkeitsbewegung bislang noch nicht so weit gebracht, eine einheitliche Organisation zu bilden. Selbst die kämpfenden Einheiten der OPM sind zerstritten, und ein unangefochtener Führer, der dem Widerstand die Richtung weisen könnte, ist nicht in Sicht. John Kuknat versuchte auf einer Reise im Januar diesen Jahres durch mehrere ozeanische Staaten – Osttimor, Vanuatu, Fidschi und Australien – sich den nötigen politischen Rückhalt zu verschaffen. Er erklärte sich auch zum Chef der Organisation, doch andere Fraktionen der kämpfenden Verbände betrachten Bernard Mawen als ihren obersten Kommandanten. Sicherlich spielt bei diesen Schwierigkeiten auch die Geschichte eine Rolle: Seit Jahrhunderten gab es unter den vielen Papua-Stämmen immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen.
Derzeit ist die OPM in drei Fraktionen gespalten. In Jayapura residiert der „Papua-Rat“ unter Führung von Tom Bernal, dem Nachfolger des ermordeten Theys Eluay. Ein konkurrierender „Exilrat“ aus geflohenen lokalen Führern, die radikalere Positionen vertreten, hat sich in Port Moresby in Papua-Neuguinea konstituiert. Und als Dritte gibt es die TPM, die kämpfenden Verbände der OPM, unter ihrem Oberkommandierenden Bernard Mawen. Seit Mawens Vorgänger Mathias Wanda im Dezember 2001 aus dem Gefängnis entlassen wurde, ist auch die Spitze der TPM zerstritten. Die drei großen Fraktionen bekämpfen sich schon seit Jahren. Die eine wirft der anderen vor, die wiederum der nächsten, mit dem Feind zu kollaborieren. Doch nach der Welle von Mordanschlägen in den vergangenen Monaten scheint die Bereitschaft zum Zusammenschluss gewachsen zu sein.
Einig sind sich die Unabhängigkeitsbewegungen in ihrer Ablehnung der Autonomievorschläge aus Djakarta. Bernard Mawen, im Militärcamp von Memeyop feierlich vor der Flagge des freien Papua, dem „Morgenstern“ posierend, erklärt dazu: „Wir weisen dieses Konzept rundweg zurück. Wir wollen, dass die Vereinten Nationen Druck auf Indonesien ausüben, damit keine weiteren Massaker an der Papua-Bevölkerung verübt werden, und dass sie sich für die Durchführung eines ehrlichen und rechtmäßigen Referendums einsetzen, damit die Menschen in Westpapua über die Zukunft ihres Landes selbst entscheiden können. Wie lange will sich die UNO eigentlich noch den Interessen Indonesiens beugen?“
Mawen geht davon aus, dass ein Autonomiestatut die Menschenrechte der Papua nicht schützen würde. Er sieht ihre Hoffnung allein in der Unabhängigkeit. Und er weiß, dass der Kampf nicht militärisch zu gewinnen ist, sondern an der diplomatischen Front, bei den Vereinten Nationen geführt werden muss.
John Koknat vertritt eine radikalere Haltung. Dass die OPM nun „den Weg des Friedens und der Gespräche unter Vermittlung der UN gewählt hat“, bedeutet seiner Ansicht nach nicht, „dass wir den Kampf aufgeben. Der bewaffnete Arm der OPM zählt 60 000 Mann unter neun Kommandanten. Wir können die Auseinandersetzung jederzeit wieder aufnehmen.“ Doch auf freiem Feld schlagen sich die Kämpfer der OPM manchmal sogar noch mit Pfeil und Bogen.
Mit Waffengewalt wird die Papua-Frage ohnehin nicht zu entscheiden sein. Eine politische Lösung muss gefunden werden. Doch das Volk der Papua besitzt keine formelle Vertretung bei den Vereinten Nationen, nicht einmal nominell als künftiger unabhängiger Staat, und darum sind seine Forderungen bislang ungehört verhallt. Vom Befreiungskampf eines der ältesten Völker der Welt nimmt kaum jemand Notiz. In Djakarta gilt das Autonomiestatut als die endgültige Lösung des Problems. Dort ist schon die Rede von wirtschaftlicher Entwicklung und Umverteilung des Reichtums. Die Papua misstrauen solchen Versprechungen. Zudem geht es nicht um bloße Umverteilung, sondern um das Überleben und die Identität eines ganzen Volkes.
dt. Edgar Peinelt
* Filmemacher. Sein Dokumentarfilm „West Papua“ (2002) wird vom Verleih Kimsa Films vertrieben (22. Rue de la Chapelle, 75018 Paris).