09.08.2002

Was wir weitergeben

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Was wir weitergeben

HÉLÈNE und Alain Nahum haben mehr Zeit in politischen Versammlungen verbracht als in Synagogen. Ihr Sohn Samuel hat gerade seine Bar Mizwa gefeiert. Hélène stammt aus einer griechischen Familie, von der fast alle Mitglieder in Auschwitz ermordet wurden. „Wir sind alle Marannen1 “, meint sie. „Wir wehren uns gegen die Globalisierung, indem wir unsere Identität wahren.“ Sie hat ihren Sohn beschneiden und seine Bar Mizwa feiern lassen. Alain ist Nachfahre ägyptischer Juden. Er bezeichnet sich als „wandernden Juden ohne Heimat, ja ohne Erbe“. Hinter der Identitätssuche seines Sohnes sieht er „das Bedürfnis, gegen die Eltern zu opponieren“. Samuel relativiert seinen Glauben, beteuert seine Unterstützung für Israel, wäre allerdings nicht bereit, in Israel zu kämpfen. Die antisemitischen Beschimpfungen junger Araber lassen ihn sagen: „Ich fühle mich als Erbe der Geschichte der Schoah und der Geschichte der Juden aus Ägypten. Ich bin nicht strenggläubig, finde es aber wichtig, Werte zu vermitteln.“

Die aus Algerien stammende Familie von Valérie Zenati ist nach den Pariser Attentaten in der Rue Copernic und der Rue des Rosiers nach Israel gezogen. Dann kehrte sie – nach der (ersten) Intifada – wieder zurück: „Der Staat war nicht mehr so, wie wir ihn uns wünschten.“ Was ihnen auffällt, ist die „Angespanntheit vieler französischer Juden. Es ist wie eine Angst vor der Leere. Ihre Identität beruht auf nichts Fassbarem mehr: auf einer Religion, deren Schriften sie nicht kennen, einem Ultranationalismus gegenüber einem Land, das nicht ihr eigenes ist, und der Erinnerung an Tote, von deren Leben vor der Schoah sie nichts wissen.“ Auch Nelly Hansson will sich „nicht mit der Vorstellung von einem Judentum abfinden, das auf einen harten Kern reduziert ist“. Wenn sie an ihre beiden Söhne denkt, wirft sie sich vor, „nur eine individuelle Dimension der Zugehörigkeit vermittelt zu haben, aber keine kollektive“. Und doch ist das Entscheidende in ihren Augen die „historische Kontinuität“ und die den Juden zukommende „Funktion eines Seismographen für Krankheiten der Gesellschaft“.

„Die Frage nach dem Judentum meiner Kinder stelle ich nicht“, sagt dagegen die Historikerin Annette Wieviorka. Sie erinnert sich an ein Ferienlager des Bundes, das sie als kleines Mädchen mitmachte: „Wir wurden mit zwei Fragen konfrontiert: Was heißt es, Sozialist zu sein? Und was heißt es, Jude zu sein? Die erste Frage ließ sich leicht beantworten: Es genügte, dass wir uns die Bonbons teilten. Die zweite blieb immer unbeantwortet.“ Ihre Tochter, die sich an solchen Fragen lange Zeit uninteressiert zeigte, trägt jetzt einen Davidstern um den Hals. Ihr Sohn wiederum hat eine Nichtjüdin geheiratet. „Meine Geschichte“, fährt sie fort, „das ist auch meine Fasson, Jüdin zu sein. Auf sehr persönliche Weise. Das Ghetto ist mir ein Gräuel. Diese Leute, die alle die gleiche Geschichte, die gleiche Sensibilität, die gleiche Paranoia haben, interessieren mich nicht.“

Fußnote: 1 Juden in Spanien, die zur Konversion gezwungen waren, um der Vertreibung zu entgehen.

Le Monde diplomatique vom 09.08.2002