09.08.2002

Zeit der Schurken

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Zeit der Schurken

Die Serie der Bilanzskandale nimmt kein Ende. Die Visionäre von gestern erweisen sich als schlichte Betrüger. Doch ihre Machenschaften, die das Mysterium der Neuen Ökonomie entzaubert haben, können nicht mehr als Fehltritt vereinzelter „schwarzer Schafe“ verharmlost werden. Sie sind der faule Kern eines Systems, das manipulierte Börsenkurse nicht nur erlaubt, sondern zum Hauptanreiz für das Management macht.

Von IBRAHIM WARDE *

ZUM Standarddiskurs über die Neue Ökonomie und die Globalisierung gehörte bis vor kurzem das idyllische Bild, das von den US-Finanzmärkten entworfen wurde: Unternehmensführer betätigen sich „wertschöpfend“ und werden entsprechend entlohnt; mittels Aktienoptionen und Pensionsfonds wird dafür gesorgt, dass die Interessen der Beschäftigten eins werden mit den Interessen der Aktionäre; die Demokratisierung der Finanzmärkte macht es möglich, einen großen Teil der Bevölkerung an dieser „Wertschöpfung“ zu beteiligen; zahlreiche „Kontrollmechanismen“ – gesetzliche Vorschriften, die so genannten Analysten, Verwaltungsräte, Wirtschaftsprüfer und sogar die Medien – garantieren, dass es auf den Märkten korrekt und sauber zugeht.1

Zwar erlebte die Welt in den zehn Boomjahren von März 1991 bis März 2001 eine ganze Reihe von Finanzskandalen, etliche Fälle von Wirtschaftsbetrug und ungehemmter Spekulation mit Derivaten, doch wurden solche Vorfälle flugs als schändliches Gebaren einer Handvoll schwarzer Schafe abgebucht. Und die benahmen sich natürlich atypisch und widergesetzlich, wie auch die Vokabel „Schurken“ (rogue) suggerieren sollte. Den herrschenden Diskurs konnten solche Episoden nicht in Frage stellen, galten sie doch als die sprichwörtliche Ausnahme, die die Regel bestätigt – und damit als hinreichender Beweis für die Fähigkeit des Systems, sich selbst zu regulieren. Also setzten die Märkte, nach kurzer Verunsicherung, ihren Höhenflug jedesmal umso unbeschwerter fort.

Da die US-amerikanische Wirtschaft sich offensichtlich bester Gesundheit erfreute und die Börsenmärkte erfolgreich den Gesetzen der Schwerkraft trotzten, glaubte sich die Führung der USA berechtigt, aller Welt die angloamerikanischen Methoden aufzuschwatzen. Das bedeutete mit anderen Worten: den Staatssektor abzuwickeln, die Kräfte des Marktes freizusetzen und mit dem crony capitalism, der Ursache allgemeiner Korruption, endlich Schluss zu machen. In dasselbe Horn stießen die Propagandisten der globalisierten Eliten. Alain Minc – von dem man in letzter Zeit allerdings nicht mehr so viel hört – argumentierte zum Beispiel: „Der Erfolg der Vereinigten Staaten nötigt uns, gegen unsere eigenen starren Prinzipien anzugehen. Begrüßen wir das Wunder, akzeptieren wir das Mysterium, und vor allem: nehmen wir uns dieses Beispiel zum Vorbild.“2

Eine visionäre Art der Wertschöpfung

DAS Wunder wurde wortreich begrüßt, das Beispiel allenthalben befolgt. Die blindgläubige Mimesis trieb keiner so weit wie Vivendi-Chef Jean-Marie Messier, der sich selbst zum „amerikanischsten der französischen Patrons“ ausrief. Doch nach kurzem Höhenflug traf auch ihn das Schicksal der „visionären“ Unternehmensführer, deren Methode er sklavisch nachäffte: Die Höllenfahrt seiner Unternehmensgruppe fiel mit dem Kollaps mehrerer Symbole der Wunderwirtschaft zusammen.

Die schwarze Serie begann am 2. Dezember 2001 mit dem krachenden Bankrott des Energiegiganten Enron. Das texanische Unternehmen hatte sich innerhalb weniger Jahre auf den siebten Platz der US-Rangliste hochgeboxt und erreichte zuletzt einen Umsatz von über 100 Milliarden Dollar. Die Management-Theoretiker sahen in dem Prunkstück der Neuen Ökonomie das Modell der Zukunft. Mit nur wenig Eigenkapital ausgestattet, gelang es diesem neuartigen Makler dank hochkomplexer Verschachtelungsmanöver und tollkühner Finanzierungskonzepte, überall und ständig „Wert zu schöpfen“. Keine Business School, die den Fall Enron in ihren Kursen über Unternehmensstrategie, -finanzierung und -ethik nicht über den grünen Klee gelobt hätte. Das Wirtschaftsmagazin Fortune kürte die Firma mit Sitz in Houston zwischen 1996 und 2001 Jahr für Jahr zum innovativsten Unternehmen, die Financial Times ernannte sie 2000 zur „Energiegruppe des Jahres“, und The Economist erhöhte Enron-Chef Kenneth Lay im selben Jahr sogar zum „Energie-Messias“.

Als „Bürgerunternehmen“ war Enron voll in das Establishment inkorporiert und verteilte großzügig Gelder, Vergünstigungen und Lorbeerkränze. Enron-Chef Lay war weit über 20 Jahre lang Finanzpate und Intimus von George W. Bush und ließ seinem Schützling mehr als 2 Millionen Dollar zukommen, teils aus seinem Privatvermögen, teils über Unternehmenskassen.3 Bush hatte Lay schon als Gouverneur von Texas zu seinem prominentesten Berater gemacht, und so nimmt es nicht wunder, dass der Enron-Chef die Energiepolitik der Bush-Administration maßgeblich mitbestimmen durfte. Heeresminister Thomas White, der zuvor bei Enron einen führenden Posten bekleidet hatte, versprach bei seiner Ernennung, „die Methoden des Privatsektors auch im öffentlichen Sektor anzuwenden“.

Noch knapp einen Monat vor dem Bankrott der Firma zeichnete das „James A. Baker Institute for Public Policy“ (benannt nach dem Außenminister unter Präsident George Bush senior) Zentralbankchef Alan Greenspan mit dem Enron-Preis aus. Doch die Firma, die alle Finessen des „Risikomanagements“ perfekt beherrschte, war ganz erhebliche Risiken eingegangen, die sie dank eines undurchschaubaren Systems ineinander verschachtelter Finanzbeteiligungen zu verbergen wusste. Der Zusammenbruch kam daher ebenso plötzlich wie unerwartet.4

Die Affäre erschütterte nachhaltig einen wichtigen Pfeiler der Neuen Ökonomie: das Win-Win-Credo, wonach alle Beteiligten gewinnen. In den Jahren 1998 bis 2001 hatte sich der Kurs der Enron-Aktien um das Dreifache erhöht. Das machte Management, Aktionäre und Beschäftigte immer reicher. Letztere legten ihre gesamte Altersvorsorge in Enron-Aktien an, was sie am Ende zu Verlierern machte. Während die Enron-Papiere innerhalb weniger Monate 98 Prozent ihres „Werts“ einbüßten, belohnte sich die Unternehmensführung allerdings mit großzügigen Abfindungen. Die Eingeweihten durften ihre Aktien zurückgeben, doch die Beschäftigten entdeckten in ihrer Betriebsvereinbarung eine Klausel, die ihnen diesen Ausweg verwehrte.

Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Arthur Andersen, die an Enrons zweifelhaften Finanzpraktiken ebenso beteiligt war wie an der Vernichtung kompromittierender Dokumente, wurde im Strudel ihres Großkunden in den Ruin gezogen. Es folgten die Affären Tyco, Global Crossing, Qwest, Adelphia Communications, Merck und Halliburton, dessen Chef zum Zeitpunkt der Bilanzfälschung niemand anderer war als der derzeitige US-Vizepräsident Richard Cheney. In allen diesen Fällen hatte das Management das Unternehmen unter aktiver Mithilfe der angeblichen Kontrollinstitutionen ausgeplündert. Und jedes Mal ging es um noch gewaltigere Summen. Hatte Enron „nur“ 2 Milliarden Dollar an Schulden weggebucht, so „vergaß“ WorldCom 3,85 Milliarden Dollar in die Bilanz einzustellen. Xerox blähte seine Verkaufszahlen um 6 Milliarden Dollar auf, und Merck steigerte den Umsatz um fiktive 12,4 Milliarden Dollar.

Die genannten Unternehmen weisen eine Reihe gemeinsamer Merkmale auf. Ihre Führer waren ständig in den Medien präsent, sie redeten ständig über Innovationen und „Corporate Governance“, über ethische Grundsätze und Verantwortlichkeit. Sie waren faktisch zu einer „aggressiven“ Kommunikationspolitik gezwungen, denn ihre „Wertschöpfung“ (von der ihr Honorar abhing) war einzig an den Börsenkursen abzulesen. Alles hing also vom „Kursmanagement“ ab, und so hegten und pflegten sie die Presse und die Analysten mit erlesener Aufmerksamkeit. Und die Aussage, dass die Journalisten bereitwillig mitspielten, ist dabei noch eine Untertreibung.

Eine weitere Gemeinsamkeit dieser kriminellen Unternehmen bestand darin, dass sie vielfach die Dienste renommierter Consulting-Firmen in Anspruch nahmen, allen voran McKinsey. Unter den verschiedensten Vorwänden zahlten sie den Management-Großgurus und den renommiertesten Ökonomen fette Entschädigungen, um ihre Flucht nach vorn als „innovative Strategie“ zu kostümieren – und sich selbst als Visionäre, obwohl sie doch nur größenwahnsinnig sind.

Kann man angesichts dieser Tatsachen noch von einigen schwarzen Schafen reden? Selbst die Meistersinger der untergegangenen Firmen sprechen heute von „allgemeiner Korruption“ und „Systemkrise“.5 Die Galionsfiguren ganzer Branchen (Internet und Telekommunikation) und Berufssparten (Analysten, Wirtschaftsprüfer, Unternehmensberater, Finanzblatt- und Fernsehjournalisten, Managementgurus) waren an diesem Mystifizierungs- und Verdunkelungsunternehmen beteiligt.

Wie konnte es dazu kommen? Im Zuge der beschleunigten Wirtschaftsliberalisierung der letzten zehn Jahre wurden zahlreiche Schutzvorkehrungen sukzessive abgebaut. Die finanzielle Ausstattung und die Befugnisse der Aufsichtsbehörden wurden eingeschränkt. An deren Stelle trat der Markt mit seiner vorgeblichen Selbstregulierungsfähigkeit mittels Eigenkontrolle und Verhaltenskodizes. Als die „chinesischen Mauern“ zwischen Unternehmensberatung und Wirtschaftsprüfung, zwischen Depositen- und Geschäftsbank im Namen des freien Wettbewerbs und angeblicher Synergieeffekte fielen, vollzog sich mit dem System ein grundlegender Wandel.

Berufe, die ihren Verhaltenskodex bis dahin eingehalten hatten, mutierten zu „Profitzentren“. Bei den Wirtschaftsprüfern, die einst über korrekte Buchführung wachten, gelangte die Fantasie an die Macht. „Aggressive Methoden“ an den Grenzen zur Legalität weichten die überkommenen Buchhaltungsprinzipien auf. Mit Hilfe von Analysten, die sich eher als Propagandisten betätigten, finanzierten die Banken Fusionen und Übernahmen, die zwar von vornherein zum Scheitern verurteilt waren, aber vorher noch fette Beute abwarfen. Und was die viel gefeierten Aktienoptionen anbelangt, so blähten sie die kurzfristigen Gewinne zusätzlich auf und erleichterten das Manipulieren der Bilanzen.6

Michel Bon, der derzeitige Chef von France Télécom, erklärte im Dezember 1999 gegenüber dem Wirtschaftsmagazin Capital: „Am 20. September 1997 ging France Télécom an die Börse. Vier Millionen Franzosen – und drei Viertel der Beschäftigten – zeichneten Aktien. Diese Tatsache ist mehr als ein Ereignis: Sie symbolisiert die allgemeine Erkenntnis, dass der Markt die Bedürfnisse des Kunden am besten befriedigt. Ich hoffe, dass sich diese Erkenntnis bald auch im Bereich nicht kommerzieller Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit durchsetzt.“ Die rauschhafte Begeisterung des Herrn Bon ist inzwischen verflogen. Und seine Hoffnungen wohl auch.

dt. Bodo Schulze

* Forscher an der Harvard-Universität Boston (USA), Autor von „Islamic finance in the global economy“, Edinburgh University Press 2000.

Fußnoten: 1 Dazu Thomas Friedman, „The Lexus and the Olive Tree“, New York (Farrar, Straus & Giroux) 1999. 2 A. Minc in: Richard Farnetti/Ibrahim Warde, „Le modèle anglo-saxon en question“, Paris (Economica) 1997. 3 Charles Lewis, „The Buying of the President 2000“, New York (Avon Books) 2000. 4 Tom Frank, „Enron: Elvis singt hier nicht mehr“, Le Monde diplomatique, Februar 2002. 5 „How Corrupt is Wall Street?“, Business Week, 12. Mai 2002; „System Failure“, Fortune, 24. Juni 2002. 6 Ibrahim Warde, „Börsenkrach 1929: Die nächste Bruchlandung kommt bestimmt“, Le Monde diplomatique, Oktober 1999.

Le Monde diplomatique vom 09.08.2002, von IBRAHIM WARDE