13.09.2002

Kein Papier für Pässe

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Kein Papier für Pässe

DIE argentinische Regierung musste es zugeben: Sie wird das Urteil des Obersten Gerichts vom 23. August nicht umsetzen können, dem zufolge die seit über einem Jahr praktizierte Kürzung aller Gehälter und Pensionen um 13 Prozent nicht rechtmäßig ist. Pleite ist nicht nur die Regierung, sondern auch ungefähr jeder zweite Bürger. Gegenstände des täglichen Gebrauchs sind zum unerschwinglichen Luxus geworden, viele essen sich nicht mehr satt. Die Politik des IWF jedoch, die solch brillante Resultate hervorgebracht hat, soll trotzdem überall in Lateinamerika angewandt werden.

Von CLARA AUGÉ 

Auf dem berühmten Plaza de Mayo im Herzen der Stadt kann man die Zelte sehen, in deren Schutz die piqueteros, die Arbeitslosendemonstranten, gerade eine kalte argentinische Winternacht verbracht haben. In einem Viertel am Stadtrand von Buenos Aires stehen die Zelte der Anhänger von Sankt Cayetano, dem Schutzpatron der Arbeit, den die Ärmsten der Armen an seinem Feiertag um „Brot für den Hunger, Arbeit für die Würde“ anflehen. Nach Einbruch der Dunkelheit ziehen Männer und Frauen, oft in Begleitung von Kindern, durch die Straßen und durchwühlen mit bloßen Händen die Mülltonnen auf der Suche nach etwas, was sich vielleicht verkaufen ließe. Meist schieben sie provisorisch zusammengebastelte Karren vor sich her, die sie mit Papier und Pappe füllen, die sie für 42 Centavos (rund 0,12 Cent) pro Kilo verkaufen können. Auch sonst sammeln sie alles, was irgendeinen Abnehmer finden könnte, Plastik, Metall, Glas und anderes mehr.

Die meisten von ihnen haben ihre Arbeit verloren und versuchen in einem Land zu überleben, das seit Dezember 2001 ein soziales Desaster unerhörten Ausmaßes erlebt – seit die Finanzkrise zu verminderten Sozialausgaben, zu Kaufkraftverlust und zum corralito (zur teilweisen Sperrung der Bankkonten) geführt hat. Zwischen Juni 2001 und Juni 2002 ist das Bruttoinlandsprodukt um 13,5 Prozent geschrumpft (in den letzten sechs Monaten erreichte der Rückgang die Rekordmarke von 16,3 Prozent), was sich verheerend auf die Arbeitsmarkt- und Einkommenssituation ausgewirkt und eine atemberaubende Zunahme der Armut ausgelöst hat. Für 2002 prognostiziert die Wirtschaftskommission für Lateinamerika (Cepal) einen Rückgang der Beschäftigung von etwa 13,5 Prozent.1 Im Juni 2002 lebten 19 von 35 Millionen Argentiniern unterhalb der Armutsgrenze (weniger als 194,40 Euro im Monat), davon wiederum 8,4 Millionen in extremer Armut (mit weniger als 85,32 Euro im Monat).

In den Schulen fallen Kinder vor Hunger in Ohnmacht. Andererseits wird kaum noch die Schule geschwänzt, weil viele Grundschulkinder hier ihre einzige Mahlzeit des Tages bekommen.2 Es kommt sogar vor, dass Mütter mit Tellern in der Hand die Schulspeisung für ihre kranken Kinder abholen kommen. Im ersten Trimester des Jahres galt das besonders für die arme Provinz Tucumán, doch mittlerweile sieht man solche Szenen im ganzen Lande und auch in der Provinz Buenos Aires, wo hundert Schulen erstmals ihre Kantinen über die Winterferien 2002 geöffnet hielten. Unterernährte Kinder gibt es seit zwei Jahren, doch in den letzten Monaten hat sich das Problem noch zugespitzt und inzwischen auch auf die höheren Schulen übergegriffen.

Es ist erschütternd zu sehen, wie brutal sich in diesem Land der Niedergang noch weiter beschleunigt hat, nachdem die seit vier Jahren herrschende Rezession zunächst noch einige Bereiche verschont hatte. Seit dem plötzlichen Aufbegehren des Volkes, das im Dezember 2001 den Sturz von Präsident Fernando de la Rúa herbeiführte, kann man in unzähligen alltäglichen Situationen die schmerzliche und mühsame Trauerarbeit eines Landes beobachten, das einmal zu den mächtigen Ländern der Welt gehörte.3

Die Spuren des Niedergangs sind so unübersehbar wie die Schlangen der Emigrationskandidaten vor den Konsulaten Spaniens und Italiens. Man braucht viel Geduld und Entschlossenheit, um die langen Wartezeiten durchzustehen. Im Übrigen werden seit Ende Juli keine Reisepässe mehr ausgestellt, da der Staat das zur Herstellung nötige Papier schlicht nicht mehr bezahlen kann.

Wer sein Geld mit dem Verkauf von Altmetall macht, was einträglicher ist als der Handel mit Altpapier, greift bisweilen zu ganz neuartigen Methoden: Man stiehlt die Kupferkabel der Telefonleitungen oder die Aluminiumschutzkappen auf den elektronischen Schaltkreisen der Verkehrsampeln. Das Denkmal zu Ehren von Christoph Kolumbus, nur hundert Meter vom Präsidentenpalast gelegen, war eines der ersten, dem seine Bronzetafel abhanden kam. Seither sind noch weit mehr Spuren der Vergangenheit aus Buenos Aires verschwunden, und die Statuen und Denkmäler wirken eigenartig stumm. Die Stadtverwaltung will die Bronzetafeln durch solche aus Keramik ersetzen: Selbst der Geschichte der Stadt und ihrer Vergangenheit setzt die Krise zu.

In den Büros, wo Tintenpatronen für Drucker seit Beginn der Krise zu Luxusartikeln geworden sind, füllt man die alten Kartuschen nach, auch wenn das auf Kosten der Qualität geht. In den Fußgängerzonen der Innenstadt werden auf improvisierten Verkaufstischen (die bei einer nahenden Kontrolle blitzschnell wieder abgebaut werden) Schuhe, Feuerzeuge oder Buntstifte angeboten. Anderswo müssen Geschäfte schließen; durch die Cafés und Restaurants ziehen verarmte Menschen und bitten um etwas Essbares oder ein paar Münzen – aber einige Läden halten bereits ihre Türen verschlossen und öffnen erst nach einer Gesichtskontrolle, damit keine Bettler reinkommen. Vor den Supermärkten in den besseren Vierteln sitzen Frauen und flehen die Kunden an, ihnen Reis oder Matetee zu kaufen.

Tauschbörsen statt Bargeld

DIE ständige Sorge, die Unsicherheit, die Armut und die (nach den offiziellen Zahlen der Provinzregierung Buenos Aires) um 142 Prozent gestiegene Jugendkriminalität erzeugen ein Klima der Angst in einer Stadt, die noch bis vor kurzem voller Stolz auf ständig volle Restaurants, Cafés, Kinos und Theater und auf ihr blühendes Nachtleben verweisen konnte. Die Angst hat die Gewohnheiten verändert, und diese Angst, die man in einigen Großstädten der Nachbarländer seit längerem kannte, ist neu für Buenos Aires, das vormals die sicherste Metropole Lateinamerikas war.

Firmen, die sich auf Sicherheitssysteme, Gebäudeschutz, Fahrzeugverpanzerung oder Selbstverteidigungskurse spezialisiert haben, schreiben deutlich erhöhte Umsatzzahlen. „Wir verkaufen Wasser in der Wüste“, freute sich kürzlich der Vorstandssprecher einer Firma, die Alarmanlagen an Privatpersonen verkauft. Die Reichen trennen sich von ihren Luxuskarossen, um keine weithin sichtbare Zielscheibe für die Ganoven zu geben, die sich neuerdings auf „Blitzentführungen“ spezialisiert haben. Sie greifen sich ihre Opfer in den wohlhabenden, aber auch in den armen Wohnvierteln und lassen sie gegen Zahlung von 250 bis 5 000 Euro wieder frei. In Quilmes, rund dreißig Kilometer außerhalb von Buenos Aires, leben unterdessen Kinder, die den Geschmack von gegrillter Kröte und von gegrillter Ratte unterscheiden können.

Die Sperrung der Bankguthaben und der landesweite Anstieg der Arbeitslosigkeit treibt auch Leute, die es nicht ganz so schlimm getroffen hat, zu den vielen neuen „Tauschbörsen“, wo bargeldlos Produkte und Dienstleistungen gehandelt werden. Der bereits abgewertete Peso wurde in manchen Provinzen durch lokale Zahlungsmittel ersetzt. Diese Bons tragen Namen, die manchmal zum Lachen reizen. So heißt das fragile Zahlungsmittel der Provinz Chaco wie eine der härtesten Holzarten der Welt: das Quebracho (von quebrar la hacha, etwa „Axtbrecher“).4

Nachdem sie von ihrer Regierung (richtiger: ihren Regierungen), den Banken und dem Internationalen Währungsfonds in den Ruin getrieben wurden, veranstalten die Argentinier, allen voran die Bewohner der Hauptstadt und der Provinz Buenos Aires, mehr Protestmärsche, Straßenblockaden und Demonstrationen als je zuvor. Die Reaktion auf diese massiven sozialen Proteste ist offene Repression. Als nach einem Aufruf der piqueteros am 26. Juni eine Massendemonstration von Arbeitslosen, die seit Monaten nicht mehr den Magen voll bekommen haben, den Süden der Hauptstadt abriegelte, nahm die Polizei 160 Personen fest. Auf dem Schlachtfeld blieben zwei Tote und neunzig Verletzte zurück; damit erhöhte sich sich die Zahl der seit dem 19. Dezember getöteten Argentinier auf 35.

Vor nicht einmal zehn Jahren schien Buenos Aires eine glorreiche Zukunft zu haben. Heute hat sich der Horizont rundum verdunkelt, und doch kann man am Himmel über Buenos Aires hier und da ein paar hellere Stellen ausmachen. Die Hauptstadt war immer ein lebendiger kultureller Brennpunkt mit einem reichhaltigen Veranstaltungsangebot. Erstaunlicherweise ist dieses kulturelle Leben durch den Verfall der Kaufkraft, die Peso-Abwertung, die Verzweiflung und die unglaubliche Verunsicherung im ganzen Land durchaus nicht zum Erliegen gekommen. Im Gegenteil.

Zwar können ausländische Künstler nicht mehr mit Dollargagen rechnen und die Spielpläne setzen mehr auf einheimische Kompanien. Die aus Spanien oder Mexiko importierten Bücher sind unerschwinglich geworden, und die gestiegenen Papierpreise schränken die Pläne der lokalen Verlagshäuser empfindlich ein. Innerhalb der letzten 20 Monate haben im ganzen Land 300 Buchhandlungen geschlossen, und häufig sieht man, wie Menschen die Bücher, die sie sich noch im vergangenen Jahr hätten kaufen können, in den Bibliotheken lesen. Doch im Rahmen der durch die Pesoabwertung (300 Prozent gegenüber dem Dollar in sechs Monaten) erzwungenen Einschränkungen haben sich die kulturellen Kräfte eine bemerkenswerte Vitalität bewahrt. Das argentinische Kino befindet sich paradoxerweise geradezu auf einem historischen Höhenflug. Das Bühnenangebot hat qualitativ nicht nachgelassen. Und auf der Avenida Corrientes hat sogar ein Theater neu eröffnet, das eine Besonderheit aufweist: Es erhebt keine festen Eintrittspreise, sondern jeder Besucher gibt so viel, wie er möchte. Mehr und mehr Theater stellen auf einen solchen freiwilligen Beitrag um, und die Besucherzahlen steigen.

Einige Stücke sprechen die Krise unmittelbar an. So liest im wunderbaren Teatro Argentino de La Plata ein Schauspieler Texte von Federico García Lorca, und in den Worten „Was soll ich tun in dieser neuen Stunde, die naht und die mir unbekannt“ erkennt sich eine ganze Stadt wieder. Der Eindruck ist hier weit verbreitet, dass Intellektuelle und Künstler den Widerstand gegen das heillose Gefühl von Verlust und Ohnmacht hochhalten.

Bei vielen Veranstaltungen besteht der Obolus des Publikums aus Lebensmitteln, Spielzeug und sogar Medikamenten. Sie werden unverzüglich an die neu entstandenen Hilfsorganisationen für die Ärmsten der Armen weitergereicht, von denen immer neue entstehen. Denn parallel zum Phänomen eines durch die Krise erneuerten kulturellen Lebens schießen unzählige Vereine aus dem Boden, Verbände von Arbeitslosen und piqueteros, Volksküchen und andere Einrichtungen, die alle nach Wegen suchen, das Schlimmste abzuwenden.

Hinzu kommen zahlreiche neue Solidaritätsbewegungen, die auf die Situation eines Landes reagieren, das sich allmählich „in die hässliche Fratze seines Traumbildes“ verwandelt – wie es in einem Tango von Discépolo heißt. Auf Initiative von Nichtregierungsorganisationen, verschiedenen Verbänden und Institutionen (bis hin zu Fußballvereinen), kommen immer wieder neue Solidaritätsaktionen zustande. Sogar die U-Bahn von Buenos Aires ist mit einer Aktion dabei: Für eine Nahrungsmittelspende, die an Kinderheime und Volksküchen geht, gibt sie zwei Fahrscheine ab.

Die erstaunliche Lebensenergie äußert sich auch in einem Humor, der sich auf vielerlei Weise ausdrückt. Wie in der bitteren und ernüchternden Anekdote, in der ein Vater seinen Sohn fragt, was er einmal werden will, wenn er groß ist, und zur Antwort bekommt: „Ausländer.“

Die gegenwärtige Situation, ihre Ungerechtigkeit und ihre Ausweglosigkeit spießen die Satiriker mit einer Ironie und Scharfzüngigkeit auf, die der Tragödie des argentinischen Alltags eine gewisse Kraft zum Protest abgewinnt. Etwa wenn der Philosoph Alejandro Rozitchner in einer Tageszeitung schreibt: „Es stimmt nicht, dass wir nichts produzieren. Wir produzieren Krisen und Katastrophen.“ Solche aus der Not geborenen geflügelten Worte sind soeben im „Wörterbuch der Krise“ gesammelt und publiziert worden.5 Auf dem Plaza de la Libertad, im Geschäftszentrum von Buenos Aires, rennt ein etwa zehnjähriges Kind hinter einer Taube her. Das ist kein Spiel mehr. Seine Geschwister eilen zur Hilfe, sie alle haben Hunger.

In einem Tango, der über fünfzig Jahre alt ist, schrieb Homero Expósito: „Mit zerbrochnen Träumen / treiben wir, wie alle andern auch, / den verrinnenden Fluss des Lebens hinunter.“ Die Bürgersteige von Buenos Aires, der Hauptstadt der Nostalgie, sind heute mehr denn je mit zerbrochenen Träumen übersät.

dt. Christian Hansen

* Journalistin, Buenos Aires.

Fußnoten: 1 „Situación y perspectivas. Estudio económico de América y el Caribe, 2001–2002“, 1. August 2002, Santiago, Chile. 2 Nach Angaben des staatlichen Systems für Information, Monitoring und Evaluation der Sozialprogramme (Siempro, http://www.siempro.gov.ar/default2.htm) leben 70 Prozent der unter Achtzehnjährigen in Haushalten am Rande oder unter der Armutsgrenze. Vgl. BBC World, London, 7. August 2002. 3 Luis Bilbao, „Der letzte Tango in Buenos Aires“, und Carlos Gabetta, „Ökonomischer GAU in Argentinien“, in: Le Monde diplomatique, Juli 2001 bzw. Januar 2002. 4 Präsident Eduardo Duhalde versprach dem US-amerikanischen Finanzminister Paul O‘Neill bei dessen Besuch in Argentinien am 7. August dieses Jahres, die fünfzehn von den Provinzen ausgegebenen und den Peso ersetzenden Zahlungsmittel wieder abzuschaffen. 5 José Gobello und Marcel Héctor Oliveri, „Diccionario de la crisis“, Buenos Aires (Corregidor) 2002.

Le Monde diplomatique vom 13.09.2002, von CLARA AUGÉ