Billigreis und teures Saatgut
MIT Beginn des nächsten Jahres wird China Mitglied der Welthandelsorganisation sein. Für neunhundert Millionen chinesische Bauern bedeutet dies einschneidende Veränderungen. Was geschieht, wenn das schematische Regelwerk der WTO auf die althergebrachten ländlichen Strukturen trifft, sieht man am Beispiel Indien. Für die dortigen Kleinbauern ist die Produktion auf dem Preisniveau des Weltmarkts schlichtweg nicht möglich. Aber dasselbe gilt auch für die hoch subventionierte Landwirtschaft der EU. Indien ist in ein System geraten, wo mit zweierlei Maß gemessen wird.
Von ROLAND-PIERRE PARINGAUX *
„Es ist hier einfach zu hart als Bauer. Ich habe alles versucht, aber ich komme auf keinen grünen Zweig.“ Seit einigen Jahren schon geht für Gangappa „nichts mehr“. Der 33-Jährige bewirtschaftet in Kalmala, einem kleinen Dorf rund 20 Kilometer von Raidschur entfernt im südindischen Bundesstaat Karnataka gelegen, eine kleine Parzelle mit Reis und Chili. Drei Hektar Land, um eine Frau und vier Kinder zu ernähren.
Wie so viele andere Kleinbauern baute Gangappa in der glühenden Hitze des Dekkan-Hochplateaus lange Zeit Baumwolle an. Die Arbeit machte sich bezahlt. Mit Investitionen von 35 000 Rupien (745 Dollar) erwirtschaftete er 1996 noch 130 000 Rupien (2 600 Dollar). Damals war alles billiger. Saatgut, Pestizide, Wasser, Strom, Kraftstoff und sogar der günstige Kredit waren staatlich subventioniert. Die Gestehungskosten für ein Kilogramm Baumwolle lagen bei 7 Rupien, der Marktpreis betrug 26 Rupien. Seither hat sich das Verhältnis umgekehrt: Die Produktionskosten stiegen auf 25 Rupien, der Marktpreis sank auf 17 Rupien. Missmanagement, schärferer Wettbewerb und die unzureichende Qualität der örtlichen Baumwolle trieben die Spinnerei von Raidschur in den Bankrott. Im Jahr 1998 wurde der Versuch unternommen, in der Region eine genetisch veränderte Baumwollsorte zu pflanzen.1 DerWiderstand dagegen war vehement.
Angesichts dieser misslichen Situation verlegten sich viele Landwirte auf den Anbau von Reis und Chili. Doch während die Gestehungskosten für den Doppelzentner Paddy im Jahr 2001 bei 400 Rupien lagen, wurden auf dem Markt nur 350 Rupien geboten, weniger als die Hälfte des Vorjahrespreises. Manche Bauern lagern den Reis ein und hoffen auf bessere Tage, steigende Preise oder staatliche Interventionen; andere verkaufen unter dem Druck der Geldverleiher mit Verlust. Gangappa war gezwungen, seine Ernte für 10 Prozent unter Marktpreis einem Wucherer zu überlassen. Auch der Chilipreis fiel 2001 in den Keller. So erwirtschaftete Gangappa bei Kosten von 90 000 Rupien (1 915 Dollar) einen Umsatz von nur 80 000 Rupien (1 700 Dollar). Der Verlust von 10 000 Rupien (200 Dollar) machte ihn noch stärker von dem Wucherer abhängig.
Gangappas Nachbar Yellapa baute Ölfrüchte, Sonnenblumen und Erdnüsse an. Auch für ihn war es „früher besser“. Sinkende Subventionen, Konkurrenz durch Billigimporte und höhere Produktionskosten zwangen ihn zur Produktumstellung. Innerhalb weniger Jahre, berichtet Yellapa, habe sich der Kilogrammpreis für bestimmte Saatgutsorten eines indisch-amerikanischen Konzerns von 25 Rupien auf 200 Rupien fast verzehnfacht: „Außer für Reis muss man jedes Jahr neues Saatgut kaufen, weil die zweite Generation kaum noch trägt.“ Voriges Jahr habe er sich stark verschuldet, um auf Reis und Chili umzusteigen. Nicht anders sieht die Situation in den nahe gelegenen Dörfern aus, die entlang eines Bewässerungskanals liegen. Ein Großbauer, der auf seinem Reis sitzen blieb, gibt den „Billigreisimporten“ die Schuld. Ein anderer lässt sein Feld brach liegen, um „sich nicht noch mehr zu verschlechtern“. Er verdinge sich nun als Tagelöhner, aber „das reicht nicht zum Leben“.
Das Gespräch kommt auf einen gewissen Satiah, der nicht mehr die Kraft fand weiterzumachen. Aufgerieben zwischen den Gesetzen des Markts und des Wuchers, schied er aus dem Leben, indem er Pestizide schluckte. Manchmal bekommen die Hinterbliebenen in solchen Fällen staatliche Unterstützung. Das Geld wandert sogleich in die Tasche des Wucherers. Kann die Familie nicht zahlen, lässt der Geldverleiher das Land pfänden, und die Familie findet sich in einem Slum wieder.
Das einige tausend Kilometer weiter nördlich gelegene Rajasthan, das Land der Maharadschas, der Paläste und der Wüste, wurde zum „Opfer“ einer guten Ernte (siehe Kasten). Auch hier klagen die Bauernverbände und die Oppositionsbewegungen die Welthandelsorganisation (WTO) und deren liberales Credo an. Für sie gibt es keinen Zweifel, dass die Krise der Landwirtschaft in erster Linie eine Folge des WTO-Abkommens ist, das Indien nötigt, seinen Binnenmarkt für den internationalen Handel zu öffnen. Leid Tragende sind die 700 Millionen Inder, die mehr schlecht als recht auf dem Land leben.
In den vergangenen Jahren veranstalteten die Gegner der liberalen Wirtschaftspolitik der Regierung Vajpayee wiederholt Demonstrationen gegen die Welthandelsorganisation, die Weltbank und die westlichen Konzerne. Ihnen allen wird vorgeworfen, aus Gründen der Produktivität eine Industrialisierung der Landwirtschaft voranzutreiben, die den realen indischen Gegebenheiten völlig unangemessen sei. Orientiert an den Interessen der reichen Länder und der Agromultis ruiniere diese Politik die Subsistenzwirtschaft, die Zigmillionen Kleinbauern und Landarbeitern bisher ein Auskommen gesichert hat – mit allen denkbaren dramatischen Folgen für ein Land mit einer Milliarde Einwohnern.
Die Welthandelsorganisation, das emblematische Schreckensbild dieser Politik, ist indessen für die Schwierigkeiten in der Landwirtschaft nicht allein verantwortlich. Ein im Januar 2001 veröffentlicher offizieller Bericht über die Umsetzung des WTO-Abkommens im Bundesstaat Karnataka verwies unter anderem auf die Mängel im Bereich Infrastruktur, Bildung, Technologie, Qualität, Wettbewerbsfähigkeit und Information.2 Eine bedrückende, aber keineswegs außergewöhnliche Bilanz. Die WTO-Rezeptur jedoch, mit der gewisse Kreise die Führung in Neu-Delhi zu überzeugen versuchten, dass sie den Markt sperrangelweit öffnen müsse, stellt schwerlich ein Allheilmittel dar.
1994 trat Indien der Uruguay-Runde bei, aus der die Welthandelsorganisation entstand. Das Abkommen sah erstmals vor, den Agrarhandel durch Senkung der tarifären und nichttarifären Handelshemmnisse zu liberalisieren. Im Einzelnen stehen auf der Agenda die Öffnung des Binnenmarkts für Importe, der Abbau von Agrarbeihilfen und die Abschaffung von Exportsubventionen. Für die Umsetzung dieser Punkte hat Indien wie alle Entwicklungsländer einige Jahre Zeit, aber die Marschrichtung ist vorgezeichnet.
Vom Prinzip her sollen die Marktgesetze mit ihren „gerechten Preisen“ die indische Landwirtschaft international wettbewerbsfähiger machen und gleichzeitig den Umfang der allgegenwärtigen Staatseingriffe reduzieren. Dies gilt als das beste Mittel, um mehr Dynamik in den Agrarsektor zu bringen. Das habe zweifellos Erfolge gebracht, meinen die Befürworter der Liberalisierung. Die indische Landwirtschaft habe es innerhalb weniger Jahrzehnte geschafft, das Land von Lebensmittelimporten unabhängig zu machen und sogar Überschüsse für den Export zu erwirtschaften. Doch bleibe ungeachtet dieses bemerkenswerten Erfolgs zu bemängeln, dass der Agrarsektor noch immer hauptsächlich für den Binnenbedarf produziere und überprotegiert und unterkapitalisiert, also kaum wettbewerbsfähig sei.
Mit ihren Kleinstparzellen von durchschnittlich einem Hektar, mit ihren hohen Produktionskosten und geringen Erträgen ist die indische Landwirtschaft in puncto Produktivität weit hinter der Industrie und dem Dienstleistungssektor zurückgeblieben, die mit dem IT-Boom der letzten Jahre und den wachsenden Konsumbedürfnissen der städtischen Mittelschicht kräftig zugelegt haben.
Glaubt man den Befürwortern der Marktöffnung, dann kann die indische Landwirtschaft aufgrund ihrer vorteilhaften komparativen Kosten von dem WTO-Abkommen nur profitieren. Doch der Absturz der Weltmarktpreise hat den ganzen Agrarsektor in die Krise gerissen, die sich durch die WTO-induzierten Maßnahmen häufig noch verschlimmert hat. Die Neunzigerjahre brachten eine deutliche Verlangsamung des Wachstums. Beim Ausbau der Infrastruktur und des Kreditwesens geriet die Landwirtschaft immer weiter ins Hintertreffen. Der Abstand zum städtischen Einkommensniveau wurde größer, und auch der Prozentsatz der in absoluter Armut lebenden Menschen, der in den Siebzigerjahren von 55 Prozent auf 35 Prozent gesunken war, nahm wieder zu. Eine Informationsbroschüre des Landwirtschaftsministeriums fasste die Lage im Juli 2000 so zusammen: „In den Neunzigerjahren ging das Agrarwachstum tendenziell zurück. Die Landwirtschaft entwickelte sich wegen der allgemein ungünstigen Preise und der geringen Wertschöpfung zu einem vergleichweise wenig rentablen Sektor. Viele Landwirte gaben ihre Tätigkeit auf und wanderten aus den ländlichen Gebieten ab. Durch die Integration des Agrarhandels in den Weltmarkt wird sich die Situation wohl weiter zuspitzen, wenn nicht umgehend korrigierend eingegriffen wird.“3 Der stellvertretende Agrarminister Jain spricht für das Jahr 2001 von „einer Erosion des landwirtschaftlichen Einkommens um 15 Prozent“. Viele indische Bauern verdienen umgerechnet nur knapp einen Euro am Tag, und die meisten sind verschuldet.
Seit Unterzeichnung des Abkommens von 1994 haben die Bauern vor allem dessen negative Seite zu spüren bekommen – auch wenn es zwischen den einzelnen Bundesstaaten durchaus Unterschiede gibt und hier und da eine success story berichtet wurde. In den Jahren 1999–2001 wurden die Einfuhrbeschränkungen für über 2 700 Erzeugnisse abgeschafft. Die letzte Liste trat im April 2001 in Kraft, zwei Jahre vor Auslaufen der Frist. Nach Ansicht mancher Beobachter wollte die indische Regierung mit diesem übereilten Schritt guten Willen beweisen, um die Vereinigten Staaten zur Aufhebung des Technologieembargos zu bewegen, das nach den indischen Atomwaffentests im Mai 1998 verhängt worden war.
Der Markt für pflanzliche Öle wird ruiniert
ALL dies sorgt in einem Sektor, der auf den internationalen Wettbewerb schlecht vorbereitet ist, für Unruhe. Und der erste große Test in Sachen Agrarimporte – die Liberalisierung der Einfuhr von pflanzlichen Ölen – ist nicht dazu angetan, die Zukunftsangst zu dämpfen. Bereits kurz nach Indiens WTO-Beitritt senkte die Regierung die Zollsätze auf diese Produktgruppe, die von der Industrie wie von den Privathaushalten stark nachgefragt wird. Dieser Markt war damals so gut wie autark, und die Weltmarktpreise standen hoch. Doch als die Preise zu purzeln begannen, sahen sich die örtlichen Erzeuger doppelt benachteiligt. Sie produzierten zu teuer für den Export, und auch ihr Anteil am Binnenmarkt sank. Innerhalb weniger Jahre eroberten billige, aus Malaysia, Indonesien, den USA und Brasilien importierte Öle einen Marktanteil von rund 40 Prozent. Eine Hand voll Händler verdiente sich daran eine goldene Nase, doch Millionen von Landwirten und viele örtliche Verarbeitungsbetriebe hatten das Nachsehen. Allein in Karnataka mussten in den letzten Jahren 100 von 115 Ölmühlen schließen.4
Die Regierung versucht die Situation zu verharmlosen. Abgesehen von den Pflanzenölen, so Vizeminister Jain, habe es „in den vergangenen Jahren weder massive Agrarimporte noch negative Auswirkungen der Einfuhren auf die Landwirtschaft gegeben“. Zudem räume das WTO-Abkommen der Regierung bei rund 800 Erzeugnissen die Möglichkeit ein, die Zölle und Einfuhrbeschränkungen nötigenfalls wieder einzuführen. Allerdings nahm die Regierung, wie der Gewerkschaftsführer Nagara aus Bangalore bestätigt, diese Möglichkeit im Fall der Pflanzenöle kaum in Anspruch. Nicht nur Nagara befürchtet, dass sich durch diese passive Haltung bei Zucker und Milcherzeugnissen dasselbe Szenario wiederholen könnte. Auch hier ist Indien Selbstversorger, auch hier ist der Druck von außen beträchtlich. Überdies untergräbt die Marktliberalisierung das System der staatlichen Subventionen, Preisgarantien und Lebensmittelhilfen, das einem wesentlichen Teil der Bevölkerung lange zugute kam, nun aber als zu komplex und kostspielig gilt. Geplant ist daher eine Reduzierung der öffentlichen Produktions-, Vermarktungs- und Einkommenszuschüsse. Das „Öffentliche Vertriebssystem“ (PDS), ein landesweites Netz staatlichen Verkaufsstellen, die Zigmillionen Inder mit billigen Lebensmitteln versorgen, steht ebenfalls auf der Abschussliste.
Die Regierung hat beschlossen, den PDS-Verkaufspreis für Getreide heraufzusetzen, um das Vertriebssystem rentabel zu machen. Viele Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze („Below Poverty Line“, abgekürzt BPL) leben, haben nicht mehr genug Geld, um die PDS-Produkte zu kaufen, andere finden auf dem Markt Billigeres. In beiden Fällen verlor das Vertriebssystem Kundschaft, sodass einige Verkaufsstellen bereits geschlossen werden mussten. Die Subventionen werden weiter abgebaut; gleichzeitig leben Millionen Menschen unter drastisch verschlechterten Bedingungen.
Zum ersten Mal seit langer Zeit geht der Verbrauch an Lebensmitteln zurück, während die Getreidelager überquellen. „Da stellt sich die Frage, ob das Leben von Millionen Menschen überhaupt eine Rolle spielt oder unter dem Aspekt der Produktivitätssteigerung als vernachlässigbare Größe gilt.“ Professor Kamal M. Chenoy von der Nehru-Universität in Neu-Delhi kritisiert die „Politik einer Minderheit von Städtern“, die die Lebensumstände auf dem Land nicht kennen oder ihnen gleichgültig gegenüberstehen.
Nach wie vor verfügt die Regierung über ein breit gefächertes Arsenal an Interventionsmöglichkeiten. Doch Staatseingriffe verstoßen nicht nur gegen den Geist des WTO-Abkommens, ihre Umsetzung ist auch häufig mit hohen Kosten und Verwaltungsproblemen verbunden. So wurde für rund zwanzig Agrarerzeugnisse ein „Mindeststützungspreis“ festgelegt. Der liegt jedoch oft unter dem Marktpreis, und die Regierung verfügt nicht über die Mittel, um sämtliche nicht absetzbaren Ernteerträge aufzukaufen. „Die indischen Bauern wurden durch den Fall der Weltmarktpreise stärker denn je in Mitleidenschaft gezogen, und dies, obwohl die Regierung die garantierten Mindestpreise bei 23 Agrarerzeugnissen aufrechterhielt. Das Preisstützungssystem, das vor der Marktöffnung in einem geschlossenen Kreislauf funktionierte, wurde durch das internationale Preisniveau schwer angeschlagen.“
Der ehemalige Vorsitzende der Agrarpreiskommission, der Ökonom Prof. Abhijit Sen, weist darauf hin, dass die staatlichen Stützungsmaßnahmen „das von der WTO Erlaubte bei weitem nicht ausschöpfen“. Und Vizeagrarminister Jain ergänzt: „Indien ist nicht in der Lage, mehr als 1 Prozent seines Bruttosozialprodukts für Stützungsmaßnahmen aufzuwenden, während das WTO-Abkommen bis zu 10 Prozent gestattet.“ Damit spricht Jain den dritten Punkt des WTO-Abkommens an, die Abschaffung der Exportsubventionen, die ebenfalls auf Kritik stößt.
Während die WTO gegenüber Indien auf den Abbau von Beihilfen, Subventionen und Zöllen drängt, müssen die Inder mit Erbitterung feststellen, dass die Industrieländer ihre Landwirtschaftsbeihilfen ständig erhöhen und den Zugang zu ihren Märkten vielfach erschweren. Die Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sprechen für sich: Insgesamt 283 Milliarden Dollar pumpten die OECD-Mitgliedstaaten 1999 in die Landwirtschaft – die EU 114 Milliarden, die USA 54 Milliarden und Japan 58 Milliarden –, in Indien waren es nur 7 Milliarden Dollar. Gemessen am landwirtschaftlichen Produktionswert beliefen sich die Beihilfen auf 65 Prozent in Japan, 49 Prozent in der Union, 24 Prozent in den Vereinigten Staaten, aber nur 6,5 Prozent in Indien. Und was die Zollsätze anbelangt, verweist man in Indien gern auf Japan, das auf Reisimporte einen Zoll von 2 000 Prozent erhebt.
So ist weithin der Eindruck entstanden, Indien sei einem System beigetreten, das mit zweierlei Maß misst und die Ungleichgewichte im internationalen Handel eher verstärkt als korrigiert: Die armen Länder sollen ihre mitunter lebenswichtigen Subventionen abbauen, die reichen Länder stocken ihre Beihilfen auf, erobern via Liberalisierung weitere Marktanteile und zerstören mit dem Segen der WTO mitunter sogar die örtlichen Handelsnetze.
Dies alles wird als tief greifende Ungerechtigkeit wahrgenommen, als Messen mit zweierlei Maß, als nackter Betrug. „Nicht nur, dass der Westen die Spielregeln aufstellt, er spielt auch noch falsch“, empört sich ein hoher Beamter. Und Jain meint diplomatisch: „Die WTO weist noch ernsthafte Mängel auf, die sich zugunsten der entwickelten Länder auswirken.“ Für den gewieften Verhandlungsführer gibt es keinen Zweifel, dass „die indische Landwirtschaft wettbewerbsfähig wäre, wenn die Agrarsubventionen in der ganzen Welt abgeschafft würden“.
Immer wieder wird daher die Forderung laut, das WTO-Abkommen zu kündigen oder zumindest eine Überarbeitung der WTO-Regeln zu verlangen. Die Bilanz sei insgesamt negativ, die Folgen für die Ernährungssicherheit verheerend. Exministerpräsident Haradanahalli Dodde Gowda hält das Abkommen angesichts der Verhältnisse in der indischen Landwirtschaft, namentlich der hohen Zahl von Kleinstbauern, für „nicht praktikabel“. Der Ministerpräsident von Karnataka, Krishna, fordert Neuverhandlungen und bessere Absprachen mit der Zentralregierung.
Neu-Delhi würde durchaus gern nachverhandeln, denn die WTO-Auflagen und die Verpflichtung zur Unterstützung der ländlichen Regionen sind nur schwer vereinbar. „Wir sagen vor der WTO immer wieder, dass man die exportorientierte Landwirtschaft der entwickelten Länder nicht auf dieselbe Stufe stellen kann wie die Landwirtschaft Indiens. Wir brauchen Sonderregelungen und Freistellungen, um unsere Bauern zu schützen.“
Indien, so Jain, versuche vorteilhaftere Bestimmungen auszuhandeln. Insbesondere fordere die indische Regierung, dass Länder, in denen ein signifikanter Teil der Bevölkerung in absoluter Armut lebt, die Möglichkeit haben müssen, den Agrarsektor zu stützen, um die Ernährungssicherheit, den Umweltschutz und den Erhalt ländlicher Arbeitsplätze gewährleisten zu können. Es gehe dabei nicht um „Handelsverzerrungen“, sondern schlicht ums Überleben. Und dies gebiete eben eine gewisse Flexibilität im Umgang mit den konventionellen Regeln der Marktwirtschaft.
Die in den genannten Bereichen aufgewandten Gelder sollten nicht in die Berechnung des „Aggregats der Unterstützungsmaßnahmen“ (Aggregate Measures of Support, AMS) einfließen, dessen Höchstgrenze für die Entwicklungsländer auf 10 Prozent des landwirtschaftlichen Produktionswerts, für die entwickelten Länder auf 5 Prozent festgelegt wurde.
Das heißt auf eine kurze Formel gebracht: keine Lösung ohne Aufstockung der erlaubten Agrarbeihilfen. Das Leben von Millionen Menschen steht auf dem Spiel. Sollte es nicht gelingen, die ländlichen Arbeitsplätze zu erhalten, droht in absehbarer Zeit eine massive Landflucht, und in den Städten gibt es kaum Beschäftigungsmöglichkeiten. Angesichts der explosiven Lage hat die Regierung in letzter Zeit zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die betroffene Bevölkerung an ihren Wohnsitz zu binden.
Der renommierte Agrarexperte Swaminathan hat gegen eine „gewisse Dosis WTO“ nichts einzuwenden. Gleichwohl befürwortet auch er die Wiedereinführung von Importbeschränkungen, wenn ungebremste Importe wie im Fall der pflanzlichen Öle negative, ja dramatische Folgen zeitigen. „Bei allen unseren Verhandlungen über Handelsfragen sollten die Beschäftigung und die Lebensumstände der Bevölkerung die Argumentationbasis darstellen“, meint der Experte und lässt dabei durchblicken, dass dies in der Vergangenheit nicht immer der Fall war.
Acht Jahre Erfahrung mit dem WTO-Abkommen zeigen, dass die in Aussicht gestellten Vorzüge für die indische Landwirtschaft bei weitem überschätzt wurden. Einen Großteil der Verantwortung hierfür trägt die indische Regierung, die nicht im Stande oder willens war, das nötige Umfeld und die Infrastrukturen zu schaffen, die für die Entwicklung eines Sektors, von dem noch immer drei Viertel der Bevölkerung abhängen, unerlässlich sind.
Diese Versäumnisse werden heute durch gravierende Entwicklungsrückstände und unermessliche Not bezahlt. „Dass unsere Bauern und ihre Familien leider die negativen Aspekte des WTO-Abkommens erfahren, liegt im Wesentlichen an unserer Untätigkeit und mangelnden Vorbereitung“5 , beklagte Swaminathan im vorigen Jahr und fügte hinzu: „Wenn es in unserer Landwirtschaft schief läuft, geht es in unserer Wirtschaft und Gesellschaft gar nicht mehr voran.“
dt. Bodo Schulze
* Journalist