Die Welt im Rechteck
Nachrichten gehen als Bilder um die Welt, je drastischer, desto besser. Vor lauter Bildern nehmen wir kaum wahr, wie eintönig das ist, was wir in der Regel auf dem heimischen Bildschirm zu sehen bekommen. Unternehmensfusionen und Marktkonzentration führen auch im Bereich des Fotojournalismus dazu, dass gängige Massenware dominiert. Einzelne große Bildagenturen kaufen ganze Archive – und blockieren fortan den Zugang zu dem Material. Die Hochzeiten der Bildreportage, in denen Fotografen wie Henri Cartier-Bresson als avantgardistische Künstler ein Genre prägten, sind ein für allemal passé, nur vereinzelt halten sich noch unabhängige Fotografen und Agenturen. Die Fotografie, deren vormaliges Ideal des perfekt konstruierten Rechtecks durch den subjektiven Faktor gesprengt wurde, ist heute auf der Suche nach neuen ästhetischen Bestimmungen.
Von CHRISTIAN CAUJOLLE *
SEIT einigen Jahren wird gern von der „Krise des Fotojournalismus“ geredet. Dabei geht es um eine Vielfalt von Phänomenen: die finanzielle Unsicherheit der Fotoagenturen, die Firmenübernahmen und die Marktkonzentration im Bereich der Produzenten und Vertreiber von stehenden Bildern, sowie um Konflikte in Sachen Urheberrecht und um den unklaren sozialen Status der Fotografen – kurz, um eine Reihe von Problemen unterschiedlichster Art. Eines jedoch wird nie erwähnt, obwohl es das entscheidende und insofern viel gravierendere Problem ist: die tiefe Krise der grafischen Identität der Presse, insbesondere ihr Verhältnis zur Fotografie. Eine Krise, die objektiv nicht nur den Fotojournalisten als Berufsstand gefährdet, sondern die Existenz – und den Sinn – der Zeitschriften und Magazine als solche.
In den Siebzigerjahren war Paris zur „Weltstadt des Fotojournalismus“ geworden, besonders nachdem es freiberuflichen Fotografen mit der Gründung der Agentur Gamma gelungen war, Eigentümer ihrer Arbeit zu bleiben, dieser Geltung zu verschaffen und im Rahmen des neuen Produktionsmodells Kosten und Gewinne paritätisch zwischen Fotograf und Bilderdienst aufzuteilen. Die Agenturen Gamma, Sipa und Sygma führten seinerzeit das Feld an und entwickelten sich zu scheinbar unverwüstlichen Großunternehmen, je mehr die Bilder weltweit Verbreitung fanden.
Mittlerweile sind alle drei Agenturen von mächtigen Gruppen aufgekauft – vielleicht weil sie bei ihrem enormen Wachstum ihre Seele verloren hatten, aber sicher auch weil die Unternehmensführungen falsche Entscheidungen getroffen hatten, unter anderem bei Investitionen in neue Technologien, und weil sie die Konkurrenz der Nachrichtenagenturen (Reuters, AFP, AP) zu spät hatten kommen sehen.
Wie in allen anderen Wirtschaftssektoren dominieren auch in der Fotowelt Marktkonzentration und Fusionen, unabhängige Firmen gibt es kaum noch. Für die neuen Herren der Welt, insbesondere für die „Medienzaren“, ist das Bild ein viel versprechender Geschäftsfaktor, eine wegweisende Trumpfkarte für das 21. Jahrhundert. Wie sehr sie darauf setzten, zeigen die ungeheuren Summen, die in den Kauf ganzer Bildbestände investiert worden sind.
Für einen so heiklen Bereich wie die Produktion und Kommerzialisierung der Bildberichterstattung besiegeln derartige Übernahmen und Konzentrationsbewegungen außerdem die Herrschaft der Finanzdirektionen, die in der Regel kaum etwas von der Materie verstehen – woraus sich so mancher Konflikt zwischen den Mitarbeitern und der Führungsetage von Gruppen wie Corbis, Getty oder Hachette erklärt.
So undurchsichtig die einzelnen publizistischen Vorhaben dieser riesigen Medienverbände im Einzelnen auch sind, aus ihrem Fernziel haben sie nie einen Hehl gemacht: Sie streben nach der Vormachtstellung im Bereich der Fotografie. Keine der Umorientierungen und Feinanpassungen hat etwas an dem ursprünglichen Credo geändert: „Wenn der Kunde erst einmal alles bei uns findet, wird er anderswo gar nicht mehr suchen.“ Nur: Dieses „alles“ ist ein gewaltiger Berg, und die Investitionsgelder, die man zur digitalen Erfassung der erworbenen Bildbestände benötigt, dürften jedem vernünftigen Geschäftsführer unverhältnismäßig hoch vorkommen.
Nehmen wir das Beispiel der von Corbis übernommenen Bettmann-Archive. Diese historische Sammlung ist mit ihren 11 Millionen Bildern von unschätzbarer Bedeutung. Aber es dürfte Jahre dauern, bis eine Auswahl von nicht einmal 10 Prozent erfasst, digitalisiert und verbreitet ist, und während dieser Zeit sind die Bilder nicht verfügbar. Die Entscheidung, den ganzen Fundus in einer stillgelegten Mine zu deponieren, wurde Corbis ausgesprochen übel genommen, schließlich kam das einem Begräbnis gleich und schockierte die Menschen – da konnten die technischen Bedingungen zur Konservierung noch so günstig sein.
Es stellt sich aber eine noch wichtigere Frage: Nach welchen Kriterien wird das Angebot an Bildern ausgewählt? Die Antwort ist so einfach wie bei der Zusammenstellung des Sortiments im Supermarkt: Man nimmt, was der Durchschnitt, das Mittelmaß verlangt – anders gesagt: Bilder, die geeignet sind, die Tendenz zur Erzeugung von Stereotypen als einem der Hauptmerkmale unserer Presse weiter zu verstärken.
Eine solche rein wirtschaftliche Einstellung zum Bildmaterial ist Besorgnis erregend, und zwar nicht nur, weil das Angebot dabei verarmt, sondern weil einzigartige Fotos verschwinden, die den Medien erlauben könnten, dem Betrachter eine andere, radikale und Sinn stiftende Sicht auf die Dinge zu bieten. Wir verlieren mehr dadurch, dass wir zu Bildern „außerhalb der Norm“ keinen Zugang haben, als wir gewinnen, indem wir überall und jederzeit über die ganze Palette der genormten Bilderwelt verfügen können.
Die wenigen unabhängigen Fotografen und kleinen Agenturen, die unter schwierigen ökonomischen Bedingungen an ihrer anspruchsvollen Arbeit festhalten, kommen sich inzwischen fast wie Widerstandsnester vor. Seit zwanzig Jahren sind die verschiedensten Aktionen und Vorstöße bei den zuständigen Ministerien (für Kultur und Nachrichtenwesen, Justiz, Finanzen und Soziales) allesamt im Sande verlaufen, so dass über den Häuptern der unabhängigen Fotojournalisten nach wie vor gleich zwei existenzgefährdende Damoklesschwerter schweben. Einerseits stellen die wiederholten und oft ungerechtfertigten Geldstrafen, die unter dem Vorwand der Wahrung von Persönlichkeitsrechten wegen der Veröffentlichung von Fotos ohne ausdrückliche Genehmigung der abgebildeten Person verhängt werden, einen finanziellen Aderlass sondergleichen dar – womit ich durchaus nicht das Persönlichkeitsrecht in Frage stellen will, im Gegenteil, es muss geachtet und bekräftigt werden. Wenn aber die Gerichtsurteile im Konflikt zwischen Persönlichkeitsrecht und dem Recht auf Information systematisch so ausfallen, dass sie denen das Genick zu brechen drohen, die sich der Bildberichterstattung oder Fotoreportage verschrieben haben, dann ist das wohl kaum hinzunehmen.
Andererseits stellt sich die Frage nach dem sozialen Status der Fotografen, die fest mit Zeitschriften oder Presseagenturen zusammenarbeiten. Nach dem Gesetz müssten sie in Frankreich wie Lohnempfänger entgolten werden, da Pressefotografen keinen urheberrechtlichen Status innehaben; dies aber zöge die Schließung sämtlicher Pressefotoagenturen nach sich.
Trotz allem hat die Fotografie in den letzten dreißig Jahren nie ein so hohes Niveau erreicht wie heute, nie hat es eine solche Qualität, so großartige Bildreportagen, so vielfältige Anregungen im Bereich der Dokumentarfotografie gegeben. Bei meiner täglichen Arbeit verschlägt es mir manchmal den Atem, wenn ich sehe, mit welcher Kraft und Radikalität manche Fotografen Ethik und Ästhetik verbinden und auf ihre je eigene Weise wesentliche Zeugnisse des Zeitgeschehens hervorbringen – obwohl ihre Angebote bei den Vertreibern auf wenig Gegenliebe treffen und trotz der schwierigen Bedingungen, unter denen sie ihre Bilder produzieren, trotz der Absurditäten und konservativen Sturheit, auf die sie oft stoßen, sobald sie Sinn produzieren und gegen die fade Dekoration ankämpfen wollen, die sich in den meisten Zeitschriften und Magazinen von Seite zu Seite wiederholt.
Es gibt heute hervorragende tagesaktuelle Fotos von bemerkenswerten Fotografen, die aber niemandem nutzen, wenn sie nicht digitalisiert und über Vertriebsnetze von den großen Nachrichtenagenturen verbreitet werden. In zwanzig oder dreißig Jahren werden sie bestimmt hochinteressante Archive füllen.
Professionelle Fotografen müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass das Fernsehen zum ersten Informationsträger der Bildberichterstattung geworden ist und das Internet sich in einer geschwindigkeitsfixierten Welt, wie Paul Virilio sie analysiert hat, als Konkurrent des Fernsehens erweist. Wenn sie ihren eigenen Stellenwert behaupten wollen, müssen sich die Fotografen der Auseinandersetzung mit den neuen ästhetischen Mitteln stellen.
Im Übrigen hat sich die Fotografie im Laufe ihrer Geschichte weiterentwickelt. Sie hat sich von der als objektiv geltenden Reproduktion (deren faszinierendes Moment in den Anfängen ebenfalls die „Geschwindigkeit“ war) immer weiter entfernt und ist zu einer Interpretation der abgebildeten Wirklichkeit geworden, die der subjektiven Dimension Rechnung trägt. Anders als gemeinhin behauptet wird, sind sich die Fotografen dieser subjektiven und ästhetischen Dimension ihrer Zeugnisse sehr früh bewusst geworden. Als Beweis möchte ich nur an einige der Fotos von Gustave Le Gray über den militärischen Übungsplatz von Châlons („Le camp de Châlons“, 1857) erinnern.1
Als dann die Zeitungen in der Lage waren, Fotos abzubilden, waren die Fotografen mit den ersten Vorschlägen zur Stelle. Der bemerkenswerteste Vorschlag aus der Frühzeit des Fotojournalismus, in der alles noch zu erfinden war, stammt von Henri Cartier-Bresson, dem Mitbegründer der Fotoagentur „Magnum“, der seinen Stil in Anlehnung an die früheren Arbeiten von Martin Munkacsi und André Kertèsz entwickelt und neben den direkten Bildern von Robert Capa die Kompositionsregeln der „guten Fotografie“ definiert hat. So ist es ihm gelungen, sowohl die Befreiung Frankreichs als auch die Chinesische Revolution, das Indien unter Gandhi und die UdSSR der Sowjets in außergewöhnlichen Fotodokumentationen festzuhalten und einen Blick auf die Welt zu öffnen, der zur Regel der hohen Schule fotografischer Meisterschaft geworden ist: die Berichterstattung mittels eines reinen, perfekt komponierten Rechtecks.
Diese Ästhetik, die zahlreiche Anhänger gefunden und bis heute überdauert hat, konnte in einer Zeit, als die Fotografie das einzige Mittel war, das Publikum zu Hause an den Geschehnissen der Welt teilhaben zu lassen, unglaubliche Wirkungskraft entfalten. Sie war geprägt von der Betonung des Bildausschnitts: der Betrachter sollte vergessen, dass es überhaupt ein Außerhalb des Rahmens gab, die Welt war komprimiert, auf das reduziert, was der Fotograf in dem Rechteck eingefangen hatte, dessen schwarzer Rand dem schweifenden Blick Grenzen setzte und ihn gewissermaßen im Griff hatte.
Mit dem Auftauchen der Farbe gegen Ende der Fünfzigerjahre öffnete sich die große ästhetische Kluft zwischen der Arbeit der freischaffenden Bildreporter und den Fotos, die in der Presse erschienen. Während die schöpferischen Geister mit Farben zu komponieren versuchten, nahmen die Fotojournalisten einfach nur einen anderen Film und gestalteten ansonsten weiter, wie sie es von ihrer Arbeit in Schwarz-Weiß gewohnt waren. Es ist bezeichnend, dass die Presse in den Siebzigerjahren, als das New Yorker Museum of Modern Art (MOMA) Fotos mit neuen Farbkonzepten ausstellte, diese für „zu künstlerisch“ erachtete Art der Fotografie ignorierte. In Frankreich wagte sich die Monatszeitschrift Actuel mit den Mischungen von natürlichem und künstlichem Licht eines Alain Bizos hervor, dessen Arbeiten damals von allen Vertriebsnetzen abgelehnt wurden, aber später so viele Nachahmer fanden.
In den letzten zehn Jahren haben junge Fotografen den Zeitschriften und Magazinen Bilder ohne jeglichen ästhetischen oder informativen Ballast angeboten. Ihre Fotos zeugen ebenso von ihrer Erfahrung der Welt wie von dem, was sich zugetragen hat, stellen aber eher Fragen, als dass sie etwas Bestimmtes aufzeigen. Dadurch haben die Bildjournalisten die herrschende Ästhetik in eine Krise gestürzt, sie haben Zweifel an die Stelle von Deutungen gesetzt, den subjektiven Standpunkt radikalisiert – und die Agenturen in wilde Panik versetzt. Sie bieten uns Sichtweisen, bei denen der Rahmen – im Gegensatz zu den früheren Konzepten – den Betrachter zwingt, über ihn hinauszugehen und die Umgebung eines Bildes, das nichts beweisen, sondern nur aufrütteln und uns zum Nachdenken bringen soll, neu zu erfinden.
Diese jungen Leute haben es gewagt, die in der Nachkriegszeit vorherrschende Fotoästhetik in Frage zu stellen. Den Arbeiten ihrer Kollegen begegnen sie dabei weder mit Kritik noch mit Verachtung. Sie sagen nur laut und deutlich, provozierend und wohl überlegt, dass es im Grunde darauf ankommt, nicht die Söldner einer Presse zu sein, der es mehr um Geschäfte als um Inhalte geht. Ihnen liegt daran, dass die Presse ihrer Aufgabe nachkommt: dass sie die Dinge überprüft und hinterfragt.
Noch ein Wort zur Geschichte: Als sich die Presse zu Beginn des 20. Jahrhunderts die technische Möglichkeit zum Abdruck fotografierter Bilder erschloss, ersetzte sie die bis dahin üblichen Gravuren durch Fotos, die den Zeitungsberichten einen „Realismus“ hinzufügen und das, was geschehen war, glaubwürdiger bezeugen sollten als das gedruckte Wort. Das Foto wurde eine Art Beweismittel, auch wenn die Justiz ihm klugerweise diese Fähigkeit nie zugestanden hat. Zugleich bewahrte das Zeitungsfoto, indem es nur ein früheres Bild anderer Art ablöste, den Status der bloßen Illustration.
Dabei blieb es bis Ende der Zwanzigerjahre, als die Picture Post in England, die Berliner Illustrirte in Deutschland sowie VU in Frankreich eine neuartige Zeitschrift aufbrachten, die auf visuelle Hilfsmittel, die Inszenierung von Bildern und Bilderfolgen gegründet war. Aus dieser Zeit stammt auch die auf Erinnerungen anspielende Bilderzählung, die der Zusammenarbeit zwischen den damaligen Meistern der Fotografie und kreativen Schriftsetzern entsprang und eine Verbindung von Form und Inhalt darstellte.
Mit der Gründung von Life in den USA, dem Erscheinen von Match in Frankreich und dem Stern in Deutschland setzten sich das „Bildmagazin“ und der „Fotoessay“ durch, jener Bilderbericht, der sich in seinem Ablauf am Kinofilm orientiert und mit der Dialektik von Text und Bild spielt, um dem Leser „Geschichten“ anzubieten. In diesem „goldenen Zeitalter“ (das freilich keines war) erreichte der Fotojournalismus eine enorme Wirksamkeit und Verbreitung, die durch die Erfindung des Fernsehens und seine Entwicklung zum Massenmedium zunichte gemacht wurden. Heute, aus der Distanz, scheint es mir, dass die freien Töne und der Einfallsreichtum der Tageszeitung Libération in den Jahren 1981–1984 Zeugnis davon ablegen, wie produktiv sich die Spannung von Fotografie und Berichterstattung entwickeln kann.
Seither wird die gegenläufige Tendenz immer stärker: die Tendenz zur Illustration, zum dekorativen Bild, zur Redundanz und Sinnverwandtschaft zwischen Bild und Text. Dass „die Leute“ immer mehr Gewicht gewonnen haben und die Information immer weniger, kann diese systematische Aneinanderreihung abgedroschener Klischees nicht rechtfertigen. Die Presse hat „berühmte“ oder „wichtige“ Leute immer schon zum Thema gemacht, aber es gab eine Zeit, in der sie es verstand, auf originelle Weise, in Form von Reportagen, damit umzugehen. Sicher, die Agenten und Berater hatten damals noch nicht die maßlose Macht, die ihnen die heutigen Medien einräumen. Ich denke mit Wehmut an die Bilder der Magnum-Fotografen, die bei den Dreharbeiten zu „Misfits“ von John Huston aufgenommen wurden.2 Wenn ich die aktuellen Magazine durchblättere, gähnt mich verglichen damit nichts als Leere an.
Die Fotos sind keine Bilder ihrer Zeit mehr, auch nicht der meinigen. Aus guten oder schlechten ökonomischen Gründen sind sie zur ewigen, alterslosen Routine erstarrt. Das Unerträglichste für einen Normalbürger wie mich ist es, wenn er 1 Euro 20 für „seine“ Tageszeitung bezahlt und auf der ersten Seite das gleiche Bild findet, das er am Vorabend in den Fernsehnachrichten gesehen hat. Eine Art Betrug, wenn man so will. Wie ist es so weit gekommen? Was ist passiert mit dem Vertrauensverhältnis zwischen Nachrichtensender und Empfänger?
Die einen haben kapituliert und die anderen haben sich blind gestellt. Und zwar immer wieder. Die Presse, in Panik versetzt und zugleich fasziniert vom Fernsehen, das ihr den größten Teil des Werbemarkts streitig machte, war nicht in der Lage, ihre Aufgabe neu zu definieren. Sie schwankt zwischen dem Versuch, gedrucktes Fernsehen zu machen, ja sie ist sich nicht einmal zu schade eine „Zappzeitung“ anzubieten, und dem Bemühen, das Fernsehen in den ihm eigenen Bereichen zu überbieten – das alte Syndrom fantasieloser Kopisten.
Abschließend noch einige prinzipielle Bemerkungen. Das Visuelle – das betrifft nicht nur die Fotos – ist für die Identität, das „Gesicht“ einer Zeitung ebenso entscheidend wie der redaktionelle Inhalt, mit dem es eine Verbindung eingeht. Wer eine Zeitung produziert, muss sich darüber im klaren sein, dass er zwei Entscheidungen trifft: Die anfängliche Bildauswahl und die spätere Gestaltung der Seite mit Textredaktion und Layout. In jedem Moment wird Sinn erzeugt, der die ursprüngliche Absicht des Fotografen abwandelt und dahingehend umlenkt, dass ein Zusammenhang mit den Texten entsteht, dass also die Fotos an der Konstruktion von Nachrichtenvermittlung teilhaben. Wenn dieser Sinn nicht mitbedacht und überprüft wird, kann er widersinnig werden. Wir alle kennen die entsprechenden Beispiele …
Daher die Notwendigkeit, eine wirkliche Politik der Bildredaktion zu entwickeln, angefangen mit der ersten Frage, die mir längst vergessen scheint: Warum veröffentlicht man überhaupt Fotos in der Presse? Die Antwort könnte den Zeitungen und Magazinen eine neue Zukunft eröffnen, vorausgesetzt, sie gibt den Bildern eine redaktionelle Funktion, sie hört damit auf, sich an der Werbeästhetik zu orientieren, und sie gibt der Sichtweise der Fotografen, den aufsässigen Fragen und Hintergrundrecherchen den Vorzug vor Klischees. Kurz: Sie entscheidet sich für den Sinn und gegen die Dekoration.
dt. Grete Osterwald
Die Titelseiten einzelner Zeitschriften von oben nach unten: L‘Illustration, Paris, 28. Januar 1938. Während der Regierungskrise. Regards, Paris, 17. Dezember 1936. Die Schlacht um Madrid, Foto: Robert Capa. Berliner Illustrirte Zeitung, Berlin, 9. Juli 1933. Das Mussolini-Forum in Rom, Foto: Alfred Eisenstaedt. The Sunday Times Magazine, New York, 21. April 1968. Harlem, Foto: Bruce Davidson. Der Stern, Hamburg, 28. Juni 1953. Arbeiteraufstand in Ostberlin, Foto: Peter Cürlis. Life, New York, 1. Februar 1937, Das reichste College der Welt, Foto: Alfred Eisenstaedt.
* Künstlerischer Leiter der Galerie und Agentur „Vu“, Paris.