13.09.2002

Islamisten auf Integrationskurs

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Islamisten auf Integrationskurs

VOR Jahrzehnten bereits begannen die Islamisten damit, den Panislamismus hintanzustellen und auf die politische Sphäre der jeweiligen Länder Einfluss zu nehmen. Unter dem Druck der Ereignisse des 11. September sind die islamistischen Organisationen in vielen arabischen Ländern dazu übergegangen, den Antiamerikanismus im legalen Rahmen zu artikulieren und sich dabei von der Gewalt der al-Qaida zu distanzieren. Ein „islamischer Nationalismus“ breitet sich aus. Und die Politik des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon bringt solchen Strömungen weiteren Zulauf.

Von WENDY KRISTIANASEN *

Seit dem 11. September 2001 beherrscht der „Kampf der Kulturen“ die politische Debatte im Westen. Doch ist die Welt der „islamischen Fundamentalisten“ alles andere als homogen, nicht zuletzt weil religiöse Bekenntnisse in der muslimischen Welt eng mit sozialem wie politischem Wirken verknüpft sind. Dabei berufen sich viele der verschiedenen Strömungen auf die Erweckungsbewegungen vom Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Salafija-Bewegung fordert eine Rückkehr zu den Ursprüngen (al-aslaf, Ahnen) und ist, obgleich stark von den saudischen Wahhabiten beeinflusst, keine organisierte Bewegung. Insbesondere unter jungen Muslimen im Westen, die um ihre Wurzeln und Traditionen fürchten, hat diese Gebote und Verbote betonende Bewegung in letzter Zeit an Einfluss gewonnen. Aus ihren Reihen stammten auch viele der jungen Al-Qaida-Kämpfer. Sowohl dem Westen als auch den eigenen – prowestlichen – Regierungen gegenüber ist sie feindselig gesinnt.

Die 1928 in Ägypten gegründete, aus der Salafija-Bewegung hervorgegangene Muslimbruderschaft besitzt, anders als die Salafija, in der gesamten arabischen Welt eigenständige Organisationen, die sich im legalen Rahmen der jeweiligen Länder „nationalisierten“, sich also in die politische Szene der jeweiligen Heimatländer integrieren und die „panislamische“ Perspektive gegenüber den lokalen Interessen hintanstellen. Bei ihrem Versuch, sich im politischen Leben der verschiedenen arabischen Länder durchzusetzen, kam den Islamisten das Scheitern des arabischen Nationalismus (nach dem arabisch-israelischen Krieg von 1967), die iranische Revolution und der Zusammenbruch des Sozialismus zugute. So entstand ein „islamischer Nationalismus“. Bereits vor Jahrzehnten begann diese Umorientierung auf legale Methoden und reformerische Ziele. Einige Islamisten, wie die ägyptische, aus der Muslimbruderschaft hervorgegangene Al-Wasat-Partei, überprüfen derzeit die traditionelle Islam-Interpretation und sogar die islamische Rechtslehre. Aber genau diese Bestrebungen der moderaten Kräfte haben durch die Ereignisse des 11. September einen entscheidenden Rückschlag erlitten.

„Die meisten Islamisten waren mit den Angriffen in New York und Washington nicht einverstanden“, meint Leith Shbeilat, ein prominenter unabhängiger Islamist und ehemaliger Parlamentsabgeordneter aus Jordanien. „Aber die Reaktion der USA hat die Straße radikalisiert. Die westliche Welt hat uns, die gemäßigten Kräfte, zum Schweigen gebracht.“ Für den „Mann auf der Straße“ ist Ussama Bin Laden ein Held, eine Art muslimischer Che Guevara, und wer – wie die gemäßigten Islamisten – diese Radikalisierung nicht mitmacht, gerät ins Abseits.

In Jordanien etwa hat der 11. September die Islamisten, die seit langem als demokratische Opposition im Parlament eine wichtige Rolle spielen, deutlich geschwächt. Ibrahim Gharaibeh, Wissenschaftler am Ummah-Forschungszentrum in Amman berichtet: „Die Bruderschaft geriet in eine unhaltbare Position: Sie war entschieden gegen die Angriffe vom September, konnte das aber nicht sagen, denn dann hätten sich ihre Anhänger abgewandt … Wie Bush schon sagte: ,Entweder ihr seid für uns oder gegen uns!‘ Nur: Die Bruderschaft war für keine Seite.“

Das Dilemma hat zu heftigen Debatten geführt. Dr. Abdel Mejid Thuneibat, Oberhaupt der jordanischen Bruderschaft, muss einräumen: „Obwohl wir laut und deutlich erklärt hatten, dass wir gegen die Angriffe sind, bekamen wir den Druck der USA zu spüren. Sie haben den Kampf der Kulturen ausgerufen und die arabischen und muslimischen Länder gedrängt, die Islamisten aus dem Weg zu schaffen.“

Die Reaktion der Straße

DER Druck auf die Islamisten ist seit dem September 2001 ständig gewachsen. Im März und April beteiligte sich der politische Arm der Bruderschaft, die Islamische Aktionsfront (IAF), zwar an den Protestaktionen gegen die israelische Politik, vor allem gegen die Angriff auf Dschenin. Doch als die Regierung am 12. April einen Protestmarsch zur israelischen Botschaft verbot, zog die IAF ihre Teilnahme kurzfristig zurück. Diese Zurückhaltung hat der Bruderschaft das Lob des jordanischen Establishment, nicht jedoch das der Straße eingebracht: „Seit dem letzten September haben sich die Islamisten sehr gut verhalten“, meint Taher al-Masri, der lange Jahre Ministerpräsident Jordaniens war.

Dr. Abdel Latif Arabiyyat, Vorsitzender der IAF-Vollversammlung, ist deutlich bemüht, sich von den Ereignissen des 11. September zu distanzieren: „Mit all dem haben wir nichts zu tun. Wir haben keinerlei Verbindung zu al-Qaida oder den Taliban, und wir billigen ihre Aktionen nicht, genauso wenig wie die der USA.“ Derart „ausgewogene“ Bekenntnisse kommen den Erwartungen einer stark antiamerikanischen Öffentlichkeit kaum entgegen. Die Wut der Bevölkerung nahm durch die Ereignisse im Westjordanland noch zu, für die sie die Amerikaner direkt verantwortlich macht.

In anderen Ländern der Region sind die Regierungen durch Ariel Scharons Politik genötigt worden, ihr politisches Bündnis mit dem Westen und dessen Unterstützung für Scharon zu überdenken, während die Islamisten durch die Beteiligung an den Solidaritätsdemonstrationen mit den Palästinensern verlorenen Boden wettmachen konnten. Gleichwohl waren die Islamisten auch unter den neuen Bedingungen auf Zurückhaltung bedacht. In Ägypten etwa respektierten sie die staatlichen Auflagen – die die Demonstrationen im Wesentlichen auf das Universitätsgelände beschränkten –, um die Behörden nicht zu provozieren. Dies erschien ihnen umso notwendiger, als das ägyptische Regime den 11. September als Vorwand benutzt hatte, um die Repression gegenüber der Muslimbruderschaft zu verstärken, die trotz ihres illegalen Status die wichtigste politische Oppositionskraft des Landes darstellt. 22 Muslimbrüder wurden verhaftet und vor Gericht gestellt, nachdem sie an Protesten gegen die US-Angriffe in Afghanistan teilgenommen hatten.1 Dr. Abdel Moneim Abu al-Futtuh, ein junger Anführer der Muslimbrüder, meint dazu: „Die September-Angriffe verschafften den arabischen Regimen die Möglichkeit, die Angst vor den Islamisten zu schüren, die ja ihre Hauptwidersacher sind. Mit den Extremisten in einen Topf geworfen zu werden hat allen Kräften in der islamischen Welt geschadet.“ Und er fügt hinzu: „Wir setzen nicht mehr auf Gewalt.“

Allerdings habe „Gewalt“ in Palästina eine andere Bedeutung: „Es ist einfach dumm von Bush, dass er das, was die Palästinenser tun, als Gewalt bezeichnet.“ Denn für die Araber und Muslime in der ganzen Region handelt es sich dabei vielmehr um legitime Selbstverteidigung.

In allen Ländern werden die Aktivitäten der Islamisten intensiver überwacht denn je, insbesondere ihre Finanzaktivitäten. Am deutlichsten wurde dies im Scheichtum Kuwait.2 Dort genießen die Islamisten (die stärkste Gruppe im Parlament) seit langem die Unterstützung der Regierung, die damit ein Gegengewicht gegen die säkulare liberale Opposition schaffen will. Dennoch hat die Regierung hunderte von nicht lizensierten Kiosken geschlossen, die als Sammelstellen für Spenden an die Islamisten fungierten, und andere islamische Wohlsfahrtseinrichtungen und Aktivitäten einer strengen Überprüfung unterzogen. Die staatliche Kontrolle fiel umso schärfer aus, als unter den Gefangenen in Afghanistan und in Guantánamo ein relativ hoher Anteil von Kuwaitis war, zu denen nicht zuletzt der Pressesprecher von al-Qaida, Suleiman Abu Ghaith, gehörte.

Während al-Qaida dem Westen wiederholt neue Schläge androhte, hat sich innerhalb der bedeutendsten radikalislamistischen Organisation Ägyptens eine Revolution vollzogen: Der Anführer der dortigen Islamischen Gruppe (al-Gama‘a), Karam Zuhdi, hat in einem Interview mit der Wochenzeitung Al Musawwar im Juni 2002 aus dem Gefängnis in Tura heraus öffentlich klar Position bezogen: „Wir verurteilen die Angriffe vom 11. September entschieden. […] Diese Angriffe schaden dem Islam und den Muslimen.“3 Und er bezeichnete die Anschläge als illegal, weil „das Töten von Kaufleuten haram (vom Koran verboten) ist, und das World Trade Center war voll von Kaufleuten. Aus islamischer Sicht war es auch verboten – vorausgesetzt, Muslime haben die Angriffe tatsächlich ausgeführt –, unschuldige Frauen, Kinder und ältere Menschen zu töten – und im World Trade Center befanden sich über 600 Muslime, durchweg unschuldige Menschen.“

Ferner räumte Zuhdi ein, dass die Islamische Gruppe sich beim ägyptischen Volk entschuldigen müsse für ihre verfehlten Aktionen in den Neunzigerjahren. Man denke sogar darüber nach, den Familien der Opfer dieser Angriffe eine Entschädigung zu zahlen, die aus den Erlösen des Buches „Korrektur falscher Auffassungen“ (Maktab al-Turath al-Islami, Kairo 2002) finanziert werden solle. In dem vierbändigen Werk wird das neue Denken der Bewegung dargelegt: ihre Abwendung vom Dschihad und Hinwendung zur dawa (Mission), ebenso wie die Abkehr von der Auffassung, mit der sie früher einen islamischen Auftrag zur Gewaltanwendung legitimiert hatte – nämlich ihr Recht, andere Muslime zu Ketzern zu erklären, und ihre Pflicht, entsprechend zu handeln.

Eingeläutet wurde diese Wende bereits 1996, als die inhaftierten Anführer der Gama‘a sich in ihrem ersten Waffenstillstandsaufruf von den Al-Dschihad Aktivisten in Afghanistan distanzierten. Als Vater dieses Gesinnungswandels galt damals Montasser Zayat, Rechtsanwalt und inoffizieller Sprecher der Gama‘a. Er geht heute davon aus, dass al-Dschihad zusammen mit Bin Laden die Angriffe auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam vom 7. August 1998 organisiert hat, bei der 224 Zivilisten getötet wurden – eine „Antwort auf die Waffenstillstandsaufrufe unserer Anführer“, wie er meint.4 Diese Attentate hatten gezeigt, wie kontraproduktiv der internationale Terrorismus war, denn die meisten der Toten und Verletzten waren Afrikaner. Durchgesetzt hat sich die Wende jedoch erst nach der Welle der Gewalttaten, die Gama‘a innerhalb von Ägypten verübte und die ihren Gipfel im November 1997 erreichte, als in Luxor 58 ausländische Touristen getötet wurden.

Der 11. September 2001 hat die Kluft zwischen militanten und friedlichen Bewegungen vertieft. Obwohl der Vorwurf zu hören ist, Gama‘a habe sich dem Druck der ägyptischen Obrigkeit gebeugt, spielen bei ihrer Wandlung offenbar strategische Erwägungen ein Rolle. In Ägypten heißt es, al-Dschihad, dessen Anführer ebenfalls im Gefängnis sitzen, durchlaufe einen ähnlichen Prozess. Professor Saededdin Ibrahim, Soziologe und Menschenrechtsaktivist, der u. a. wegen unerlaubter Verwendung von Spendengeldern im Gefängnis sitzt (eigentlich aber wegen seiner Berichte über parlamentarische Manipulationen und die Zusammenstöße zwischen Kopten und Muslimen im Jahre 1995), berichtet: „Die Dschihad-Häftlinge, die mit mir im Gefängnis von Tura einsaßen, haben alle der Gewalt abgeschworen.“

Die historische Umorientierung von der Revolution zur Reform wird die Gama‘a auf das politische Territorium der Muslimbruderschaft zurückführen, von der sie und andere radikale Gruppen sich in den Siebzigerjahren abgelöst hatten. Immer mehr feste Gruppen mit einer stabilen Anhängerschaft und Mitgliederbasis innerhalb ihrer Länder bemühen sich, im Rahmen ihrer nationalen politischen Systeme zu arbeiten.

aus dem Engl. von Niels Kadritzke

* Journalistin, London.

Fußnoten: 1 Im Zeitraum 2001/2002 wurden in drei Verhaftungsschüben viele Muslimbrüder festgenommen; etwa hundert saßen bereits vor dem September 2001 ohne Anklage im Gefängnis. 2 Siehe Wendy Kristianasen, „Kuwait: Wir wollen keinen weltfremden Islam“, Le Monde diplomatique, Juni 2002. 3 AP-Meldung vom 25. Juni 2002; siehe auch Mohammad Gamal Arafa, (Korrespondent von Islam Online in Kairo), http://www.islamonline.net/English//News/2002-06/20/article30.shtml. 4 Nach dem September 2001 haben Zawahiri und Zayat ihre Kontroverse mit je einer Buchpublikation fortgesetzt.

Le Monde diplomatique vom 13.09.2002, von WENDY KRISTIANASEN