13.09.2002

Wann?

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Wann?

NACHDEM Dorans Dokumentation im EU-Parlament gezeigt worden war, verlangte der Vorsitzende der Vereinigten Linken, Francis Wurtz, die Beauftragung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) und der UNO „mit der Ermittlung und Beweissicherung vor Ort“. IKRK-Sprecher Gordon-Bates teilte auf Anfrage mit: „Unser Auftrag besteht in erster Linie darin, Kriegsopfern, lebenden Personen und Angehörigen von Verschwundenen Beistand zu leisten. Wir befürchten, dass eine Beteiligung an den Ermittlungen das IKRK daran hindern könnte, Kontakt mit den entsprechenden Personen aufzunehmen.“ Der Grundsatz der Vertraulichkeit und Neutralität verbietet, dass das IKRK vor einem Gerichtshof als Zeuge auftritt. Bei der UNO in Genf hieß es: „Ermittlungen über solche Verbrechen obliegen in erster Linie dem betroffenen Staat. Wir hegen keine Zweifel an der aufrichtigen Bereitschaft des afghanischen Staates, vergangene Rechtsverstöße aufzuklären.“ Kein Wort über den anderen involvierten Staat: die USA. Im Januar dieses Jahres inspizierte die amerikanische Nichtregierungsorganisation „Ärzte für Menschenrechte“ (PHR) die Haftbedingungen im Gefängnis von Schiberghan. Dabei entdeckte sie erste Hinweise auf mögliche Massengräber.

In ihrem „Vorläufigen Bericht über mutmaßliche Massengräber in der Region von Masar-i Scharif“ forderte sie die internationale Staatengemeinschaft und die afghanische Regierung auf, den Tatort abzusichern. Mitverfasser John Heffernan berichtet: „Unsere Vorstöße, die wir schriftlich bei Hamid Karsai und Donald Rumsfeld einreichten, um eine Sicherung des Orts der Massengräber zu erreichen, waren vergeblich.“ Auch spätere Anfragen bei der amerikanischen und britischen Regierung blieben ergebnislos. Die UNO hingegen bestätigt, dass „die Örtlichkeiten regulär überwacht werden, um Beweise zu sichern, bis die Übergangsjustiz eine Entscheidung getroffen hat – sei es ein Ermittlungsverfahren, eine Wahrheitskommission oder eine Mischung aus beidem“.

Im Anschluss an die Veröffentlichung des PHR-Berichts exhumierten UN-Ermittler im Mai dieses Jahres am mutmaßlichen Ort des Massakers in der Wüste von Dascht Leili 15 Leichen und gelangten nach dreimaliger Autopsie zu dem Ergebnis „Tod durch Ersticken“. Als das Gerücht umging, der Tatort werde verwahrlosen, berichtete ein PHR-Team nach abermaliger Inspektion, „die Ursachen dieser Verschlechterung [seien] naturbedingt (Wind und Geier), die menschlichen Überreste sind nach wie vor sichtbar“.

Anstatt Ermittlungen einzuleiten, dementierte das Pentagon offiziell die Anschuldigungen, die die Augenzeugen in Jamie Dorans Film vortragen. „Wir sind der Sache nachgegangen und haben keinerlei Beweise gefunden, dass amerikanische Militärangehörige daran beteiligt waren oder Kenntnis von solcherlei Gräueltaten hatten.“1

Obschon PHR keine Beweise für amerikanisches Mitwirken vorliegen, weist die Organisation darauf hin, dass die Kundus-Operation, die mit der Kapitulation der Taliban endete, mit amerikanischer Beteiligung stattfand. Folglich „können sie ihre Hände, wenn es um die Behandlung der Gefangenen geht, nicht in Unschuld waschen“, auch wenn Washington der Ansicht ist, dass die Taliban- und Al-Qaida-Gefangenen nach der Genfer Konvention nicht den Status von Kriegsgefangenen besitzen.

Dass jedoch Jamie Dorans Film auch die amerikanische Armee auf die Anklagebank setzt, wurde in den US-Medien verschwiegen. Erst das Magazin Newsweek griff schließlich das Thema auf.

Vier Jahre brauchte die UNO, um einen offiziellen Bericht über die Umstände der Eroberung der bosnischen Enklave Srebrenica im Juli 1995 und die anschließenden Massaker vorzulegen. Wird die internationale Gemeinschaft im Fall von Masar-i Scharif rascher handeln?

LAURENCE JOURDAN

Fußnote: 1 Dazu The Guardian, London, 8. August 2002. Marc Herolds Webseite: http://pubpages.unh.edu/ ~mwherold.

Le Monde diplomatique vom 13.09.2002, von LAURENCE JOURDAN