13.09.2002

Die Linke in der Regierungsfalle

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Die Linke in der Regierungsfalle

DIE Wahlen vom 27. September wecken in Marokko nicht besonders viele Erwartungen. Die Linke hofft zwar auf eine Erneuerung durch außerparlamentarische Kräfte und eine Ablösung der sozialistischen Regierungspartei, die sich durch ihre endlosen Kompromisse mit den konservativen Monarchisten kompromittiert hat. Doch eine wirkliche Lösung kann nur in einer grundlegenden Verfassungsänderung liegen, die endlich die absoluten Rechte des Königs beschneidet. Von der Wahl ausgeschlossen ist eine Partei mit populistischem Programm und einer großen Anhängerschaft: die Islamisten des Scheichs Yassine.

Von ABOUBAKR JAMAÏ *

Im Oktober sollen in Marokko die ersten freien und öffentlich kontrollierten Wahlen seit der Unabhängigkeit stattfinden. Der König und seine Berater betonen seit langem die Bedeutung dieser Abstimmung, und Mohammed VI. erklärte in seiner Thronrede vom 30. Juli ausführlich, warum es nun zu einem Wendepunkt in der Geschichte des Landes kommen müsse. Nach heftigen Debatten wurde inzwischen das neue Wahlgesetz vom Verfassungsrat (einer Art Verfassungsgericht, das auch vom Parlament angerufen werden kann) gebilligt. Der königstreue Innenminister Driss Jettou hatte keine Mühe gescheut, um eine Übereinkunft zwischen den Parlamentsfraktionen zu erzielen.

Ministerpräsident Abderrahmane Youssoufi weist immer wieder darauf hin, dass diese Wahlen für den König in doppelter Hinsicht entscheidend sein werden. Auf den „einvernehmlichen“ Regierungswechsel, eingeleitet von dem verstorbenen König Hassan II, hatte sich Youssoufis Partei, die Union socialiste des forces populaires (USFP), nur eingelassen, um eine Staatskrise zu vermeiden. Im Oktober 1995 präsentierte der damalige Herrscher dem Parlament einen Bericht der Weltbank, der den Staatsbankrott ankündigte. Für die Monarchie wurde es damit unabdingbar, sich der Unterstützung durch die „nationale“ Opposition zu versichern – jener Parteien, die aus dem Unabhängigkeitskampf gegen die französische Besatzung hervorgegangen waren. Sie musste diese einzig glaubwürdige Richtung im politischen Spektrum Marokkos in die Regierungsverantwortung einbinden, um nicht am Ende allein die Verantwortung für den wirtschaftlichen und sozialen Offenbarungseid zu tragen.

Zugleich kam es darauf an, neue Leute für eine kompetentere Führung der Staatsgeschäfte aus den Eliten des Landes zu rekrutieren. Natürlich konnte auch die Vereinnahmung der traditionellen Opposition die wirtschaftlichen Strukturprobleme des Landes nicht schlagartig lösen: In den beiden letzten Jahren hat sich die Wachstumsrate bei 2 Prozent eingependelt – bei weitem nicht genug, um die Armut zu bekämpfen oder die wachsenden Zahl junger Arbeitssuchender aufzufangen. In den fünf Jahren seit dem Regierungswechsel hat sich die wirtschaftliche und soziale Lage anhaltend verschlechtert. Das Herrscherhaus musste also darauf bedacht sein, alle Kräfte mit ins Boot zu holen, die aus der Unzufriedenheit der Bevölkerung hätten Kapital schlagen können. Ausgeschlossen blieb nur die islamistische Vereinigung al-Adl wal-Ihsan (Gerechtigkeit und Wohlfahrt) unter Scheich Abdessalam Yassine (siehe Artikel unten).

Die Demokratisierung Marokkos ist der zweite Aspekt, der diese Wahlen für die Monarchie so bedeutsam macht. Mohammed VI. erhielt nach seinem Amtsantritt einen großen Vertrauensvorschuss, weil er sich der ärmsten Bevölkerungsschichten annahm und einige symbolische Entscheidungen traf. Viele glaubten an einen Neubeginn, als der Monarch den Hausarrest des Islamistenführers Scheich Abdessalam Yassine aufhob und dem ins Exil geschickten Regimekritiker Abraham Serfaty die Rückkehr erlaubte. Als sein wichtigster Schritt galt die spektakuläre Entlassung von Innenminister Driss Basri – unter König Hassan II. die graue Eminenz im Zentrum der Macht. Dies schien ein klares Signal des Wandels zu sein.1

Doch die Illusion war bald verflogen. Das gerade entstehende Image des demokratischen Monarchen demontierte Mohammed VI. selbst – indem er gewaltlose Demonstrationen mit unnötiger Härte niederknüppeln ließ, indem er die Untersuchungen über politische Gefangene und Verschwundene in den Jahren der so genannten bleiernen Zeit immer wieder aufschob und sich schließlich, durch das Verbot einer Reihe von Zeitungen, auch gegen die Meinungsfreiheit stellte. Die Wahlen werden nun zeigen, ob sich – langsam, aber sicher – doch noch eine Demokratie herausbildet. Zugleich bieten sie Gelegenheit, die Regierung Youssoufi ins Kreuzfeuer der Kritik zu nehmen.

Der durchschnittliche Lebensstandard sinkt. Neue soziale Unruhen könnten die Folge sein – die Aufstände von 1981 in Casablanca und 1994 in Fes sind noch in lebendiger Erinnerung. Am 30. Juli 2002 nutzte der König die Thronrede zu einer unverblümten Kritik an der wirtschaftlichen Entwicklung, die von den regierungstreuen Zeitungen pflichtschuldig aufgegriffen wurde. Tenor: Die Regierung hat versagt. Dieser Vorwurf gegen die Koalition unter dem sozialistischen Ministerpräsidenten ist allerdings ungerechtfertigt.

Nach dem Tod von Hassan II. schien das Kabinett von Abderrahmane Youssoufi über einen erweiterten Handlungsspielraum zu verfügen, doch es dauerte nur wenige Monate, bis die Berater des Königs in Wirtschaftsfragen wieder die Zügel in die Hand nahmen. 2002 musste die Regierung einen weiteren Kompetenzverlust in der Wirtschaftspolitik hinnehmen, als der Monarch den Gouverneuren (die dem Innenminister unterstehen) per Dekret erweiterte Rechte zugestand. Diese wenig demokratische Maßnahme zur Entmachtung der Regierung ging im Eiltempo über die Bühne – mit der Begründung, die wirtschaftlichen Interessen des Staates müssten gewahrt werden. Tatsächlich hatten die Technokraten im Königspalast auf Beschwerden aus Wirtschaftskreisen reagiert: Dort war man mit der unentschiedenen Politik der Regierung Youssoufi höchst unzufrieden und wandte sich grundsätzlich nicht mehr an die Ministerien, sondern direkt an den Palast. So wurde auch das Gesetz über Auslandsinvestitionen, das sich vorwiegend auf Investitionen im Telekommunikationsbereich bezieht und dem Staat 33 Mrd. Dirham (3,3 Mrd. Euro) eingebracht hat, kurz vor dem Regierungswechsel 1997 noch schnell von der damaligen Regierung der Technokraten durchgepeitscht. Die heutigen Regierungsparteien stimmten damals gegen die Vorlage. In solchen Fragen geht die Monarchie stets auf Nummer Sicher.

Außerdem forderte Hassan II., als er der Opposition, einschließlich der Sozialisten der USFP, die Regierungsverantwortung antrug, die Kontrolle über die so genannten Ministerien der Souveränität: Die Amtsträger in den Ressorts Justiz, Äußeres, Inneres und Islamische Angelegenheiten wollte er persönlich bestimmen. Die Opposition weigerte sich und verfasste sogar eine Denkschrift zur Neubestimmung der Machtverhältnisse zwischen König und Parlament. Zu einer Antwort ließ sich der Monarch nicht herab. Er hatte schon 1996 eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung durchführen lassen, die sein absolutistisches Regime untermauerte. Die darauf folgenden Parlamentswahlen wurden mehrfach manipuliert, worauf die Oppositionsparteien in einer gemeinsamen Erklärung vom Dezember 1997 verwiesen. Dieses Memorandum trug die Unterschrift von Abderrahmane Youssoufi, aber das hinderte diesen nicht daran, sich anschließend zum Ministerpräsidenten einer Regierung machen zu lassen, die von einem aus undemokratischen Wahlen hervorgegangen Parlament berufen wurde. In dieser Regierung saßen zudem vier seiner Kontrolle völlig entzogene „Souveränitätsminister“, und ihre Rechte blieben – gemäß der Verfassung – durch die Macht des Königs eingeschränkt.

Die Abnutzung der Regierung Youssoufi

FÜR Youssoufis Partei ging dieses politische Experiment nicht ohne Schaden ab – nicht zuletzt weil sie keine greifbaren Erfolge vorzuweisen hatte. Aus der Öffentlichkeit wie aus dem Königshaus schlug ihr Ablehnung entgegen, und die Parteibasis zeigte wenig Verständnis für die von der Führung eingegangenen Kompromisse. Im März 2002 musste Youssoufi daher einen – seit zehn Jahren überfälligen – Parteikongress einberufen. Manipulationsversuche bei der Vorbereitung und Durchführung dieser Veranstaltung hatten jedoch zur Folge, dass die Parteijugend, der Gewerkschaftsflügel, eine Gruppe von Intellektuellen und einige geachtete Führungspersönlichkeiten unter Protest aus der Partei austraten. Youssoufis Stellung gegenüber der Monarchie ist durch diesen Aderlass nicht gerade gestärkt worden.

Die Affäre macht deutlich, dass der Ministerpräsident für seine Probleme weitgehend selbst verantwortlich ist. Sein Pakt mit den Sicherheitspolitikern der Monarchie musste zum Konflikt mit den demokratischen Kräften führen. Er ließ zu, dass die Parteipresse über den jungen Hauptmann Adib herfiel, der seine Vorgesetzten der Bestechlichkeit angeklagt hatte (die im Übrigen inzwischen alle verurteilt wurden), er ließ mehrfach Zeitungen verbieten2 , er unternahm nichts gegen die verbreitete Günstlingswirtschaft, er zeigte sich unfähig, den Gesetzentwurf zur Reform der Frauenrechte durchzubringen und musste schließlich im Parlament bekennen, dass der König in dieser Frage das letzte Wort habe. Mit alledem hat er Schwäche gezeit und den konservativen Kräften des Regimes in die Hände gespielt.

Was es für den Ausgang der kommenden Wahlen bedeuten mag, dass der 1997 geschlossenen bizarren Allianz zwischen Monarchie und Opposition der Erfolg versagt geblieben ist, lässt sich kaum einschätzen. Einer neu entstandenen linken Sammlungsbewegung außerhalb der Regierungsparteien ist es in kurzer Zeit gelungen, Kräfte der extremen Linken und die Vereinigte Sozialistische Linke (GSU) zu vereinen. Das könnte den Auftritt einer neuen Linken ankündigen, die sich auf die alten Ideale von Demokratie und Fortschritt beruft. Auch die geplante Gründung einer Partei durch altbewährte Aktivisten der USFP könnte dazu beitragen.

Dass die Machthaber dieser Entwicklung tatenlos zusehen werden, ist unwahrscheinlich. Denn die neue Linke zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Debatte über die königlichen Privilegien und die Konzentration der Macht wieder eröffnet hat und diese Verhältnisse als Ursache für Nepotismus und Misswirtschaft benennt. Zu diesem Thema wünscht die Monarchie keine Diskussion. Wer zu politischen Fernsehrunden eingeladen wird, erhält den deutlichen Hinweis, die Frage der Verfassungsreform nicht anzusprechen.

Zugleich bleibt die Bewegung al-Adl wal-Ihsan in Acht und Bann. Im Umgang mit dieser populärsten Richtung der Islamisten kannte das Regime kaum Rücksichten, denn auch die Anhänger von Scheich Yassine stellen die Verfassung in Frage: Sie erkennen den König nicht als „Führer der Gläubigen“ (amir al-muminin) an. Gleich nach der Freilassung ihres geistlichen Führers Yassine fand eine Reihe von Kommandoaktionen gegen ihre Druckereien statt, vermutlich gesteuert von den Sicherheitskräften. Auch nach dem Tod von Hassan II. wurde die Bewegung von den offiziellen Medien boykottiert, heute hat al-Adl wal-Ihsan praktisch keine Presseöffentlichkeit mehr. Anders als die offiziell zugelassenen und seit den Wahlen von 1997 im Parlament vertretenen Islamisten der „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (PJD), verfolgt die Al-Adl-wal-Ihsan-Führung eine Strategie des Abwartens; aber in jüngster Zeit deutet die Herausbildung politischer Zirkel innerhalb der Organisation darauf hin, dass es dabei nicht bleiben wird. Es scheint nicht mehr so undenkbar, dass diese von der Monarchie bekämpften Islamisten bei den Wahlen antreten.

Freie Wahlen sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Demokratie, weil sich nur so die Abgeordneten als eine soziale Gruppe konstituieren können, die selbstbewusst ihre Wähler vertritt und Forderungen stellt. Aber noch immer ist die – durch ein fragwürdiges Referendum abgesegnete – Verfassung in Kraft, die dem Parlament und der Regierung nur eine politische Nebenrolle zuweist.

Will man den Anspruch des Ministerpräsidenten ernst nehmen, mit der Bildung seiner Regierung sei der Übergang zur Demokratie eingeleitet worden, dann müsste das nächste Ziel eine neue Verfassung sein, die dem Gleichgewicht der politischen Gewalten verpflichtet ist. Lange Zeit gehörte dies zu den wichtigsten Forderungen der Partei von Abderrahmane Youssoufi – inzwischen ist davon leider nicht mehr die Rede. Die Entfremdung von der eigenen Anhängerschaft ist der Preis dafür, dass sich die linke Regierungskoalition auf das gefährliche Terrain der Kompromisse begeben hat, aus denen nur zu oft Konzessionen an die Monarchie wurden. Nun muss sie zusehen, wie der König das Tempo für Reformen vorgibt, von denen man nicht weiß, ob sie wirklich zu einer Demokratisierung führen werden. Aber das könnte sich ändern, sobald neue Kräfte aus den Reihen der Linken wie der Islamisten ihren politischen Auftritt wagen.

dt. Edgar Peinelt

* Herausgeber des Journal hebdomadaire (Rabat) und ehemaliger Herausgeber der seit 2000 verbotenen Tageszeitungen Le Journal und Assahifa (Casablanca).

Fußnoten: 1 Siehe Ignace Dalle, „Junger König im alten Trott“, und Francis Ghiles, „Harte Landung in der Weltwirtschaft“, Le Monde diplomatique, Juni 2001. 2 Siehe Aboubakr Jamaï, „Absolutistische Allüren“, Le Monde diplomatique, Januar 2001.

Le Monde diplomatique vom 13.09.2002, von ABOUBAKR JAMAÏ