13.09.2002

Monarchie und religiöser Populismus

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Monarchie und religiöser Populismus

Von JOHN P. ENTELIS *

AM 2. Juli 2002 hat die Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen, die UNDP, ihren Bericht über die Lage in den Staaten der arabischen Welt (Arab Human Development Report) veröffentlicht. Als Verfasser dieses Berichts zeichnen dreißig arabischen Wissenschaftler aus mehreren Ländern. Die Vertreter unterschiedlicher Disziplinen liefern eine einzigartig ungeschminkte Situationsbeschreibung. In seinen Schlussfolgerungen benennt der Report die Hauptdefizite der arabischen Gesellschaften: den Mangel an politischen Freiheiten, die Unterdrückung der Frauen und eine allgemeine geistige Abschottung, die kreatives Denken gar nicht erst zulasse.

Obwohl manche Regionen der arabischen Welt über große Erdölvorräte verfügen, ist diese als Wirtschaftsraum insgesamt eher schwach entwickelt. Ihre Produktivität ist in den vergangenen zwanzig Jahren auf ein Niveau gesunken, das kaum über dem der dürre- und seuchengeplagten Länder am südlichen Rand der Sahara liegt. Nur ein verschwindender Anteil des jeweiligen Staatshaushalts wird für Wissenschaft und Technologie aufgewendet. Die Angehörigen der gebildeten Schichten empfinden in fast allen arabischen Ländern die politischen und sozialen Verhältnisse als erstickend oder sogar repressiv, und viele von ihnen kehren deshalb ihrer Heimat den Rücken.

Der schwerwiegendste Befund der Studie lautet, dass die arabischen Frauen in fast allen Bereichen vom Fortschritt ausgeschlossen bleiben. So kann etwa jede zweite Frau weder lesen noch schreiben; und die Sterblichkeitsrate von Frauen im Kindbett liegt in den arabischen Ländern doppelt so hoch wie in Lateinamerika und viermal so hoch wie in Ostasien.

Zu den wenigen positiven Entwicklungen, die der UN-Report trotz aller Kritik und einer insgesamt pessimistischen Einschätzung nennt, gehören die „jüngsten demokratischen Reformen in Marokko“ und „die Erfolge marokkanischer Frauenorganisationen in ihrem Kampf gegen alte Tabus“1 . Unter Hassan II. und seinem Sohn Mohammed VI., der seit 1999 regiert, war Marokko offensichtlich bestrebt, sich als moderner, westlich orientierter Staat zu präsentieren, der im Zuge einer „angepassten Modernisierung“ eine perfekte Symbiose von traditioneller islamischer Kultur und den Anforderungen einer säkularen Gesellschaft ermöglichen will.

Marokko grenzt an Europa und ist ein beliebtes Urlaubsziel. Aber auch die frühen inoffiziellen Kontakte zu Israel (die sich zum Teil aus der besonderen Rolle der marokkanischen Juden im Mittelalter erklären) trugen dazu bei, das Image eines „zivilisierten“, innen- wie außenpolitisch gemäßigten und toleranten Staates aufzubauen.

Im Unterschied zu seinen arabischen Nachbarn hat es Marokko also geschafft, sich weltweit als ein vergleichsweise fortschrittliches Land darzustellen, das von sozialen Spannungen weitgehend frei und daher immun ist gegen islamistische und anderen radikale Bewegungen, wie man sie aus Algerien und vielen Teilen der arabisch-muslimischen Welt kennt. Auch dass der König zugleich geistlicher („Führer der Gläubigen“) und weltlicher Herrscher ist, trägt dazu bei, ein durch Kompromisse, Zusammenarbeit und Konsens legitimitiertes System zu festigen, in dem gewaltsame Auseinandersetzungen verpönt sind.

Deshalb gelten die Wahlen in diesem Monat als ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Demokratisierung. In diesen Prozess sind alle Parteien eingebunden – bis auf die eine, die vermutlich die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Hoffnungen der Bevölkerungsmehrheit besser repräsentiert als alle anderen: Die islamische Vereinigung al-Adl wal-Ihsan (Gerechtigkeit und Wohlfahrt) bleibt verboten. Ihr geistlicher und politischer Führer, Scheich Abdessalam Yassine, stand lange Zeit unter Hausarrest.

Wie verhält sich dieses sorgsam gepflegte Image zur Realität, den alltäglichen Erfahrungen und politischen Verhältnissen? Wie erklärt es sich, dass so viele Marrokkaner abwandern und illegal nach Europa zu gelangen versuchen, wo sie Arbeit oder einen Ort der Freiheit zu finden hoffen? Was hat es zu bedeuten, dass offenbar zahlreiche Marokkaner zum Netzwerk der al-Qaida gehören – darunter Zacarias Moussaoui, ein Franzose marokkanischer Herkunft, der gegenwärtig in den USA wegen Beteiligung an den Anschlägen des 11. September vor Gericht steht? Ein weiterer Marokkaner wurde kürzlich in Deutschland verhaftet: Abdleghani Mzoudi hatte mit Mohammed Atta zusammen gewohnt, dem Entführer eines der Flugzeuge, die ins World Trade Center stürzten. Zudem wurden im Juni die Attentatspläne einer Al-Qaida-Zelle in Marokko aufgedeckt.

Mit einer Großkundgebung am 7. April in Rabat, die offiziell zur Unterstützung der Palästinenser veranstaltet wurde, wollte die Staatsführung der Bevölkerung offenbar Gelegenheit geben, ihrem Hass gegen die Vereinigten Staaten und den Westen Luft zu machen – gegen eine Welt also, die sich gegen die Marokkaner verschworen hat. Aber kann ein Gemeinwesen als demokratisch gelten, das von einem Monarchen regiert wird, der sich als absoluter Herrscher in allen Fragen das letzte Wort vorbehält? Und darf man ein politisches System als demokratisch bezeichnen, das es genuinen Oppositionsbewegungungen verwehrt, die politischen Hoffnungen großer Bevölkerungsteile auszudrücken und sich an so genannten freien und unbeeinflussten Wahlen zu beteiligen? Genau so verfährt Marokko mit der Bewegung des Scheich Yassine.

Und auch das schöne Bild vom sozialen Fortschritt wird durch zahlreiche Fakten beeinträchtigt. Die Analphabetenrate liegt sehr hoch. Und der Missbrauch von Frauen ist ebenso verbreitet wie Kinderarbeit; häufig dienen Mädchen von nur sechs oder sieben Jahren als Hausangestellte, die allgemein fast wie Sklaven gehalten werden. Um das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit zu verstehen, muss man die sozialen Veränderungen bedenken, die das Land in den beiden letzten Jahrzehnten erlebt hat. Die heutige junge Generation ist mit einer unsicheren kulturellen Identität aufgewachsen, ist falschen Hoffnungen und überzogenen Erwartungen aufgesessen, hat massenhaft gebrochene Versprechen und politische Machenschaften erlebt. Auf den höchsten Ebenen der Politik sind Korruption und und Günstlingswirtschaft an der Tagesordnung – und an diesem Vorbild orientieren sich auch die weniger einflussreichen Schichten der Gesellschaft.

Trotz gewisser Anzeichen für Demokratisierung und eine politische „Wachablösung“ (die gegenwärtige Regierung bezeichnet sich als Kabinett des „einvernehmlichen Wechsels“) hält die herrschende Schicht Marokkos an ihrer traditionellen Kultur der Korruption, des Zynismus und der Arroganz fest. Das färbt natürlich auf die Umgangsformen und das politische Verhalten der Mittelschicht ab. In diesen Kreisen wird eine gute Ausbildung lediglich als Mittel gesehen, um sich materielle Privilegien und einen gehobenen sozialen Status zu sichern. Wer dagegen über keine akademische Ausbildung oder höhere Schulbildung verfügt, hat nur zwei Möglichkeiten: auswandern oder abgleiten in die Schattenwirtschaft jenseits der Legalität.

In diesem allgemeinen Klima der politischen Apathie und des Zynismus sind die Islamisten die einzige Ausnahme. Unter ihnen finden sich sehr gebildete Geister wie auch Menschen ohne jede Bildung. Ihre islamistische Orientierung – hier definiert als politisches Handeln, das Staat und Gesellschaft nach islamischen Vorstellungen zu verändern sucht – stellt für Marokko den ersten ernsthaften Versuch dar, tatsächlich mit der Vergangenheit zu brechen. Im Unterschied zu den übrigen ideologischen und politischen Richtungen – Nationalisten, Sozialisten, Kommunisten – verwerfen die Islamisten viele Grundwerte der herrschenden Elite, wie etwa Bikulturalität, Zweisprachigkeit, Säkularismus, Verwestlichung und den Herrschaftsanspruch der Sultane.

Die Botschaft von Scheich Yassine scheint klar: Politik soll die populären Wünsche in einer gesellschaftlich kohärenten und kulturell verträglichen Form zum Ausdruck bringen. Die Islamisten sind Menschen, die innermarokkanische Grenzen – zwischen den Generationen, den Geschlechtern und den Regionen – überbrücken können und mit ihrem Diskurs und ihrem Programm den Status quo in Frage stellen. Sie mögen noch nicht die Mehrheit unter den jungen Erwachsenen stellen, aber ihre politischen Überzeugungen, ihre Entschlossenheit und ihre Tatkraft haben ihnen Achtung verschafft – aber auch Ängste erzeugt. Obwohl ihr Programm in vielem vage bleibt, ist ihre Fähigkeit zu gesellschaftlichen Mobilisierung in der Tat beeindruckend.

Ohne die Repressionsmaßnahmen des Regimes wäre der Islamismus noch weiter verbreitet. In ihrem Bemühen, den Islamisten jede politische Artikulationsmöglichkeit zu nehmen, haben die Machthaber allerdings jeglichen politischen Spielraum abgeschafft. Das Resultat ist allgemeine Gleichgültigkeit und Misstrauen: Im Juli 1998 veröffentlichte die in Rabat erscheinende Zeitung Le Journal eine Studie, nach der nur 3,1 Prozent der Marokkaner Vertrauen in die Politiker haben und nur 3,9 Prozent in die Polizei.3

Knapp vier Jahre später ergab die Umfrage einer Zeitung, dass neun von zehn Befragten weder den Namen noch die ideologische Orientierung auch nur einer politischen Partei kannten.4 Nur eine islamistische Partei darf zur Wahl antreten, die „legale“ Gruppierung al-Tawhid wal-Islah (Einheit und Reform). Aber diese Bewegung unter ihrem Führer Abdelillah Benkirane genießt nicht denselben Respekt wie Yassines al-Adl wal-Ihsan (Gerechtigkeit und Wohlfahrt) und hat nicht so viele Anhänger. Abdessalam Yassine ist als religiöser Führer hoch angesehen. Wie seinen Kollegen Madani von der algerischen FIS und Ghannouchi aus Tunesien, wird dem 74-Jährigen eine „spirituelle Aura“ bescheinigt; sein Äußeres erinnert Beobachter eher an einen gütigen Großvater als an einen religiösen Fanatiker.5

Scheich Yassine und die Islamisierung der Moderne

YASSINE hatte schon 1974 Aufsehen erregt, als er König Hassan II. in einem offenen Brief mit dem Titel „Der Islam oder die Sintflut?“ mit dem Zorn Gottes drohte, falls er nicht auf den Pfad der Tugend zurückkehre. 1981 publizierte er (auf Französisch) „Die Revolution im Zeitalter des Islam“ (La Révolution à l‘Heure de l‘Islam). In dieser Kampfschrift, die er als Appell verstanden haben wollte, schrieb er einleitend, es gehe ihm um die „Islamisierung der Moderne und nicht um die Modernisierung des Islam“. Er sieht die „große Herausforderung“ darin, die dschahilija6 zu überwinden, jene heidnische „Welt, in der Unwissenheit, Gewalt und Selbstsucht herrschen, eine Welt ohne jegliche geistlichen Grundsätze“. Damit sind alle nichtmuslimischen Gesellschaften gemeint, die unter westlichem Einfluss stehen.7

Nach Yassines Überzeugung brauchen die Gesellschaften der dschahilija neue Machthaber, die eine „islamische Demokratie“ einführen, ein System in dem „die Weisen statt die Schlauen“ regieren. Drei Grundsätze sollen die neue Ordnung bestimmen: Die Rückkehr der Gerechtigkeit durch das Gesetz, die Erneuerung der Moral durch die Erziehung und die Renaissance der hisba (der Autorität zur Durchsetzung des Sittengesetzes). Die islamische Demokratie soll repräsentativ sein (Wahlverfahren auf allen Ebenen), aber sie soll auch Verantwortung bedeuten, einschließlich Kontrolle und Bestrafung. Grundsätzlich sind politische Mitbestimmung und Mehrheitsprinzip vorgesehen. Die dschahilija kann allein durch den dschihad bekämpft werden – doch damit ist nicht Gewalt, sondern Handeln gemeint. Unter dschihad wird damit weniger eine militärische Auseinandersetzung mit dem Feind verstanden, als vielmehr das Bemühen um „Bildung und politisches Handeln, so lange bis die Vorstellungen und Gewohnheiten der dschahilija vollständig überwunden sind“.

Da Yassines Gefolgsleute nicht über ein Netz von Moscheen zur Verbreitung ihrer Botschaft verfügen, setzen sie auf Mundpropaganda, Audiokassetten, Internet, Zeitungen und Zeitschriften in kleiner Auflage, sowie auf die Hilfe muslimischer Gemeinden im Ausland. Sogar in den USA können sie sich Gehör verschaffen, weil marokkanische Studenten, beispielsweise an der Universität von Iowa, sich sehr rührig um die Verbreitung der Ideen und Schriften von Scheich Yassine kümmern.

Während die Kluft zwischen dem Selbstbild Marokkos und der Realität größer wird, sind inzwischen alle Voraussetzungen gegeben, die zu einer Explosion politischer Gewalt führen können: ungeheure wirtschaftliche Probleme; existenzielle Verunsicherung bei den jugendlichen Arbeitslosen, die in den Großstädten unter elenden Bedingungen leben; miserable Aussichten für Schüler und Studenten, nach Abschluss ihrer Ausbildung eine angemessene Beschäftigung zu finden. Für die Konservativen, die Traditionalisten und die streng Gläubigen sind die westlich geprägte Unterhaltungsindustrie, Film, Fernsehen, Musik und Literatur, aber auch der Tourismus eine ständige ethische und kulturelle Herausforderung.

Der populistische Islam – der nicht nur eine religiöse, sondern auch eine ethisch-kulturelle und politische Botschaft verbreitet – weckt bei vielen Menschen die Hoffnung auf Veränderungen in allen Bereichen. Diese Bewegung wird das Denken der Jungen und der Armen in den Städten weiterhin beeinflussen, und zwar nicht nur durch Predigen, sondern auch durch zahlreiche soziale Dienste und Hilfsangebote: Jobs und Wohnungen, medizinische Versorgung, billige Lebensmittel und Schülerbetreuung.

Sollte der diskreditierte Staat versuchen, diese populistische Strategie zu durchkreuzen, könnte das andere, radikalere Lösungen begünstigen. Zum Beispiel Gruppierungen, die ideologisch und politisch ihren Rückhalt bei Organisationen wie der al-Qaida finden.

dt. Edgar Peinelt

* Politologe, Leiter der Forschungsabteilung Middle East Studies an der Fordham University (New York), Herausgeber des Journal of North African Studies (London, Frank Cass).

Fußnoten: 1 The New York Times, 4. Juli 2002. 2 Siehe Pierre Vermeren, „Schiffbruch der Illusionen“, Le Monde diplomatique, Juni 2002. 3 „Morocco“, Economic Intelligences Unit, London, 4. Quartal 1998. 4 Le Monde, 3. Dezember 2001. 5 Siehe Henry Munson jr., „Religion and Power in Morocco“, New Haven (Yale University Press) 1993. 6 Die heidnische vorislamische Zeit. 7 Jean Claude Vatin, „Seduction and Sedition: Islamic Polemical Discourses in the Maghreb“, in: William R. Roff (Hg.), „Islam and the Political Economy of Meaning, Comparative Studies of Muslim Discourse“, Berkeley (University of California Press) 1987.

Le Monde diplomatique vom 13.09.2002, von JOHN P. ENTELIS