13.09.2002

Die Unbelehrbaren

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Die Unbelehrbaren

MIT der Deregulierung der Telekommunikation sollten neue Champions der Weltwirtschaft geschaffen, mit den Krediten des Internationalen Währungsfonds sollte der Wohlstand Lateinamerikas gesichert werden. Diese Hoffnungen haben sich mit einer Serie von Börsenkrächen und mit der anhaltenden Finanzkrise in Brasilien, Argentinien und Uruguay verflüchtigt. Alle paar Jahre platzt eine neue Spekulationsblase, die an der Börse Unwetter mit verheerenden Folgen auslöst. Die Heilmittel für diese periodisch auftretenden Krankheiten verschreiben allerdings ungeniert dieselben Leuten, die zum Ausbruch der Epidemie kräftig beigetragen haben.

Von SERGE HALIMI

In der Vereinigten Staaten macht der Vergleich mit den „Robber Barons“ des beginnenden 20. Jahrhunderts die Runde. Auch sie, die ihr Vermögen mit schmutzigen Geschäften, forcierter Ausbeutung und blutig niedergeschlagenen Aufständen scheffelten, rühmten sich ihres Kunstsinns, ihrer philanthropischen Neigungen, ihrer Sorge ums Gemeinwohl. Und auch sie gingen, wenn sie Pleite machten, den Staat um Hilfe an.

Stellen wir uns nun eine zweispaltige Tabelle vor, die in der ersten Spalte die Diagnose, in der zweiten das Heilmittel auflistet. In der ersten Spalte finden sich die jüngsten Entdeckungen der Leitartikler und Regierenden, die sich über die Folgen ebenjener neoliberalen Dogmen echauffieren, die sie noch vor wenigen Monaten bejubelt haben: monumentale Bilanzfälschungen in den USA, Massenelend in Argentinien, Bankrott führender Telekommunikationsmultis, Demontage aufgeblasener Unternehmensführer, die glaubten, über alles und jedes eine Meinung haben zu müssen.1

Die zweite Spalte enthält eine Liste der ökonomischen Rezepturen, die die Entscheidungsträger ausgebrütet haben und die ihre Trommler durch die Medien pauken: Dem ausgebluteten Lateinamerika wird eine weitere Rosskur verschrieben; den westlichen Großbanken, die sich nicht aus Lust am Abenteuer, sondern aus Liebe zu den erhofften „Risikoprämien“ in „Risikoländern“ engagierten, soll der Internationale Währungsfonds (IWF) mit „Darlehen“ unter die Arme greifen; den Reichen werden zum x-ten Mal die Steuern gekürzt, um sie unternehmungslustiger (und weniger betrügerisch) zu stimmen; den Arbeitslosen (in Spanien, in Deutschland) wird abermals die Hilfe gestutzt.

Was die beiden Spalten zeigen, ist weniger Schizophrenie als Amnesie und Irrationalität. Da die Gegner der kapitalistischen Globalisierung weder eine Perspektive noch eine Massenbasis vorzuweisen haben und die institutionelle Linke sich der Flickschusterei am bestehenden System verschrieben hat, hat jedes Stottern des Systems nur zur Folge, dass es sich weiter verhärtet. Wenn die Entscheidungsmacht über Lösungsmöglichkeiten in den Händen desjenigen liegt, der für das Problem maßgeblich verantwortlich ist, reduziert sich die Lösung häufig auf eine Neuauflage des gescheiterten Konzepts. Der IWF hat sich dieses Procedere nachgerade zum Motto erkoren.

Vor einigen Monate vertraute Francis Mer, damals noch Chef des französischen Stahlkonzerns Usinor, seinen Aktionären an: „Niemand hat die weltweiten Entwicklungen in der Hand. Wahrscheinlich wird das kein gutes Ende nehmen. Die Organisation einer Welt ohne Regeln wird nicht von langer Dauer sein.“ Inzwischen ist Herr Mer in Paris Minister für Wirtschaft, Finanzen und Industrie. Welches Heilmittel hat er sich ausgedacht, um der Regellosigkeit zu begegnen, die der entreglementierte Kapitalismus hervorbrachte? Eine abermalige Privatisierungswelle, damit beispielsweise Air France ihre beunruhigend gute Gesundheit dadurch kuriert, dass man ihr den rechtlichen Status von abstürzenden Fluggesellschaften (Swissair, Air Liberté, United Airlines) verschreibt. Molières Ärzte kannten als Heilmittel nur den Aderlass. Sie blieben Ärzte, ihre Patienten starben.

Die aktuelle Situation an der Wall Street, in Buenos Aires und Montevideo erinnern in mancher Hinsicht an die vor vier Jahren.2 Mit dem Unterschied, dass die damaligen „Robber Barons“ eher Russen waren und die finanzielle Unwetterzone Asien hieß. Von „schmerzlichen Anpassungsprozessen“ war damals die Rede, von ansteckender Deflation und platzenden Spekulationsblasen, von „einer der größten Wertvernichtungen der Geschichte“. Das Wirtschaftsmagazin Business Week verkündete auf der Titelseite: „Russland: wenn die Märkte scheitern“. Die Leitartikler der Financial Times läuteten die Alarmglocke: „Gefahr für die Globalisierung“, „Countdown zum Crash“. Die Washington Post wollte gar „den Kapitalismus neu denken“.

Die „strahlende Zukunft“ als Seifenblase

DOCH IWF-Direktor Michel Camdessus, der Unerschütterliche, verkündete im Brustton der Überzeugung: „Das Ökonomen-Team des IWF ist mit Sicherheit das beste der Welt, weil es normal ist, dass die Welt sich das leistet. […] Unsere Empfehlungen waren richtig, aber sie wurden falsch umgesetzt.“ Und der Chefökonom der Weltbank, vormals Berater von Präsident Clinton, versicherte im Hinblick auf Lateinamerika beruhigend: „Die Fundamentaldaten sind gut. Eine strahlende Zukunft steht bevor.“ Der Mann hieß Joseph Stiglitz, und zumindest er hat inzwischen dazugelernt.

Indes, die Angst ging um, und so erklärten alle, es sei Zeit zu handeln. Also machte man sich unverzüglich ans Werk – und unternahm nichts. Japan deflationierte (Japan deflationiert noch immer), Indonesien büßte mit IWF-Hilfe 15 Prozent seines Bruttosozialprodukts ein (und hat das bis heute nicht aufgeholt). Das „asiatische Wunder“ war also tot? Na schön, es lebe das „Internet-Wunder“!

Eines Tages wird jemand den Roman dieses vorerst letzten Hypes schreiben, die Geschichte der Medien und Unternehmensführer, die ihn anheizten, um ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen.3 Nun ist auch diese Seifenblase geplatzt. Eine andere wird folgen, und dann noch eine. Einstweilen aber tritt das allseitige Gejammere im Lumpengewand vorgeblicher Hellsichtigkeit auf. Jean-Marie Messiers, Direktor des Wochenmagazins Express (Gruppe Vivendi Universal), wähnt „den Kapitalismus vom Zusammenbruch bedroht“ und entdeckt einen „Teufelskreis schnell zirkulierenden Geldes“, was „gegen den gesunden Menschenverstand ist“, „die Entwicklung kompromittiert“ und „spekulative Blasen wirft“. Der zum Berater der französischen Arbeitgeber mutierte ehemalige Maoist François Ewald zieht ebenfalls vom Leder – gegen „einen verblüfften, verdutzten Kapitalismus, der nicht mehr weiß, wohin er geht, einen Kapitalismus, den offenbar niemand in den Griff bekommt, ein steuerloses Schiff, das den Hafen nicht mehr findet“. Le Monde schließlich kommentiert mit einem lobenswerten Sinn für Understatement: „Die in den Neunzigerjahren unter der Leitung des IWF in Gang gesetzte Welle neoliberaler Reformen – Privatisierungen und Öffnung der Wirtschaft – hat den erhofften Wohlstand nicht gebracht.“4 Es kommt eben doch alles ans Licht.

Die jüngste Kritik ist zu streng. Oder nicht streng genug. Denn Zigmillionen Angehörige des westlichen Mittelstands haben sehr wohl den „erhofften Wohlstand“ erfahren dürfen – und genießen ihn nach wie vor. Der Kreis der Profiteure umfasst keineswegs nur den kleinen Kern der Barone aus Medien, Kommunikation und Industrie, der IWF-„Experten“ und korrupten Regierungsvertreter. Also nicht nur die sprichwörtlichen schwarzen Schafe, die man nur zu scheren braucht, um von vorn anfangen zu können, mit einem Fourtou an Stelle eines Messier, einem bürgernahen Liberalen an Stelle eines Marktsozialisten.

Millionen von Anlegern haben ihre Aktien verkauft, bevor die Kurse purzelten, und dabei – auch über ihre Pensionsfonds – so unglaubliche wie unverdiente Gewinne eingesackt. Zweistellige Renditen erwarteten die „Pensionäre“ für ihre Anlagen, und das Management, das solche Erwartungen zu realisieren hatte, ging nicht zimperlich zu Werke, um den erhofften Profit aus Belegschaft und Zulieferern herauszupressen. Zigmillionen Börsenjobber wollten lieber nicht wissen, auf wessen Kosten ihre Profite zustande kamen. Nur an eines wollten sie glauben: dass das Fest ewig dauern möge, dass ihr Lebensweg mit Geld gepflastert sei, das ihnen im Schlaf gegeben wird. Sie leiden? Unser Mitgefühl bleibt anderen, akuteren Schmerzen vorbehalten.

Blicken wir zum Beispiel nach Lateinamerika. Dort ist offenbar alles beim Alten. Schon vor drei Jahren schrieb Business Week in seiner Ausgabe vom 1. Februar: „Der 42-Milliarden-Dollar-Damm, mit dem der IWF Brasilien vor dem Finanzchaos retten wollte, hat nachgegeben […] Aufgrund der vom IWF verordneten Sparmaßnahmen haben sich die Schuldenprobleme in eine wirtschaftliche Katastrophe verwandelt.“5

Dieselbe Analyse trifft heute auf Argentinien zu. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen des einstigen Musterschülers in der Neoliberalismus-Klasse ist in den letzten Jahren auf ein Drittel gesunken. Ein solches Debakel, das die Große Depression der Dreißigerjahre in den Vereinigten Staaten bei weitem in den Schatten stellt, wäre in den Medien sicher ein wenig ausführlicher kommentiert worden, wenn Argentinien eine linke Wirtschaftspolitik verfolgt hätte.

„Das Geld amerikanischer Steuerzahlers zum Fenster politischer Unwägbarkeiten hinauszuwerfen scheint mir nicht brillant“, meinte im Juni dieses Jahres US-Finanzminister Paul O‘Neill zu einem (neuerlichen) Hilfsersuchen Brasiliens an den Internationalen Währungsfonds. Der Minister änderte seine Ansicht. Schließlich kommt das „Darlehen“ in Höhe von 30 Milliarden Dollar in erster Linie den westlichen Investoren zugute, darunter der Multi Alcoa, dem O‘Neill vor nicht allzu langer Zeit als Präsident vorstand. In den Favelas von Rio löste die IWF-Entscheidung keine Freude aus, dafür reagierten die Börsenwerte der Banken ABN Amro (Niederlande), HSBC (Großbritannien), Banco Santander (Spanien), nicht zu vergessen Goldman Sachs, FleetBoston und die Citigroup, mit unverhohlener Euphorie. Die Papiere der Citigroup, mit 9,7 Milliarden Dollar der wichtigste Gläubiger Brasiliens, legten allein am 7. August 6 Prozent zu. Der derzeitige Direktor der Bank, Robert Rubin, war Finanzminister in der Clinton-Regierung und hat in dieser Eigenschaft 1998 die damaligen „Rettungspläne“ des IWF ausgeheckt. Zuvor war er Kopräsident des Bankhauses Goldman Sachs.

Jedenfalls hat O‘Neill keinen Grund mehr, „politische Unwägbarkeiten“ zu fürchten: 80 Prozent der bewilligten Kredite werden erst nach den brasilianischen Präsidentschaftswahlen überwiesen. Das Wall Street Journal erklärt mit der entwaffnenden Treuherzigkeit, die seinen Charme ausmacht: „Das IWF-Darlehen ist so strukturiert, dass die in Meinungsumfragen favorisierten Linkskandidaten Luiz Inácio ‚Lula‘ da Silva und Ciro Gomes die konservative Wirtschaftspolitik des scheidenden Präsidenten Fernando Henrique Cardoso werden fortführen müssen.“6

Und als wäre dies nicht genug, schraubt jede weitere für das konservative Lager enttäuschend ausfallende Meinungsumfrage die brasilianischen Zinssätze und damit die Schuldenlast des Landes weiter in die Höhe – die Zinslasten liegen bald bei 25 Prozent (gegenüber 1,75 Prozent in den USA und 0,15 Prozent in Japan).7 Die Sache ist festgezurrt, der brasilianische Wähler gewarnt: Nicht nur, dass seine Stimmentscheidung im Oktober kaum mehr zählt, auch jede Anwandlung von Protest wird ihm nun postwendend in Rechnung gestellt. Der ehemalige Finanzminister Brasiliens Delfim Netto resümiert: „Die beiden großen Institutionen des beginnenden Jahrhunderts sind der Markt und die Wahlurne. Benimmt sich eine von beiden daneben, steht die andere bereit, Korrekturen anzubringen.“8 Seit geraumer Zeit „korrigiert“ eher der Markt als die Urne.

Doch Präsidentschaftskandidat Ciro Gomes bleibt hartnäckig: Er werde sich „dem Willen des Kapitals, der Banken und der Medien nicht beugen“. Damit unterstreicht er verdienstvollerweise, dass die Partei der Presse und die Partei des Geldes inzwischen eine und dieselbe sind. Denn zwischen den Lügenfabriken Venezuelas und den Verkaufsmaschinen Europas oder der Vereinigten Staaten herrscht nur noch ein gradueller Unterschied.

Zu beobachten war dies jüngst an der Internetblase, die man mit dem Helium dümmlich faszinierter Reportagen über die „Neue Ökonomie“ aufpumpte. Dümmlich fasziniert, aber auch finanziell interessiert: Schließlich kam die Deregulierung des Telekommunikationssektors durch den Staat auch den börsennotierten Medien zugute, deren Werbeeinnahmen sich ebenso vervielfacht haben wie der Marktwert ihrer Webseiten – und die entsprechenden Aktienoptionen für gewisse Journalisten.

Dass Leute wie Mer, O‘Neill und Rubin ständig zwischen dem Sessel des Finanzministers und des Konzernchefs wechseln, macht eine weitere, schon bisher höchst fadenscheinige Unterscheidung hinfällig: die Differenz zwischen Regierungen und Markt. Arminio Fraga managte die Firmengelder von George Soros, bevor er die Leitung der brasilianischen Zentralbank übernahm. Der italienische Ministerpräsident und Außenminister Silvio Berlusconi ist der reichste Mann des Landes und Eigentümer von drei der sieben landesweiten Fernsehsender. Der französische Sozialist Laurent Fabius spielte vor zwei Jahren mit dem Gedanken, den Vorsitz der Nationalversammlung gegen den Direktorenposten beim Internationalen Währungsfonds einzutauschen.

Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Dabei könnte sich herausstellen, dass die Heilmittel für die aktuelle Krise bereits gefunden sind. „Wenn der Markt endlich Ehrlichkeit, Transparenz und die Prinzipien von Good Corporate Governance honoriert“, erklärt das Wirtschaftsmagazin The Economist, „werden die Unternehmensführer rasch versuchen, diese Eigenschaften auszubilden.“10 Da können wir ja beruhigt sein.

dt. Bodo Schulze

Fußnoten: 1 Jean-Marie Messier von Vivendi Universal, Ron Sommer von der Deutschen Telekom, Robert Pittman von AOL und Thomas Middelhoff von Bertelsmann mussten zwischen dem 3. und dem 29. Juli ihren Hut nehmen. Herr Bon hingegen wartet zuversichtlich auf „den Tag, an dem der Markt die Augen öffnet“. 2 Dazu Serge Halimi, „System Error!“, Le Monde diplomatique, Oktober 1998. Wenn nicht anders vermerkt, wurden die folgenden Zitate in diesem Artikel nachgewiesen. 3 Tom Frank erinnert an die wahnwitzigsten amerikanischen Äußerungen aus dieser Zeit, in „Talking Bull“, The Guardian Weekend, 17. August 2002. Wer einen der Höhepunkte des Internet-Hypes in Frankreich genießen will, möge sich das Dossier „La gener@tion.net prend le pouvoir“ zu Gemüte führen, das am 8. Juni 2000 im Nouvel Observateur erschien. 4 Zitate aus (in dieser Reihenfolge): L‘Express, 1. August 2002; Les Échos, 6. August 2002; Le Monde, 6. August 2002. 5 Angesichts dieses Präzedenzfalls kann man sich bei der Lektüre folgender Artikelüberschriften nur verwundert die Augen reiben: „Der IWF eilt Brasilien zu Hilfe“ (Le Figaro, 9. August 2002), „Brasilien scheint durch die IWF-Sonderhilfe wieder flott zu sein“ (Le Monde, 10. August 2002), „Der IWF hilft einmal mehr“ (Time, 19. August 2002). 6 The Wall Street Journal Europe, 14. August 2002. 7 Der IWF knüpft weitere Darlehen an Brasilien an einen „Primärüberschuss“ [sic] von 3,75 Prozent des BSP. Da die Zinszahlungen in dieser Maßzahl des Staatsfinanzierungssaldos nicht enthalten sind, reserviert sich der IWF ipso facto den Betrag, der zur Rückzahlung der Kredite nötig ist. 8 La Tribune, 9. August 2002. 9 The Economist, 17. August 2002

Le Monde diplomatique vom 13.09.2002, von SERGE HALIMI