11.10.2002

Hören Sie auf den Pianisten

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Hören Sie auf den Pianisten

ENDE September fand die Jahreskonferenz des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank in Washington statt, die aus Angst vor Protestdemonstrationen allerdings auf zwei Tage verkürzt worden war. Die Schuldenkrise in Argentinien und Brasilien und die zunehmende Armut in den Ländern der Dritten Welt haben gezeigt, dass die neoliberalen Rezepte den Menschen in den Schuldnerländern nicht viel helfen. Inzwischen kommt sogar Weltbankchef James Wolfensohn ins Grübeln. Er hat ein Organigramm vorgelegt, das eine neue Abteilung vorsieht. Dieses „Social Board“ hat jedoch leider keinerlei Entscheidungsbefugnisse.

Von JEAN ZIEGLER *

Das goldene Zeitalter der Weltbank währte vom Ende der Sechziger- bis zum Beginn der Achtzigerjahre.1 Von 1968 bis 1981 stand die Organisation unter Leitung von Robert McNamara, dem ehemaligen US-Verteidigungsminister unter den Präsidenten Kennedy und Johnson. In der McNamara-Ära stieg das jährliche Kreditvolumen der Weltbank von 1 Milliarde auf 13 Milliarden Dollar, das Personal wurde auf das Vierfache aufgestockt, das Verwaltungsbudget wuchs um 250 Prozent.

Mit Unterstützung seines Schatzmeisters Eugène Rotberg gelang es McNamara, an einigen nationalen Kapitalmärkten insgesamt 100 Milliarden Dollar aufzunehmen. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass ein Großteil der Summe von Schweizer Banken stammte. Also von Finanzinstitutionen, die den Löwenanteil der Reichtümer hüten, welche die parasitären Klassen der Dritten Welt beiseite geschafft haben.

Schenkt man Jerry Mander2 Glauben, so hat der Weltbankchef McNamara mehr Menschen auf dem Gewissen als der US-Verteidigungsminister McNamara, der unter anderem für die Massaker in Vietnam verantwortlich war. Jerry Mander porträtiert McNamara wie folgt: „Weil er sich seiner Rolle im Vietnamkrieg schämte, wollte er alles wieder gutmachen, indem er den Armen der Dritten Welt Hilfe leistete. Seine Arbeit packte er an wie ein ordentlicher Technokrat und mit der Arroganz eines Überzeugungstäters. In seinem Buch ‚Vietnam – das Trauma einer Weltmacht‘3 schrieb er: ‚Ich sehe in der Quantifizierung eine Sprache, die dem Denken Präzision verleiht.‘ In seinem Vertrauen auf Zahlen nötigte McNamara die Länder der Dritten Welt, die Konditionen zu akzeptieren, die die Weltbank mit ihren Darlehen verknüpfte. Er forderte sie auf, ihre traditionelle Wirtschaft umzubauen, um die ökonomische Spezialisierung voranzutreiben und den Welthandel zu maximieren. Wer sich widersetzte, wurde seinem Schicksal überlassen.“ Das Resultat dieses Wirkens beschreibt Jerry Mander so: „Auf sein Drängen hin blieb vielen Ländern keine andere Wahl, als sich unter das Joch der Weltbank zu beugen.“

Der derzeitige Weltbankpräsident ist ein 68-jähriger Australier mit weißem Haar, mit Augen von schöner Traurigkeit und mit dem Namen James Wolfensohn. Ein außergewöhnlicher Mann mit außergewöhnlichen Talenten. Der ehemalige Wall-Street-Banker ist Multimilliardär und bekennender Ideologe und Imperialist, aber auch eine Künstlernatur: Der ausgebildete Klavierspieler übt sich mittlerweile am Violoncello und tut sich als fleißiger Buchautor hervor. Sein Spitzname: „Der Pianist“.

Während die Söldner der Welthandelsorganisation (WTO) über das ungehinderte Fließen der Handelsströme wachen, sind ihre Kollegen bei der Weltbank und beim Internationalen Währungsfonds (IWF) für die Finanzströme zuständig. IWF und Weltbank sind die wichtigsten Institutionen des so genannten Bretton-Woods-Abkommens4 . Die Bezeichnung „Weltbank“ ist übrigens ungenau, ihr Name lautet offiziell „The World Bank Group“. Sie umfasst die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (IBRD), die Internationale Entwicklungsorganisation (IDA), die Internationale Finanz-Korporation (IFC), die Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur (MIGA) sowie das Internationale Zentrum für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID).

In den Veröffentlichungen der Weltbank-Gruppe ist die Bezeichnung „Weltbank“ der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und der Internationalen Entwicklungsorganisation vorbehalten. Die drei anderen Institutionen der Gruppe nehmen begrenzte Aufgaben wahr, die für unser Thema nur am Rande von Bedeutung sind. Die World Bank Group beschäftigt gut 10 000 Angestellte. Von allen internationalen Organisationen informiert sie – mit einem unablässigen Strom von Statistiken, Broschüren und theoretischen Analysen – wahrscheinlich die Öffentlichkeit am vollständigsten über ihre Strategien, Absichten und Aktivitäten.

Die Weltbank übt eine immense Macht über den Planeten aus und verfolgt vielfältige Aktivitäten von prometheischen Dimensionen. Nur sie stellt den ärmsten Ländern heute noch Kredite zur Verfügung. In den letzten zehn Jahren hat sie den Ländern der Dritten Welt über 225 Milliarden Dollar an langfristigen Darlehen bewilligt. Ihre Investitionskredite finanzieren vor allem Infrastrukturprojekte. In besonders armen Ländern deckt sie auch einen Teil des Haushaltsdefizits ab, wie etwa in Niger. Zudem finanziert sie laufend hunderte von Entwicklungsprojekten.

Banktechnisch gesehen, spielt die Organisation heute überall den letzten Retter, ist also „Lender of Last Resort“. In dieser Eigenschaft kann sie ihren Gläubigern diktieren, was immer ihr angemessen erscheint. Wer außer der Weltbank wäre heute bereit, Ländern wie Tschad, Honduras, Malawi, Nordkorea oder Afghanistan auch nur den kleinsten Kredit zu gewähren?

Mit der Wall Street unterhält die Weltbank eine nachgerade strategische Allianz. So hat sie wiederholt Finanzinstitute gerettet, die unvorsichtig genug waren, sich in fernen Kontinenten auf Spekulationsgeschäfte einzulassen. In ihrer alltäglichen Praxis funktioniert die Weltbank nach strikt banktechnischen Kriterien. Ihre Charta verbietet ausdrücklich jede Bindung der Kreditvergabe an politische oder sonstige Bedingungen. Dennoch ist ihre Praxis maßgeblich von einem totalisierenden Konzept bestimmt, das nicht etwa bankwirtschaftlich, sondern ideologisch geprägt ist – nämlich durch den „Washington Consensus“.

Die Weltbank veröffentlicht alljährlich eine Art Katechismus mit dem Titel „The World Development Report“. Die Publikation genießt in universitären und UNO-Kreisen auf breiter Basis Autorität. Sie legt die großen Themen fest, die die einzelnen UN-Organisationen, die Universitäten und auch die Öffentlichkeit für einige Zeit beschäftigen werden. Der Bericht trägt die persönliche Note von James Wolfensohn. Die Ausgabe von 2001 beginnt mit einem Bekenntnis: „Armut in einer reichen Welt ist für die Menschheit die größte Herausforderung.“5 Die Ideologen der Weltbank demonstrieren immer wieder eine bewundernswerte theoretische Flexibilität. Trotz der offenkundigen Misserfolge ihrer Institution haben sie in den vergangenen fünfzig Jahren reihenweise Theorien gezimmert, die ihr Handeln rechtfertigen sollen. Diese Ideologen haben auf alles eine Antwort.

Wachstum gleich Glück für alle

ZU McNamaras Zeiten setzte die Weltbank vorzugsweise auf die Wachstumstheorie nach der Gleichung: Wachstum = Fortschritt = Entwicklung = Glück für alle. Dann kam die erste Welle der Kritik, die namentlich der Club of Rome mit seiner Denkschrift „Grenzen des Wachstums“ vortrug, in der er den Leitsatz artikulierte: „Unbegrenztes Wachstum zerstört den Planeten.“ Die Theoretiker der Weltbank reagierten postwendend: „Wie Recht ihr habt, verehrte Gelehrte! Die Weltbank stimmt euch zu. Ab sofort wird sie die ‚integrierte Entwicklung‘ vorantreiben.“ Sollte bedeuten: Sie berücksichtigt nicht mehr nur das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts der betreffenden Länder, sondern untersucht auch die Folgen des Wachstums auf andere Bereiche der Gesellschaft. Die Weltbank stellte sich also Fragen wie: Ist das Wachstum ausgewogen? Wie wirkt sich das Wachstum auf die inländische Vermögensverteilung aus? Birgt ein zu rasches Wachstum des Energieverbrauchs eines Landes nicht die Gefahr, dass die globalen Energiereserven überbeansprucht werden könnten?

Dann übten zwei weitere Expertengruppen Kritik am zügellosen Kapitalismus, die eine unter Vorsitz von Gro Harlem Brundtland, die andere unter Leitung von Willy Brandt. Die Kritiker wandten sich gegen den „Ökonomismus“ der Weltbank. Sie forderten die Berücksichtigung weiterer, nicht ökonomischer Entwicklungsparameter, wie Bildung, Gesundheit, Achtung der Menschenrechte, und hielten der Weltbank vor, solche Faktoren nicht einzukalkulieren. Die Bank reagierte prompt und produzierte eine großartige Theorie über die Notwendigkeit „menschlicher Entwicklung“.

Eine neue Phase des Protests begann, als die Ökologiebewegung in ganz Europa und Nordamerika an Einfluss gewann. Um die Produktivkräfte einer Gesellschaft zu fördern, so die Ökologen, genüge es eben nicht, gebannt auf die klassischen Indikatoren oder die üblichen Parameter der menschlichen Entwicklung zu starren. Vielmehr müsse man – zumal hinsichtlich der Umwelt – auch die langfristigen Folgen der so genannten Entwicklungsförderung beachten. Die Ideologen spürten sogleich, dass der Wind sich drehte – und präsentierten sich als radikale Fürsprecher einer „nachhaltigen Entwicklung“ (sustainable development).

1993 fand in Wien die UN-Menschenrechtskonferenz statt. Gegen den Widerstand der Amerikaner und mancher Europäer setzten die Nationen der Dritten Welt durch, dass die „wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte“ künftig anerkannt werden sollten. Das war eine wahre Revolution, die den Hinweis beherzigt, dass sich ein Analphabet einen Teufel um die Pressefreiheit schert. James Wolfensohn reagierte, indem er rasch einen Report nach dem anderen vorlegte, der jeweils von allerlei Verlautbarungen begleitet war. Die Weltbank, meinte er mit der größten Selbstverständlichkeit, setze sich an vorderster Front für die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ein. Anlässlich der Tagung von IWF und Weltbank Ende September 2000 in Prag hielt „der Pianist“ sogar eine bewegende Rede zum Thema.

Die jüngste geistige Pirouette des organischen Weltbank-Intellektuellen6 ist das „empowered development“: die Opfer der Unterentwicklung sollen an den wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsbemühungen teilhaben. Doch keine dieser zahllosen Absichtserklärungen konnte auf Dauer die offenkundige Tatsache kaschieren, dass die Weltbank mit allen ihren „Entwicklungsstrategien“ kläglich gescheitert ist.

Was also tun? Im Saal XI des Völkerbundpalastes zu Genf hielt der für Außenbeziehungen zuständige Vizepräsident der Weltbank am 8. April 2002 einen Vortrag vor Führungskräften von UNO und WTO. Der Veranstaltungstitel formulierte die Frage: „Wird die Entwicklungshilfe jemals bei den Armen ankommen?“ Die Antwort des erlauchten Vizepräsidenten: „Das weiß niemand.“ Um die frohe Botschaft in alle Welt zu tragen, sicherte sich James Wolfensohn die Dienste einer Reihe handverlesener Apostel. Zum Beispiel im nigerianischen Lagos.

In der Hauptstadt eines der führenden Erdöl exportierenden Länder und einer der korruptesten Gesellschaften der Welt hat James Wolfensohn ein Büro für „Good Governance“ eingerichtet. Der örtliche Amtsleiter sammelt Informationen zu Korruptionsfällen, die ihm von Einzelpersonen, sozialen Bewegungen, NGOs, Kirchen, Gewerkschaften und empörten Beamten zugetragen werden. Er beobachtet die gezinkten Ausschreibungen bei öffentlichen Bauvorhaben, Bestechungen von Ministern durch die örtliche Führung multinationaler Gesellschaften, den Machtmissbrauch von hohen Beamten, die sich ihre Dienste mit barer Münze vergolden lassen. Kurzum, er registriert, dokumentiert und sucht zu verstehen, auf welchen Wegen Bestecher und Bestochene zueinander finden. Doch was passiert mit diesem Wissen? Das weiß auch keiner.

Wolfensohn hat eigens einen Vizepräsidenten ernannt, dessen spezielle Aufgabe die Bekämpfung extremer Armut ist. Auch er dokumentiert, sammelt Informationen und so weiter. Dieses Amt wurde bis vor kurzem von Kemal Dervis bekleidet. Der Ökonom – um die 50 Jahre alt, türkischer Nationalität, von gewinnender Natur und gewandtem Auftreten – ist in der Schweiz aufgewachsen. Er ist Muslim, doch machte er sein Abitur an dem katholischen Collège Florimont in Petit-Lancy bei Genf. Im Februar 2001 verließ er die Bank, um Wirtschafts- und Finanzminister der Türkei zu werden.

Eine weitere vollkommen atypische Persönlichkeit unter Wolfensohns Bediensteten ist Alfredo Sfeir-Younis. Seit November 1999 ist er der Repräsentant der Weltbank bei den Organisationen der Vereinten Nationen und bei der WTO in Genf. Der Genfer Journalist André Allemand nennt ihn einen „Schönredner“.

Sfeir-Younis ist Chilene libanesischer Abstammung, Weltbürger und geborener Diplomat. Er ist der Neffe von Nasrallah Sfeir, dem Patriarchen der maronitischen Kirche. Da sein Vater seit 1967 als Botschafter Chiles in Damaskus und Beirut diente, erlebte der junge Alfredo sämtliche Konvulsionen, Kriege und Turbulenzen, von denen der Nahe Osten damals heimgesucht wurde.

Der „Schönredner“ ist ein Pionier. Er war der erste Umweltökonom („environmental economist“), den die Weltbank rekrutierte. Heute beschäftigt sie 174 von dieser Sorte. Sieben Jahre lang arbeitete er unter oft schwierigen Bedingungen in der afrikanischen Sahelzone. Als gestandener Antifaschist opponierte er gegen die Diktatur Pinochets.

Vor allem aber ist Don Alfredo ein Meister der Doppeldeutigkeit: „Die aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten resultieren in erster Linie aus der Reichtumsverteilung, weniger aus Problemen, die mit Produktion oder Konsum zu tun haben. In der Welt fehlt es an Global Governance.“7 Jeder calvinistische Pastor in Genf wird bei solchen Worten in Begeisterung ausbrechen. Hier ist ein Bruder! Endlich ein Vertreter der Weltbank, der nicht nur Wachstum, Produktivität und Profitmaximierung im Munde führt. Was der naive Leser jedoch nicht weiß: Der Genfer Botschafter des „Pianisten“ ist ein erbitterter Verfechter der „stateless global governance“, einer entstaatlichten Regierung der Welt, und des Washington Consensus.

Auch Mats Karlsson ist ein atypischer Abgesandter des Pianisten. Als enger Mitarbeiter und Schüler von Pierre Schori – dem intellektuellen und geistigen Haupterben Olof Palmes –, war Karlsson Chefökonom im schwedischen Außenministerium und Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Neben Pierre Schori zählt der überzeugte Sozialist Karlsson auch Gunnar Sternave zu seinen Freunden, einen der führenden Köpfe der schwedischen Gewerkschaften. Heute kümmert sich Karlsson als Vizepräsident der Weltbank um die auswärtigen Beziehungen und den Kontakt zu den Vereinten Nationen.

Ganz ohne Ironie: Manche von diesen Ideologen faszinieren mich. Ihr brillanter Geist, ihre Bildung, ihr Schliff wirken anziehend. Einige handeln sogar in gutem Glauben. Alfredo Sfeir-Younis und Mats Karlsson zum Beispiel sind ausgesprochen sympathische Menschen. Das Problem ist nur: So sehr sich ihre Theorien wandeln und anpassen mögen, ihre Praxis bleibt stets dieselbe. Als Ausfluss rein banktechnischer Rationalität läuft sie stets auf die systematische Ausbeutung der betroffenen Bevölkerungen hinaus und auf die erzwungene Öffnung von deren Ländern für das raubtierhafte globalisierte Kapital.

Denn wie die WTO und der IWF, so ist auch die Weltbank eine Hochburg des neoliberalen Dogmas. Jedem Schuldnerland der Welt zwingt sie, ohne Rücksicht auf die spezifischen Umstände, den bekannten Washington Consensus auf. Sie betreibt die Privatisierung der öffentlichen Güter und Dienste und der Staaten selbst. Sie errichtet das Empire der neuen Herren der Welt.

Im Januar 2000 ging ein kleines Beben durch die Weltbank. Der wichtigste Botschafter und engste Vertraute Wolfensohns, der Chefökonom und erste Vizepräsident der Weltbank, Joseph Stiglitz, legte sein Amt nieder und prangerte die forcierte Privatisierungsstrategie und Ineffizienz der Bretton-Woods-Institutionen öffentlich an.8 Plötzlich packten den Pianisten Zweifel, er stellte sich sogar ernsthafte Fragen: Kapital fließt in Länder hinein, Kredite heraus, Staudämme entstehen, liefern Strom, und ringsherum verhungern die Menschen. Überall in der Dritten Welt kehrt die Malaria zurück und bringt jedes Jahr eine Million Menschen um, Schulen müssen schließen, Krankenhäuser verfallen, Kranke sterben, weil es an den richtigen Medikamenten fehlt. Jeden Tag sterben tausende an Aids.

Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu! Also stellt Wolfensohn Fragen, reist durch die Welt, lädt Aktivisten sozialer Bewegungen an seinen Tisch, hört ihnen zu, denkt nach und versucht das gigantische Scheitern der Weltbank zu begreifen.9 Aus den Zweifeln des „Pianisten“ entstand – man höre und staune – ein neues Organigramm.10 Ab sofort muss jeder Projektleiter die Einschätzung des „Social Board“ einholen, dessen Personal aufgestockt wurde.

Die „Abteilung für Soziales“ hat die Aufgabe, die menschlichen und sozialen Folgewirkungen zu evaluieren, die das Handeln der Weltbank in der Empfängergesellschaft bewirkt, sei es der Bau einer Schnellstraße, eines Staudamms oder Hafens, eine Flussbegradigung oder eine Industrieansiedlung.

Wie wird sich die neue Straße auf das Leben der Dörfer auswirken, durch die sie führt? Welche Konsequenzen für den regionalen Arbeitsmarkt wird die Industrieansiedlung haben? Was wird aus den enteigneten Bauern, die vor dem Bau des Staudamms evakuiert werden müssen? Die Anlage von extensiven Plantagen für landwirtschaftliche Exportprodukte erfordert die Zerstörung von Millionen Hektar Wald: Welche Auswirkungen auf das regionale Klima sind zu erwarten?

Mit solchen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich das Social Board. Nur hat es leider überhaupt keine Machtbefugnisse. Mögen seine Schlussfolgerungen noch so negativ ausfallen, den Bau des Industriekomplexes, die Zerstörung des Waldes, die Begradigung des Flusses wird dieses Gremium nicht verhindern können. Die Banker sind in ihren Entscheidungen schließlich immer noch souverän.

dt. Bodo Schulze

* Professor für Soziologie in Genf und Paris sowie Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung. Der Text ist ein Auszug aus seinem neusten Buch „Les Nouveaux Maîtres du monde“, Paris (Fayard) 2002, das im Januar 2003 unter dem Titel „Die neuen Herren der Welt“ bei Bertelsmann (München) erscheint.

Fußnoten: 1 Im Jahr 1946 hat sie ihre Tätigkeit aufgenommen. 2 Jerry Mander, „Face à la marée montante“, in: Edward Goldsmith und Jerry Mander, „Le procès de la mondialisation“, Paris (Fayard) 2001, S. 42. 3 Robert S. McNamara und Brian VanDeMark, „Vietnam – das Trauma einer Weltmacht“, Hamburg (Spiegel-Buchverlag) 1996. 4 In Bretton Woods, einer Kleinstadt in New Hampshire (USA), trafen sich 1944 die Delegationen der westlichen Alliierten und gründeten die Institutionen (IWF, Weltbank usw.), die den Wiederaufbau Europas und der Weltwirtschaftsordnung gewährleisten sollten. 5 Vorwort von James Wolfensohn zu „The World Development Report“, Oxford (Oxford University Press) 2001, S. 5. 6 Mit dem Begriff des „organischen Intellektuellen“ hat der italienische Marxist Antonio Gramsci die Denker bezeichnet, die die soziale Situation mit reflektieren. 7 Alfredo Sfeir-Younis in La Tribune de Genève, 8. Juni 2000. 8 Joseph Stiglitz, „Die Schatten der Globalisierung“, Berlin (Siedler) 2002. 9 Siehe das Interview mit James Wolfensohn in Libération, 10. Juli 2000. 10 Laurence Boisson de Chazournes, „Banque mondiale et développement social“, in: Pierre de Senarclens (Hg.) „Maîtriser la mondialisation“, Paris (Presses de la Fondation Nationale des Sciences Politiques) 2001.

Le Monde diplomatique vom 11.10.2002, von JEAN ZIEGLER