Monarchie als lockeres Korsett
SEIT Jahrzehnten war es eigentlich kein Thema mehr: Belgien ist und bleibt eine Monarchie, auch wenn der König politisch nur über repräsentative Macht verfügt, auch wenn sich herausstellt, dass er ein uneheliches Kind hat. Dass sich die Monarchie in einem so kleinen und dabei so heterogenen Land derart stabil hält, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die stärkste antiroyalistische und insofern republikanische Propaganda von den nationalistischen Flamen ausgeht. Diese formieren sich zwar gegenwärtig stärker – aber mit ihren separatistischen Tendenzen machen sie auch noch die Linken unter den frankophonen Wallonen zu glühenden Anhängern der Monarchie.
Von SERGE GOVAERT *
Februar 2002: Im belgischen Löwen feiert die flämische katholische Universität, die Katholieke Universiteit Leuven (KUL), den 575. Jahrestag ihrer Gründung. Wie an vielen anderen Universitäten auch ist es üblich, dass bei dieser Gelegenheit Ehrendoktortitel verliehen werden. Unter den Auserkorenen des Jahres 2002 befindet sich neben Carla Del Ponte und dem BP-Chef Lord Brown of Madingley ein berühmter Belgier: Prinz Philippe, der älteste Sohn und Thronerbe des Königs. Fast gehört diese Wahl zur Tradition der KUL, schon seinen Vater, seinen Onkel, seinen Großvater und sogar seinen Urgroßvater hat sie zum Doktor honoris causa erkoren.
Kaum wird die Nachricht bekannt, unterzeichnen mehrere Professoren und Wissenschaftler der Universität eine Protesterklärung. Der in Bedrängnis geratene Rektor der KUL, André Oosterlingk, muss sich in den flämischen Zeitungen rechtfertigen: Sind die Bemühungen des Prinzen um „bessere Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppierungen des Landes“ und der „erkennbare Beitrag, den er mit seinen Außenhandelsaktivitäten zum Wohlstand Belgiens geleistet hat“, denn nicht der Ehre wert? Während des Festaktes am 4. Februar muss die Polizei teilweise mit Gewalt gegen die Demonstranten vorgehen, die in ihrer Mehrheit Mitglieder der beiden im Parlament vertretenen nationalistischen Parteien Flanderns sind. Sie skandieren republikanische Parolen.
Die frankophonen Belgier sind überrascht: Waren die Flamen nicht in der Nachkriegszeit und bei der „Königsfrage“ die eifrigsten Verteidiger der Monarchie? Zugegeben, es gab einige Vorzeichen. Als es um die Erstellung der Zivilliste ging, also um die Frage, welche Gelder der Staat dem Souverän bewilligt, hatten sich im Parlament außer einigen frankophonen Grünen nur flämische Stimmen gegen eine Dotation an die Königskinder erhoben. Die Diskussion ist übrigens noch nicht beendet. Erst neulich haben die Senatoren des nationalistischen Vlaams Blok, der flämischen extremen Rechten, wieder angemahnt, diese Schenkungen einfach zu streichen. Auch der im Juni 2000 eingebrachte Antrag auf Bildung einer „Kommission zur Überprüfung der königlichen Vorrechte“ stammt von zwei flämischen Senatoren, in diesem Fall Mitgliedern der Liberalen Partei.
Belgien, seit den Anfängen seiner Unabhängigkeit eine konstitutionelle Monarchie, musste im Laufe der Geschichte mehrfach ohne König auskommen. Nachdem der Sohn Louis-Philippes, der erste Kandidat, den der Nationalkongress 1830 vorgeschlagen hatte, von den europäischen Großmächten abgelehnt worden war, musste ein anderer gefunden und ein Interim organisiert werden. Baron Surlet de Chokier wurde als Regent eingesetzt, bis Leopold von Sachsen-Coburg, der erste König der Belgier, am 21. Juli 1831 seinen Eid ablegte. Nach der Befreiung Belgiens im Jahr 1944 erklärte das Parlament den nach Deutschland deportierten König Leopold III., der von den Nachkriegsregierungen nicht mehr akzeptiert wurde, für „regierungsunfähig“ und ernannte seinen jüngeren Bruder, Prinz Charles, zum Regenten. Diese Regentschaft dauerte über fünf Jahre und mündete 1950 in den Ausbruch der „Königsfrage“ (vgl. nebenstehenden Text).
Ein drittes, sehr kurzes Interim entstand, als König Baudouin sich am 30. März 1990 weigerte, ein Gesetz zur Freigabe der Abtreibung zu unterzeichnen. Der amtierende christsoziale Premierminister Wilfried Martens ließ sich eine Lösung für das königliche Gewissensproblem einfallen: Da das Gesetz nur vom König verkündet in Kraft treten konnte, bot es sich an, abermals auf die Feststellung der „Regierungsunfähigkeit“ zurückzugreifen und vorübergehend den Ministerrat mit der Wahrnehmung der Königsrechte zu beauftragen. So geschah es am 4. April 1990, und kaum hatten die Minister das Gesetz unterzeichnet, nahm Baudouin seine königliche Stellung wieder ein. Zwei Tage lang hing Belgiens Monarchie theoretisch am seidenen Faden. Kaum auszudenken, was passiert wäre, wenn sich die Kammern am 5. April 1990 geweigert hätten, die „Regierungsunfähigkeit“ wieder aufzuheben.
Aber ist Belgien überhaupt noch eine echte Monarchie? Seit knapp zehn Jahren definiert es sich als föderaler Staat, der aus Gemeinschaften und Regionen besteht: drei Sprachgemeinschaften (die flämische, die französische und die kleine deutschsprachige Gemeinschaft) und drei Regionen (eine flämische, eine wallonische und die bilinguale Region Brüssel-Hauptstadt). Diese Gemeinschaften und Regionen haben ihre je eigene Regierung und ihr eigenes Parlament. Die für ganz Belgien zuständige Föderalregierung wird von einem Vertrauensmann gebildet, den der König beruft. Der König sanktioniert auch die allgemein gültigen Gesetze – eine reale Macht, über die er in den Gemeinschaften und Regionen nicht mehr verfügt. Hier sind es in der Praxis die Parteivorsitzenden, die bestimmen, wer mit der Regierungsbildung beauftragt wird. Auch die Gesetze der Gemeinschaften und Regionen – in Wallonien und Flandern „Dekrete“, in Brüssel „Ordonnanzen“ genannt – werden von den eigenen Regierungen verabschiedet. Kurz, auf dieser Ebene hat der König absolut nichts mehr zu sagen und begnügt sich mit der rein symbolischen Entgegennahme der Eidesleistung, die die Ministerpräsidenten der Regionen und Gemeinschaften ihm schuldig sind.
Die öffentliche Meinung nimmt die Monarchie nur in ihren sinnbildlichsten Aspekten wahr. So gering die politische Macht des Königs auch sein mag, sein Amt wird von den Medien doch kräftig aufgewertet. Baudouin hatte sich ein erstaunlich konsensfähiges Image verschafft, und so gab es bei seinem Tod 1993 eine ernsthafte Staatstrauer. Ein Phänomen, das zumindest merkwürdig erscheint, wenn man sein Verhältnis zur Kirche und seine manchmal unangebrachten Eingriffe in die inneren Angelegenheiten des Landes oder die seiner ehemaligen Kolonien, vor allem Ruanda, bedenkt.
Auch sein Nachfolger Albert II. hat sich eine starke Popularität erworben, die durch den politikfeindlichen Beigeschmack seiner Erklärungen zur Zeit der Dutroux-Affäre nicht getrübt wurde, im Gegenteil. Ja er hat es sogar verstanden, die Enthüllungen von 2001 in Bezug auf frühere außereheliche Liebschaften und die Existenz einer unehelichen Tochter, Delphine, zum eigenen Vorteil zu wenden. Belgien hat also auch seine Mazarine (so der Vorname von Mitterrands unehelicher Tochter) – nur dass der Staatschef hier, nachdem er den Fehltritt implizit zugegeben hatte, im Rahmen einer Fernsehansprache um Verständnis und Verzeihung gebeten hat.
Das Königspaar ist offensiv mit der Angelegenheit umgegangen: Ganz nach alter Sitte hat Albert dem Volk sein uneheliches Kind nie gezeigt, aber er hat die Medien geschickt benutzt, um seinem individuellen „Versagen“ einen allgemeinen Charakter zu geben und es mit einer Lektion in Sachen Moral und Toleranz zu verbinden. Was die Heirat des Thronerben, Prinz Philippe, betrifft, war das Medienaufgebot klug abgestimmt. Der Palast dürfte wohl gespürt haben, woher heute der Wind weht – was nicht heißen soll, dass die belgischen Herrscher nur Papiertiger wären. Wiewohl abgeschwächt und nach außen hin kaum sichtbar, bleiben ihre Macht und vor allem ihr Einfluss doch sehr real.
Zusammen mit anderen Faktoren haben diese Medienkampagnen dazu beigetragen, die Diskussion über die Monarchie wieder zu entfachen. Das Thema verkauft sich gut und regt zu immer neuen Publikationen an. Die Memoiren Leopolds III., die 2001 unter dem Titel „Kroongetuige“ („Kronzeuge“) erschienen sind, waren ein Kassenschlager, der sofort eine antileopoldistische Schmähschrift nach sich zog. Der Autor dieser letzten, Serge Moureaux, ehemaliger Abgeordneter der Sozialisten und selbst Sohn eines liberalen Ministers, der bei der „Königsfrage“ eine aktive Rolle gespielt hat, prangert schwungvoll, aber sehr parteiisch die Verirrungen des belgischen Königs während des Zweiten Weltkriegs und kurz danach an. Dabei ruft er auch in Erinnerung, welche Unterstützung Leopold III. in der flämischen Öffentlichkeit genoss. Die Gegner der Monarchie saßen damals vor allem in Wallonien.
Ein König, der sein Volk brüskiert
INZWISCHEN geht der Geist der republikanischen Rebellion offenbar mehr von Flamen aus. Schon Baudouin war nicht der Wunschkönig der flämischen Nationalisten, verkörperte er doch in ihren Augen die Niederlage von 1950. Und was Albert II. betrifft, so hat er die frankophone Öffentlichkeit gelegentlich arg vor den Kopf gestoßen: Einmal, indem er während einer großen öffentlichen Feier des flämischen Nationalfestes die Vlaamse Leeuw, die Hymne Flanderns anstimmte, besonders aber 1994 durch eine Rede zur „nationalen Versöhnung“, die von der frankophonen Linken als Aufforderung verstanden werden musste, die Kollaboration mit der Nazibesatzung unter Amnestie zu stellen. Die Amnestie für Kollaborateure bleibt in Belgien ein heikles Thema, sie ist eine Forderung, die zu den Dauerbrennern der flämischen Nationalisten gehört.
Die Meinungsumfragen sprechen für sich. Etwa 15 Prozent aller Flamen würden die Errichtung einer Republik in Belgien begrüßen. In Wallonien liegt der Anteil der Republikaner bei 12 Prozent, in Brüssel bei 20 Prozent. Mehrheitlich sind die Belgier also immer noch Royalisten. Aber im Gegensatz zur Volksbefragung von 1950 scheint die republikanische Idee heute in Flandern weiter verbreitet als in Wallonien. Und vor allem zeigen die Gründe, warum die Mehrheit so beharrlich an der Monarchie festhält, dass sich seit den Fünfzigerjahren eine neue Kluft auftut: Für 69 Prozent der Befragten aus der französisch sprechenden Gemeinschaft ist das Königtum ein Element, das die Einheit des Landes garantiert. Unter den Flamen sehen das nur 51 Prozent so.1
Wo genau finden wir eigentlich die flämischen Republikaner? Hauptsächlich in der nationalistischen Wählerschaft.2 Die beiden Parteien, die sich nationalistisch nennen und beide die Unabhängigkeit Flanderns anstreben, der Vlaams Blok und die Nieuw-Vlaamse Alliantie, haben die Republik – eine flämische natürlich – auf ihre Fahnen geschrieben. Beim Vlaams Blok handelt es sich weniger um ein politisches Prinzip als um einen opportunistischen Reflex: Seine Abgeordneten haben die Aufhebung eines alten Dekrets vom November 1830 verlangt, das den „immer währenden Ausschluss der Familie Nassau-Oranien von jeglicher Teilhabe an der Macht in Belgien“ bestimmt.3 Einen König wollen sie schon, aber nur einen, der aus jener „Volksgemeinschaft“ stammt, der die Flamen nach Auffassung der extremen Rechten angehören und die sie mit ihren – wie sie selbst Niederländisch sprechenden – Nachbarn im Norden verbindet.
Diese Sorte Republikaner sind in erster Linie Gegner des belgischen Staates. Das erklärt zugleich, warum so viele Frankophone aus Vernunftgründen für die Monarchie eintreten: Das Königtum erscheint ihnen als Kitt für die nationale Einheit und den Linkesten von ihnen als ein notwendiges Übel. Hat denn nicht einer der radikalsten wallonischen Minister und Streiter für das föderalistische System beim Tod von König Baudoin gesagt, alles in allem sei ein Monarch immer noch besser als ein flämischer Präsident?
Aber es geht nicht allein um den Gegensatz zwischen Flamen und Frankophonen. 1950 war Leopold III. nicht nur der „König der Flamen“, wie die wallonische Linke verkündete: Er war auch der König der Katholiken, und in den flämischen Wahlbezirken hatte die Christlich-Soziale Partei damals eine satte Mehrheit von über 50 Prozent in allen Provinzen Flanderns. Nun ist das Flandern von heute nicht mehr das von 1950, und die Christsozialen sind nicht mehr die stärkste flämische Partei. Bei den letzten Parlamentswahlen 1999 wurden sie von den Liberalen unter Führung von Guy Verhofstadt, dem derzeitigen Premierminister, überholt.
Im Übrigen weisen soziologische Untersuchungen darauf hin, dass die Kirche in der flämischen Gesellschaft an Einfluss verliert: Die Kirchen leeren sich, es gibt immer weniger Getaufte, immer weniger in den Kirchendienst Berufene. Christliche Werte, die bislang als unantastbar galten, werden in Frage gestellt. Kann es da denn so verwundern, dass mit der nachlassenden Religiosität und dem schwindenden Einfluss der Christlich-Sozialen Partei auch die Monarchie als solche auf immer weniger Interesse und Rückhalt in der Bevölkerung stößt?
Schließlich ist Flandern eine wirtschaftlich aufblühende Region, der Individualismus hat Konjunktur. Das Fernsehen hat Big Brother in der britischen Loft-Version lange ausgestrahlt, bevor die französischsprachigen belgischen Sender es wagten, ihrerseits dieser Welle nachzugeben. Auch in der Politik traten Glanz und Glamour an die Stelle der Werteorientierung, auf die Wahllisten kamen vermehrt Persönlichkeiten aus Sport und Showbusiness.
Wenn es heute mehr Flamen als Wallonen gibt, die sich als Republikaner bezeichnen, so vielleicht weil die alten ideologischen Korsette lockerer geworden sind, weil der Respekt für die Person und für das Amt des Königs nicht mehr so selbstverständlich ist wie vor fünfzig Jahren. Und was die (noch) monarchistischen Flamen betrifft, hat ihre Haltung wohl mehr mit einer intellektuellen Bequemlichkeit zu tun als mit einer echten Überzeugung. In diesem Sinne ist das Schicksal des Königtums tatsächlich mit dem des Landes verknüpft. Von Meinungsforschern nach der Zukunft ihres gemeinsamen Landes und ihren Gefühlen zur Monarchie gefragt, stimmen Flamen und Frankophone am Ende überein. Wohl nur, weil jeder von etwas anderem spricht.
dt. Grete Osterwald
* Verwaltungsdirektor des Centre de recherches et d‘informations sociopolitique (Brüssel).