11.10.2002

Agrarreform gegen Arbeitslosigkeit

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Agrarreform gegen Arbeitslosigkeit

Von CARLA FERREIRA *

DIE Grube, in der du liegst, misst nur eine Elle, das dürftige Erbe, das dir vom Leben bleibt. Sie hat das rechte Maß, weder zu breit noch zu tief, ist dein Teil, der dir von diesem Landgut zusteht. Es ist wirklich keine große Grube, ganz nach deinem Maß, du wolltest sie doch aufgeteilt sehen, die Erde.“1

Der Boden in Brasilien gehört einigen wenigen Großgrundbesitzern; was die Konzentration des Grundeigentums betrifft, rangiert das Land weltweit an zweiter Stelle. Jeden Tag gewinnt es noch mehr Ähnlichkeit mit dem Antlitz eines landlosen Landarbeiters – vom Wind ausgedörrt, schwankend zwischen Entschlossenheit und Verzweiflung. Die Zahlen sprechen Bände: 390 Millionen Hektar des 850 Millionen Hektar großen Landes sind landwirtschaftlich nutzbar, 120 Millionen Hektar liegen nach Angaben des Nationalen Instituts für Besiedelung und Landreform (Incra) brach. Brasilien zählt fast vier Millionen landlose Familien, während nicht einmal 3 Prozent der Grundeigentümer knapp 60 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche besitzen.

In der Kolonialzeit wie später im Kaiserreich oder heute unter republikanischen Regierungen: stets waren die Eliten darauf bedacht, die Emanzipation der Sklaven und später der Landarbeiter zu Kleingrundbesitzern zu verhindern. Folglich stellten sie durch geeignete Maßnahmen sicher, dass das Land nicht abgegeben werden musste, sondern weiter ausschließlich in den Händen der Mächtigen verblieb.

Die Landarbeiter waren schon immer die Parias unter den brasilianischen Arbeitern. Als die Rechte der städtischen Lohnabhängigen nach 1930 gesetzlich anerkannt wurden, blieben die Landarbeiter ausgeschlossen. Und auch als in den Fünfzigerjahren die Modernisierung der Landwirtschaft einsetzte, die damals nach Auffassung der Experten automatisch die Lebensbedingungen der Landbevölkerung verbessern sollte, brachte sie die Lösung des Problems nicht voran, ja sie bewirkte nicht einmal eine rationellere Nutzung des landwirtschaftlichen Potenzials.

Vor allem in der Zeit der Militärdiktatur wurde die Modernisierung der Landwirtschaft – also die Einführung neuer Techniken und die Steigerung der Produktivität – mit ländlicher Entwicklung verwechselt und gleichgesetzt. In Wirklichkeit war gerade die Modernisierung mit dafür verantwortlich, dass der Lebensstandard in den einzelnen Regionen noch weiter auseinander klaffte. Auf der einen Seite entstand mit rund 500 000 Betrieben ein hochmoderner Agrarsektor, der mittlerweile den größten Teil der Agrarexporte produziert und die meisten ländlichen Arbeitsplätze stellt. Auf der anderen Seite steht ein rückständiger Sektor aus 5 Millionen Betriebseinheiten unterschiedlicher Größe, die auf sehr niedrigem Produktivitätsniveau wirtschaften, aber einen erheblichen Teil der Nahrungsmittel produzieren. Zudem zeigen die Statistiken über gewaltsame Zusammenstöße, dass soziale Konflikte mit ihren häufig dramatischen Folgen verstärkt in Regionen mit hoher Grundeigentumskonzentration2 auftreten. Auch die Indikatoren für „menschliche Entwicklung“ weisen für diese Regionen ein besonders niedriges Niveau auf.

Politisch wie ideologisch war mit der Modernisierung der großen Ländereien das Ziel verbunden, die Latifundienwirtschaft durch Produktivitätszuwächse zu legitimieren. Mit der Zeit fanden es auch Intellektuelle und Politiker, die nicht unbedingt der konservativen Rechten angehören, nicht mehr anstößig, die mit dem Eigentum verbundenen sozialen Pflichten nur noch ganz eng aufzufassen und die Agrarreform abzuschreiben.

Sie übersahen dabei, dass es neben den agrarischen Großbetrieben, die vor allem im Süden des Landes liegen, auch einen Sektor der Familienlandwirtschaft gibt, der um sein Überleben kämpft. Ohne technische und finanzielle Unterstützung durch den Staat wird dieser Sektor der Konzentrationsbewegung nicht widerstehen können. Schon jetzt macht sich die Latifundienwirtschaft auch im Nordosten des Landes breit und liefert die Landbevölkerung der Unterdrückung und Ausbeutung aus.

Die so genannte Agrarfrage verweist daher auf ein gravierendes Strukturproblem. Im Zuge der Konzentration des Grundeigentums entstand ein wirtschaftliches, soziales, kulturelles und politisches Machtgeflecht, das sämtliche Sphären des ländlichen Lebens erstickt und die Demokratie bedroht. Die Folge ist eine Abwärtsspirale: Die weniger produktiven Agrarsysteme verwüsten die Natur, arbeiten wenig rentabel und führen zu Armut, Landflucht, Klientelwirtschaft, Gewalt und Analphabetentum. Für die Ärmsten im Lande wie für die Landwirtschaft überhaupt ist eine ausgewogene Entwicklung damit unmöglich. Eine Lösung wäre nur von einer Agrarreform zu erwarten, die zwei entscheidende Dinge durchsetzen müsste: die Enteignung der Großländereien zu Gunsten der Landlosen und die technische wie finanzielle Unterstützung der Familienlandwirtschaft. Nur so könnte in den ländlichen Regionen eine Umverteilung von Einkommen, Reichtum und Macht in Gang kommen. Der Lohn der Landarbeiter würde ebenso steigen wie die Nahrungsmittelproduktion, was ja auch nötig wäre, denn die Umverteilung würde die Nachfrage ankurbeln. Damit würde auch die Arbeitslosenrate sinken. Eine Reihe von Untersuchungen haben gezeigt, dass eine Agrarreform die kostengünstigste Lösung des Arbeitslosenproblems wäre und zugleich den Hunger bekämpfen würde.

Die Notwendigkeit einer Agrarreform mag einleuchten – um sie durchzusetzen, müsste man das ganze rückständige Sozialsystem aufbrechen. Ein Staatsmann, der sich dieser Aufgabe annehmen will, wird nicht nur auf den Widerstand unproduktiver Großgrundbesitzer stoßen. Eine neue Agrarpolitik würde auch die Interessen der Elite tangieren, die seit der Kolonialzeit mit dem Auslandskapital verwoben ist. Sie erforderte eine ganz andere Exportpolitik, die zugleich die landwirtschaftliche Autarkie des Landes sicherte; sie erforderte Maßnahmen, die den Interessen der multinationalen Konzerne und der Vermarktung von gentechnisch verändertem Saatgut zuwiderliefen; sie würde den Schutz des Amazonasgebiets verlangen und Nachverhandlungen beim internationalen Patentrecht nötig machen. Außerdem wären die Verhandlungen zur Umsetzung der Amerikanischen Freihandelszone unverzüglich einzustellen, da diese ja jede auf Selbstversorgung zielende Agrarpolitik im Keim erstickte.

Statt die sozialen Bewegungen auf dem Land, die Bewegung der Indígenas, der Kleinbauern und der Landlosen als polizeiliches Problem zu behandeln, sollte die neue Regierung unseres Landes in diesen Bewegungen Verbündete im Kampf für ländliche Entwicklung sehen. Von ihnen kann sie einiges über das richtige Verhältnis der Menschen zu ihrem Land und Boden lernen.

dt. Bodo Schulze

* Journalistin (Porto Alegre), Koordinatorin der Öffentlichkeitsarbeit des Weltsozialforums.

Fußnoten: 1 Auszug aus dem Gedicht des brasilianischen Dichters João Cabral de Mello Neto, „Morte e Vida Severina“. 2 Zwischen 1985 und 2001 wurden 1 237 Kleinbauern ermordet, weil sie ihren Grund und Boden verteidigten. Die meisten Täter waren bezahlte Killer der Großgrundbesitzer, manche kamen aus den Reihen der Militärpolizei. (Commission pastorale de la terre, „Assossinatos no campo Brasil“, Goiania, Dezember 2001).

Le Monde diplomatique vom 11.10.2002, von CARLA FERREIRA