11.10.2002

Keine Angst vor besseren Zeiten

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Keine Angst vor besseren Zeiten

SEIT 1990 sind in Brasilien neoliberale Regierungen an der Macht. Mit der zweiten Amtszeit von Präsident Fernando Henrique Cardoso wird diese Ära wohl abgelaufen sein. Der wahrscheinliche Wahlsieger, der Sozialist Luiz Inácio „Lula“ da Silva, übernimmt ein schweres Erbe. Die Wirtschaftskrise hat die soziale Krise verschärft, deren Brisanz auch in der ungeheuren Einkommenskluft liegt. Das bisherige Wirtschaftsmodell hat sich erschöpft und verlangt nach deutlichen Veränderungen, will man nicht eine ähnliche Krise erleben wie Argentinien. Schon deshalb steht für die neue Regierung eine Strategiedebatte an, die den Spielraum Brasiliens unter den weltwirtschaftlichen Konditionen ausloten muss.

Von EMIR SADER *

Dass Fernando Henrique Cardoso die Wahlen von 1994 und 1998 gleich im ersten Wahlgang gewann, verdankte er dem Glauben des brasilianischen Wählers an sein ökonomisches Credo: Geldwertstabilität, also Inflationsbekämpfung, werde das Wirtschaftswachstum beflügeln, das zehn Jahre zuvor zum Stillstand gekommen war. Es würden Auslandsinvestitionen und moderne Technologien ins Land fließen, Arbeitsplätze entstehen, der gesellschaftliche Reichtum würde politisch umverteilt (Inflation besteuere ja faktisch die Armen). Und bald würde das Land wieder zur „ersten Welt“ gehören.

Der Präsident konnte sein Versprechen nicht halten. Seine zweite Amtszeit endete mit einer Finanzkrise, in deren Verlauf sich Brasilien gezwungen sah, beim IWF zwei Großkredite in Höhe von 10 beziehungsweise 30 Milliarden Dollar aufzunehmen. Der angekündigte Wandel fand nicht statt wie erwartet, sondern lief in eine völlig andere Richtung.

Wie die anderen lateinamerikanischen Länder wurde Brasilien zu Beginn der Achtzigerjahre zum Opfer der Schuldenkrise. Damit endete die längste Wachstumsperiode des Landes, die nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 eingesetzt hatte. Auch in der Zeit der Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985 expandierte die Wirtschaft, wobei der Staatsstreich in die Zeit des stärksten Wachstumszyklus des internationalen Kapitalismus fiel. Besonders hoch fielen die Wachstumsraten zwischen 1967 und 1979 aus, als das Auslandskapital mit Macht ins Land strömte und die Exporte rasch zunahmen.

Im Zuge dieser Entwicklung wandelte sich auch die Arbeiterklasse. In Zusammenarbeit mit neuen sozialen und Bürgerbewegungen entstand ein Oppositionsblock, der vor dem Hintergrund der Schuldenkrise von 1980 das Ende der Diktatur beschleunigte. Dennoch gelang es der liberalen Opposition, den Übergang zur Demokratie für sich zu vereinnahmen. Die Liberalen versprachen, allein der „demokratische Prozess“ werde die gravierenden Probleme der vergangenen zwanzig Jahre lösen. Überdies zeigten die Kräfte der alten Diktatur eine erstaunliche Fähigkeit, sich in die Demokratie zurückzuschleichen und sich an der Koalition zu beteiligen, die unter dem zivilen Präsidenten José Sarney von 1985 an das Land regierte. So gehörte Brasilien zu den Ländern Lateinamerikas mit der ausgeprägtesten Kontinuität zwischen Diktatur und Demokratie, was den Übergang zu wirklich demokratischen Verhältnissen nachhaltig belastete.

Nach diversen heterodoxen Versuchen der Inflationsbekämpfung zeichnete sich Ende der Achtzigerjahre ein ähnliches Szenario ab wie in anderen Ländern Lateinamerikas: die Konversion zum Neoliberalismus. Allerdings verschrieb sich Brasilien der Strukturanpassungspolitik später als seine Nachbarn. Im Gegensatz zu Chile, Bolivien, Mexiko und Argentinien war das politische Klima nach dem Ende der Diktatur den neoliberalen Rezepten zunächst wenig förderlich. Institutionell wurde die erneuerte Demokratie durch eine Verfassung konsolidiert, die mitunter als „Bürgerverfassung“ bezeichnet wurde, da sie der Bevölkerung die von den Militärs konfiszierten Rechte zurückgab. Und auch die erstarkenden sozialen Bewegungen halfen, Brasilien einstweilen vor der neoliberalen Hegemonie zu bewahren, die in der Region ansonsten bereits weit fortgeschritten war.

Das erste kohärente neoliberale Projekt entwarf der 1989 gewählte Präsident Fernando Collor de Mello. Der wurde jedoch 1992 vom Kongress wegen Korruption abgesetzt, bevor er die zentralen Punkte des Washingtoner Konsenses (Marktöffnung, Privatisierung, Reduktion des Staatssektors, Deregulierung) umsetzen konnte. Das gelang erst Cardoso, der von Oktober 1992 bis Dezember 1994 unter Präsident Itamar Franco als Finanzminister gedient hatte, bevor er 1994 zum Staatspräsidenten gewählt wurde.

Das neoliberale Projekt des Präsidenten Cardoso

CARDOSO griff das neoliberale Projekt wieder auf, setzte aber andere Prioritäten: Inflationsbekämpfung als lateinamerikanische Variante der Drosselung von Staatsausgaben, denn „überzogene“ Staatsausgaben galten als Ursache wirtschaftlicher Stagnation und ökonomischer Rückständigkeit. Cardosos Koalition vereinigte seine eigene Partei – die brasilianische Sozialdemokratie PSDB, ehemals mitte-links-orientiert – mit Teilen der traditionellen Rechten. Damit besaß Cardoso im Kongress von Anfang an die absolute Mehrheit. Dank der einhelligen Unterstützung durch die nationale und internationale Geschäftswelt hatte Cardoso in Politik und Gesellschaft wie in den Medien einen historisch einmaligen Rückhalt.

In den folgenden Jahren reformierte Cardoso die „Bürgerverfassung“ nach Gutdünken. Mehr als jeder andere Präsident – die Diktatoren eingeschlossen – regierte Cardoso trotz seiner komfortablen Parlamentsmehrheit mit „provisorischen Maßnahmen“, das heißt mit Dekreten, die mit Zustimmung des Kongresses ständig verlängert wurden und faktisch neues Recht setzten. Überdies kamen die meisten Gesetzentwürfe aus der Exekutive, sodass die Regierungsfähigkeit des Präsidenten außer Zweifel stand.

Die Wiederwahl Cardosos im ersten Wahlgang 1998 zeigte, dass der Wähler die drastische Reduktion der Inflationsrate durch den Real-Plan positiv sah. Dessenungeachtet lässt sich der wirtschaftliche Wandel, den Brasilien in den Neunzigerjahren und vor allem unter Cardoso erlebte, in zwei Punkten zusammenfassen: die Umwandlung von Staatseigentum in Aktienbestände (siehe Kasten) sowie die Zunahme prekärer Arbeisverhältnisse. Was den ersten Punkt anbetrifft, so stärkten die Maßnahmen zur Geldwertstabilisierung die hegemoniale Position des Auslandskapitals. Da die Wahlfeldzüge Cardosos im Wesentlichen von den brasilianischen Großbanken finanziert wurden, begünstigte der einzige wirtschaftliche Rettungsplan mit einem Volumen von mehreren Milliarden Real den Bankensektor.

Der Schuldendienst beläuft sich derzeit auf jährlich über 32,7 Milliarden Euro. In den Jahren 2002 bis 2004 muss Brasilien Woche für Woche 1,02 Milliarden Euro aufwenden, um seine Auslandsverbindlichkeiten in Höhe von 30,6 Milliarden Dollar und das Leistungsbilanzdefizit von 20,4 Milliarden Euro zu finanzieren.

Weder finanziell noch verwaltungstechnisch ist der Staat noch überlebensfähig, wenn nicht zumindest die Schuldenrückzahlung nachverhandelt wird. Andernfalls steht Brasilien dasselbe bevor, was sich im Argentinien der Regierung de la Rúa ereignete.1 Die hohe Verschuldung der Privathaushalte, das Engagement der Banken in Staatsobligationen (zu Lasten von Investitionskrediten) und der wachsende Anteil spekulativer Investitionen im Portfolio von Industrie-, Handels- und Agrarunternehmen – all dies trug dazu bei, dass die brasilianische Wirtschaft heute auf Gedeih und Verderb dem Finanzmarkt ausgeliefert ist. Zudem sind sämtliche wirtschaftspolitischen Schlüsselpositionen mit Leuten aus dem nationalen und internationalen Finanzsektor besetzt, die mit schöner Regelmäßigkeit in die Privatwirtschaft zurückwechseln.

Diese Dominanz des Privatsektors wiederum führt zu signifikanten Verschiebungen im Staatshaushalt. 1995 gab die öffentliche Hand noch 20,3 Prozent ihrer laufenden Einnahmen für Bildung aus, 2000 waren es nur noch 8,9 Prozent, während der Anteil des Schuldendienstes im gleichen Zeitraum von 24,9 Prozent auf 55,1 Prozent stieg. Insgesamt liegen die Ausgaben für Bildung und Gesundheit heute unter dem Betrag für Zinszahlungen.

Im Übrigen sind die Neunzigerjahre wesentlich durch die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse gekennzeichnet. Historisch gesehen hat die fortgesetzte Ausbeutung der Landarbeiter zusammen mit der verspäteten Abschaffung der Sklaverei (1888, nach 350 Jahren) dazu geführt, dass bis heute eine Agrarreform ausgeblieben ist und die Arbeitskräfte vom Lande erst in jüngster Zeit in den regulären Arbeitsmarkt integriert wurden.

Unabhängig davon, ob eine diktatorische oder eine demokratische Regierung den Staat führte, ob die Wirtschaft expandierte oder stagnierte, war in den letzten fünfzig Jahren eine konstante Zuwanderung ländlicher Arbeitskräfte zu verzeichnen, die bis dahin unter vorkapitalistischen Verhältnissen gelebt hatten. Seit den Achtzigerjahren jedoch konnte die Wirtschaft die Zuwanderer infolge der Rezession nicht mehr absorbieren. Als Cardoso verkündete, er wolle „das Kapitel des Getulismus in der brasilianischen Geschichte beschließen“2 , versetzte er der Regulierungsfähigkeit des Staats den Gnadenstoß. Seine Politik der „Flexibilisierung“ des Arbeitsmarkts – ein Euphemismus, der verschärfte Überausbeutung nur schlecht kaschieren kann – raubte den meisten Arbeitern die Möglichkeit, reguläre Arbeitsverträge abzuschließen, durch die sie vormals zu „Rechtssubjekten“ und also Staatsbürgern geworden waren.

Marktöffnung und Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse setzten eine abermalige innere Migrationswelle in Gang, die jedoch nicht mehr von der Landwirtschaft zur Industrie und zum Dienstleistungsgewerbe verlief, sondern von der Industrie zum informellen Sektor (innerhalb des Dienstleistungssektors). Sozialer Aufstieg durch bessere Qualifikation und reguläre Arbeitsverhältnisse wich der entgegengesetzten Entwicklung. Das Bildungsniveau sank, Rechtsansprüche verschwanden, mitunter gingen gar die Bürgerrechte verloren. Während 1991 noch 53,7 Prozent der Arbeiter in der regulären Ökonomie tätig waren und die entsprechenden, mit einem regulären Arbeitsvertrag einhergehenden Rechte genossen, waren es im Jahr 2000 nur noch 45 Prozent. Die übrigen 55 Prozent schlagen sich in der Schattenwirtschaft durch.

In den Mittelschichten verbreiterte sich die Kluft, die sich in der Zeit der Militärdiktatur aufgetan hatte. Die Angehörigen der unteren Mittelklasse bekamen die Arbeitslosigkeit, die Verschlechterung der öffentlichen Dienste und die Schrumpfungsprozesse im Bankensektor zu spüren. Manche glitten in den informellen Sektor ab, Proletarisierungsprozesse setzten ein. Die mittleren und höheren Mittelschichten schafften dank der Ausbreitung von Hightech-Services und der Expansion des Finanzsektors den Anschluss an die globalisierte Dynamik moderner Kapitalinvestitionen. Die wachsenden Einkommens- und Vermögensunterschiede sowie die damit einhergehenden ideologischen Differenzen verbieten es mehr und mehr, diese Zwischensektoren der Gesellschaft unter ein und dieselbe Kategorie zu fassen.

Arbeitslosigkeit, Elend, Ausgrenzung, Gewalt, Drogenhandel, Abbau des Rechts- und Wohlfahrtsstaats: Breiteste Bevölkerungsschichten bekamen die Folgen der sozialen Krise zu spüren, am grausamsten die Ärmsten an der Peripherie der Großstädte3 . Sie sind der Auswurf des Kapitalismus, sie werden diskriminiert und fallen den Todesschwadronen zum Opfer. Vor allem aber gibt es für diese unteren Schichten keine Sozialisierung mehr, weder durch die Familie noch durch die Schule und erst recht nicht durch die Arbeit. Man trifft ihre Mitglieder in keiner Partei an, weder in einer rechten noch in einer linken, und sie engagieren sich in keiner sozialen Bewegung. Freizeit und Kultur sind für sie ein Fremdwort. Manche versinken in Kleinkriminalität und Drogenhandel, liefern sich einen ständigen Kleinkrieg mit der Polizei, rappen sich ihren Protest von der Seele, küssen und schlagen sich auf allen Provinztanzfesten.

Sie haben das Gefühl, dass sie einer Gesellschaft, die ihnen nichts gibt, auch nichts schuldig sind. Ihr einziger Kontakt mit dieser Gesellschaft sind die Konsummoden, die Auseinandersetzungen mit der Polizei und die mehr oder weniger legalen oder illegalen Aktivitäten, mit denen sie sich materiell wie geistig lebendig erhalten. Sie sind das große Rätsel der Gesellschaft. Letzterer bleibt keine andere Wahl, als sich auf die Gewalt dieser Jugendlichen, ihr Bandenwesen und ihre Protestkultur, ihre sozialen und politischen Kämpfe einzustellen.

Die Kirchen spiegeln diesen Umbruch wider. Die katholische Kirche wurde durch die heftige Reaktion des Vatikan auf die Befreiungstheologie und die konservative Kehrtwendung der Bevölkerung nachhaltig geschwächt. Die Irrationalität der Gesellschaft, das Fehlen politischer Perspektiven, die unerreichbaren Verheißungen der Konsumgesellschaft – all dies treibt große Teile der Bevölkerung den Magieangeboten evangelischer Sekten oder aber den konservativen Spielarten des Katholizismus in die Arme.

Da der Staat in den Vorstädten durch Abwesenheit glänzt, nutzen evangelistische Sekten diese Lücke aus und versuchen den Jugendlichen eine Alternative zum Drogenhandel4 zu bieten. Die Sekten sind bei der Arbeitssuche behilflich, unterstützen den Bau von Gemeinschaftswohnungen und stellen in dringenden Fällen finanzielle Hilfen bereit – nicht viel anders übrigens als die Drogenhändler.

Neben der wachsenden Arbeitslosigkeit, der Fragmentierung und „Informalisierung“ des Arbeitsmarktes und der konservativen Kehrtwende breiter Bevölkerungsschichten vollzieht sich in Brasilien eine Institutionalisierung des politischen Lebens, die auch die Linksparteien ergriffen hat. Motor der sozialen Bewegungen5 sind nach wie vor die Vereinigte Arbeitergewerkschaft (CUT), die Bewegung der Landlosen (MST) und die katholische Kirche, insbesondere die Nationale Bischofskonferenz Brasiliens (CNBB).

Allerdings geraten die Gewerkschaften, die Land besetzenden Landlosen und die Sozialprogramme mancher Gemeinden und Landesregierungen immer stärker unter Druck. Der Staat lässt nichts unversucht, den Handlungsspielraum der sozialen Bewegungen einzuschränken und den Widerstand gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik zu brechen.

Die Arbeiterpartei (PT) vereinigt zwar weiterhin all jene Kräfte, die der Linken in den letzten 20 Jahren zugewachsen sind, doch die Wendung zur „Institutionalisierung“ hat die Verankerung der Partei in der Bevölkerung geschwächt. Die Neuorientierung spiegelt sich auch in der veränderten Mitgliedschaft: Das Durchschnittsalter steigt, die Repräsentanz der benachteiligten Schichten sinkt, die Zahl der Mitglieder, die in Parlamenten sitzen oder im öffentlichen Dienst tätig sind, nimmt kontinuierlich zu. (Beim letzten landesweiten Parteitag der PT im November 2001 in Recife stammten 75 Prozent der Delegierten aus dieser Schicht.)

Auch deshalb vertritt die Arbeiterpartei heute – bei Fragen wie Schuldenrückzahlung, Agrarreform, Amerikanische Freihandelszone und ausländische Kapitalbeteiligungen – gemäßigtere Positionen. Auch ihre Aktionsformen haben sich gewandelt. Die Präsidentschaftskandidatur von Luiz Inácio da Silva, genannt „Lula“, stößt auf den erbitterten Widerstand der Mittelschichten und der „Eliten“6 . Schon immer haben die Parteien in Wahlkampfzeiten ihr Profil abgeschliffen, um ihren Kandidaten durchzubringen.

Auch nach siegreichen Wahlen steht der Arbeiterpartei eine umfassende Strategiedebatte ins Haus. Dabei wird die Diskussion um sehr prinzipielle Fragen gehen müssen: um das Verhältnis zwischen Regierung und Macht, um die Möglichkeiten und Grenzen politischen Handelns im Rahmen des gegebenen Institutionengefüges, um die Notwendigkeit von Bruch oder Kontinuität. Sollte „Lula“ verlieren, obwohl die Parteileitung ihre politischen Positionen drastisch abgeschwächt hat, um ein Bündnis mit dem Unternehmertum und die Unterstützung der traditionellen Elite zu ermöglichen, stehen der PT wahrscheinlich größere Veränderungen bevor. Der linke Flügel dürfte erneut an Einfluss gewinnen, ein Teil der besser gestellten Führungskräfte zu Parteien der (rechten) Mitte abwandern.

Abgesehen von den wirtschaftlichen und sozialen Aspekten manifestiert sich das schwere Erbe Cardosos in der Krise der jungen Demokratie. Das reduzierte Ansehen der Regierenden und der Parteien, Politikverdrossenheit und Desinteresse lassen für die kommenden Wahlen eine geringe Wahlbeteilung erwarten.

Wer immer die Wahlen gewinnen wird, das Gesicht Brasiliens wird sich verändern. Das derzeitige Wirtschaftsmodell hat sich erschöpft und überlebt nur noch dank der Finanzspritzen des IWF, die aber die Wirtschaft immer nur ein Stück mehr destabilisieren. Dass Veränderung Not tut, steht völlig außer Zweifel. Fragt sich nur, in welche Richtung der Wandel gehen wird. Wird es bei punktuellen Korrekturen bleiben, wie der Zögling Cardosos, der ehemalige Gesundheitsminister und Ökonom José Serra, verspricht, oder steht ein Bruch mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik an, wie ihn Luiz Inácio da Silva in Aussicht stellt?

Sollte die linke Opposition die Wahlen gewinnen, würden sich neben der Möglichkeit, die innere Krise zu überwinden, auch für Lateinamerika insgesamt neue Perspektiven eröffnen. Die Stärkung des Gemeinsamen Markts des Südens (Mercosul7 ) und die Einführung einer gemeinsamen Währung könnten Argentinien aus dem derzeitigen Schlamassel befreien und eine glaubhafte Alternative zur Amerikanischen Freihandelszone schaffen, mit der die Vereinigten Staaten ihre Hegemonie über Lateinamerika sichern wollen.

dt. Bodo Schulze

* Professor für Soziologie an der Staatlichen Universität in Rio de Janeiro. Autor (zs. mit Ken Silverstein) von „Keine Angst vor besseren Zeiten – Lula, die PT und Brasilien“, Köln (Neuer ISP Verlag) 1994.

Fußnoten: 1 Dazu Carlos Gabetta, „Ökonomischer GAU in Argentinien“, Le Monde diplomatique, Januar 2002. 2 Abgeleitet von Getulio Vargas, der das Land von 1930 bis 1945 und 1950 bis 1954 regierte. Der Gründungsvater des „Estado novo“ (Neuer Staat) regierte gestützt auf die Arbeiterklasse und erließ eine umfassende Sozialgesetzgebung. Als er während seiner zweiten Amtszeit von der Presse unter Beschuss genommen und von einigen Offizieren zum Rücktritt gedrängt wurde, nahm er sich das Leben. 3 40 Prozent der Bevölkerung leben in sieben Ballungsräumen. 4 Nach einer Untersuchung des Instituto de Estudos da Religião (ISER) wurden in den Jahren 1987 bis 2001 allein in Rio de Janeiro rund 4 000 Jugendliche unter achtzehn Jahren erschossen (mehr als bei den bewaffneten Auseinandersetzungen in Kolumbien). ISER, Rio de Janeiro, 9 September 2002. 5 An dem inoffiziellen Referendum zur Ablehnung der Amerikanischen Freihandelszone beteiligten sich nach Angaben des Episkopats über 15 Millionen Personen. An der Abschlusskundgebung am 7. September in Aparecida nahe São Paulo nahmen rund 150 000 Demonstranten teil. 6 Am Vorabend der Wahlen von 1989 „warnte“ der Vorsitzende des mächtigen Industriellenverbandes des Bundesstaats São Paulo, Mario Amato, im Falle eines Wahlsiegs von „Lula“ würden 800 000 Unternehmer Brasilien verlassen. 7 Der Gemeinsame Markt des Südens (Mercosul) als Gegengewicht zur Amerikanischen Freihandelszone umfasst Argentinien, Brasilien, Uruguay, Paraguay und – als assoziierte Mitglieder – Chile und Bolivien.

Le Monde diplomatique vom 11.10.2002, von EMIR SADER