Bis der Postmann nicht mehr klingelt
Der Chef von France Télécom, Michel Bon, hat vor einem gigantischen Schuldenberg kapituliert und seinen Hut genommen. Um die Bilanz zu retten, reduziert das Unternehmen sein Engagement bei der deutschen Mobilcom, die damit an den Rand der Pleite gerät. In allen EU-Ländern ist die Privatisierung öffentlicher Unternehmen im Verkehrs- und Energiesektor in vollem Gange. Was damit auf Angestellte und Kunden zukommt, lässt sich am Beispiel der französischen Post ablesen. Hier unterscheidet man zwischen „guten“ und „schlechten“ Kunden und versteht unter Service, dass der Postkunde zum Kauf von teuren Fertigpostkarten genötigt wird. Und das moderne Management besteht darin, die Mitarbeiter mit Motivationsspielchen und „Mutmachsitzungen“ auf die Unternehmensstrategie einzuschwören.
Von GILLES BALBASTRE *
AM 15. Oktober 2001 einigten sich die für Post und Telekommunikation zuständigen Minister der fünfzehn EU-Staaten nach einigen Kontroversen darauf, die Öffnung der Postdienstleistungen für den freien Wettbewerb weiterzutreiben. Um den Widerständen gegen die forcierte Liberalisierung von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen, beschlossen sie gleichzeitig, das Postmonopol nach und nach abzubauen – mit einem ersten Schritt im Jahr 2003 und einem zweiten drei Jahre später. Die vollständige Deregulierung wurde auf 2009 verschoben.1 Der damalige französische Industrieminister Christian Pierret begrüßte die Regelung: „Dieses Abkommen sichert den Postdienst und erhält ihm für zehn Jahre die nötige Sichtbarkeit, damit er sich im Dienst der Bevölkerung flächendeckend fortentwickeln kann.“2 Einige Monate nach dem strahlenden „Sieg“ in Luxemburg antwortete das monatlich erscheinende Informationsblatt der Post, Forum, dem sozialistischen Exminister: „Ständig ein offenes Ohr für die Bedürfnisse der Kunden haben, bestmöglich auf ihre Erwartungen reagieren, deren Entwicklung gerecht werden – diesem Ansatz folgen heute die meisten öffentlichen und privaten Unternehmen.“3
Seit Beginn der Neunzigerjahre haben rechte wie linke Regierungen ohne viel Federlesens das Post- und Telekommunikationswesen dereguliert (siehe Kasten). Unablässig verändert die Führung der französischen Post ihr Dienstleistungsangebot, um das öffentliche Unternehmen mit Blick auf das Schicksalsjahr 2009 für den „zunehmend wettbewerbsintensiven Markt“ fit zu machen. Der vorigen Monat ausgebootete Vorsitzende der Post-Gruppe Martin Vial meinte kurz nach den Luxemburger Beschlüssen vom 15. Oktober 2001: „Dieses Abkommen wirkt stimulierend, weil es uns dazu bringt, unsere Modernisierung fortzusetzen, die Qualität unserer Dienstleistungen zu verbessern und neue Angebote für Frankreich und Europa zu entwickeln.“4 Freilich ist ein solches Unterfangen ohne die Bekehrung der rund 300 000 Postbediensteten zur Marktideologie nicht möglich. Sie erfordert, wie Patrick Widloecher, der Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, euphemistisch formuliert, „die Mitwirkung aller Postbediensteten als tatkräftige Akteure des Wandels“5. Eine heikle Aufgabe, denn unter der Belegschaft gibt es seit langem eine kämpferische Gewerkschaftstradition und das ausgeprägte Bewusstsein, dass man einen „öffentlichen Dienst“ verrichtet. Die Vorstellung, „sich ständig an die Bedürfnisse der Kunden anzupassen und die Marktentwicklung zu begleiten, wenn möglich vorwegzunehmen“6 , löst bei der Mehrheit der Beschäftigten nicht dieselbe Begeisterung aus wie bei ihren Vorgesetzten. Schließlich konnten sie am Beispiel ihrer Kollegen von France Télécom studieren, welche Bedrohung die schleichende Privatisierung darstellt und welche Folgen die forcierte Marktöffnung mit sich bringt.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Führung der Post seit über zehn Jahren keine Mühe scheut, die Bediensteten mit der neuen Unternehmensideologie zu formatieren, mittels unternehmensinterner Kommunikation, begleitender Evaluierung jedes einzelnen Mitarbeiters oder Fortbildungslehrgängen, die ihnen die neuen Verkaufstechniken beibringen. Wie intensiv diese Indoktrinierung ist, lässt sich sehr präzise aus den Zeitschriften ersehen, die das Unternehmen seiner Belegschaft allmonatlich ins Haus liefert.7 An erster Stelle ist hier die neue Sprachregelung zu nennen, die nur noch clients (Kunden) kennen will.
Das Wort client tauchte im öffentlichen Dienst erstmals Mitte der Neunzigerjahre auf. Davor war allgemein von usagers (Nutzern) die Rede, heute ist der Gebrauch dieses Wortes bis ins kleinste Postamt untersagt.8 Sätze des Typs „Die Zufriedenheit des Kunden steht im Mittelpunkt unserer Strategie: wir wollen mehr Kunden und mehr zufriedene Kunden“9 sind Hauptbotschaft in den diversen Strategiepapieren aus den letzten Jahren. Deren ideologische Ausrichtung zeigt sich an der ständigen Verwendung kindischer Abkürzungen: zum Beispiel APPC für „agir pour chaque client“ (etwa: kundenorientiert handeln) oder BCCC für „bien chouchouter chaque client“ (etwa: jeden Kunden verhätscheln). Auch Martin Vial bildete hier keine Ausnahme. Wie jeder x-beliebige Unternehmenschef führte er ständig den Kunden im Munde: „Wir müssen unsere Energie darauf verwenden, die aktuellen Erwartungen unserer Kunden besser zu erfüllen und uns auf ihre künftigen Wünsche vorzubereiten.“10 Was Vial nicht ausspricht – das überlässt er seinen Beratern, die in den betriebsinternen Zeitungen die Marschrichtung ausgeben – ist, dass es solche und solche Kunden gibt: „Doch aufgepasst: Es kommt zwar darauf an zu wissen, wie man Kunden gewinnt und sie an sich bindet, aber das reicht nicht aus. Denn die Kundschaft soll ja rentabel sein. Das setzt voraus, dass man sie der Unternehmensstrategie entsprechend zielgerichtet anspricht. Nicht jeder Kunde ist erwünscht, schon gar nicht als treuer Kunde.“11
Die interne Unternehmenskommunikation erzeugt also die Figur des modernen Postangestellten, dem zuallererst die Bedürfnisse der „erwünschten“ Verbraucher am Herzen liegen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen seit zwei Jahren jene Mitarbeiter, die an strategischer Stelle eingesetzt sind: „Die Schalterangestellten sind die ersten Personen, denen ein Kunde begegnet, wenn er ein Postamt betritt. […] Von ihnen wird erwartet, dass sie sich aktiv für den Verkauf der Versandprodukte, der Finanzdienstleistungen und der Produkte von Drittanbietern engagieren, denn die Produktpalette diversifiziert sich ständig mit dem Ziel, die Kundenbedürfnisse zu befriedigen, Altkunden zu binden und neue Kunden zu werben. Darüber hinaus wird von ihnen erwartet, in den Kunden den Wunsch zu wecken, wiederzukommen und die Dienste und Produkte von La Poste in Anspruch zu nehmen.“12 Kaum eine Ausgabe der Unternehmenszeitschriften, in der nicht irgendwelche Schalterangestellten interviewt werden, die als veritable Stachanows der modernen Zeiten die Leitsprüche der Direktion nachbeten dürfen: „Mir ist klar geworden, dass man den Kunden besser bedienen kann, wenn man dessen Bedürfnisse umformuliert, um seinen Wünschen möglichst gerecht zu werden. Und wenn man an den zusätzlichen Verkauf denkt. […] Eine Steigerung des Verkaufs ist möglich, wenn die Schalterangestellten besser über die neuen Produkte informiert werden und sich abgewöhnen, den Kunden eine übertriebene Hilfestellung zu geben. Das sicherste Mittel wäre jedoch, wenn sich jeder bewusst würde, dass man sich nur trauen muss – sich trauen muss, Kaufangebote zu machen.“13
So sieht sich der Schalterangestellte mit einem Auftrag betraut, der sich kaum von den üblichen Empfehlungen des Customer Relationship Managements unterscheidet: die geheuchelte Aufmerksamkeit mit den ewigen Phrasen über „Kundenzufriedenheit durch Eingehen auf die Bedürfnisse“, das Gesülze, das man aus den Callcentern kennt14 , die Entschlossenheit, den Kaufakt möglichst zu individualisieren, das demagogische Gelaber, das vergessen machen soll, dass es nur darum geht, den „guten Kunden“ nach Strich und Faden zu melken. Für den „Benutzer“ im altmodischen Sinne ist da kein Platz mehr. Schluss mit Praktiken, die fortan als „übertriebene Hilfestellung“ für Kunden gelten, wie etwa die Hilfe für ältere Menschen, denen man früher eine Briefmarke auf den Umschlag klebte oder beim Ausfüllen von Formularen half. Es lebe der „Zusatzverkauf“, der dem Kunden unter dem Stichwort Up- und Cross-Selling alles Mögliche unterjubeln soll, was er nicht braucht. Daher die Notwendigkeit, die Postbediensteten auf die Ziele des jährlichen Marketingplans einzuschwören. Der Plan für 2002 sieht zum Beispiel die Einführung einer vierstufigen Verkaufsstrategie vor: „Vorspiel (Ansprechbarkeit zeigen), Vorkontakt (die Wünsche des Kunden erahnen und ihn ansprechen), Kontakt (Vorschläge unterbreiten), Nachkontakt (Zusatzverkäufe, Kassieren)“.
Die Konditionierung der Schalterangestellten zielt auf Verkaufsförderung, vor allem aber auf den Verkauf von Produkten mit hoher Wertschöpfung. Umsatzsteigerung lautet die Zwangsvorstellung in den Chefetagen. Verkaufsdirektor Philippe Henry betont ausdrücklich: „Um die erheblichen Umsatzrückstände im Bereich Brief- und Paketsendungen aufzuholen, müssen wir unsere strategische Produktpalette in diesem Bereich in den Vordergrund stellen: Plus-Brief, Plus-Päckchen,Versand-Tracking und vor allem das Postbankkonto Client Pro Privilège.“15 Auch hier sorgt die interne Unternehmenskommunikation dafür, dass die Beschäftigten auf die zukunftsweisenden Initiativen gestoßen werden: „Ein Umsatz von 8 632 Euro, dieses Ergebnis erzielten die Postangestellten von Bruyère-et-Montberault, die mit Engagement und professioneller Umsicht einen großen Kundenbedarf an unseren Produkten im Bereich Brief- und Paketsendungen entdeckten.“16
Die neuen Produkte mit hoher Wertschöpfung sollen nach und nach die klassischen Briefmarken, Umschläge und gelben Pakete ersetzen (die aus den Auslagen der Postämter bereits verschwunden sind). Die interne Unternehmenskommunikation sorgt dafür, dass die Richtlinien der Verkaufsmanager den modernen Postangestellten hervorbringen. „Verkaufen wird zum Reflex“, erklärt die Postmitarbeiterin Brigitte. „Die Kunden fragen nach einer Briefmarke, wir schlagen ihnen einen Plusbrief vor. Sie wollen ein Paket verschicken, wir beraten sie in der bedarfsgerechten Lösung – Distingo, ColiPoste, Chronopost.“17 Diese „bedarfsgerechten Lösungen“ werden vor allem der Post gerecht, während der Kunde gesteigerte Kosten zu tragen hat: Die vorfrankierten Produkte sind teurer als der separate Kauf von Umschlag und Briefmarke.
Nach dem Vorbild von France Télécom entfernt sich La Poste immer weiter von ihrem überkommenen Auftrag, Dienstleistungen für die Allgemeinheit zu erbringen. Einer ihrer Direktoren erklärt: „Wir arbeiten an Untersuchungen zur Kundenzufriedenheit, die wir regelmäßig durchführen, um neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln und neue Marketing-Kampagnen zu starten.“18 Die ins Extrem gesteigerte Individualisierung des Verbrauchs von Postprodukten zeigt sich etwa in einer ständig erweiterten Plus-Brief-Palette mit Aufdrucken wie „Frohes neues Jahr“, „Alles Gute zum Geburtstag“, „Guten Morgen, Europa“, „Schöne Ferien“, „Angenehmen Ruhestand“, „Voll Fußball“ oder auch mit Bildern von Asterix (pünktlich zum Erscheinungsdatum des 31. Albums) oder von Miss France.
Ein Platz an der Sonne für den erfolgreichsten Verkäufer
ZUM Plus-Brief werden auch betriebsinterne Wettbewerbe veranstaltet, so genannte Stims (Stimulationen), die darauf angelegt sind, die Truppe zu motivieren und noch stärker zu infantilisieren: „Die Aktion Plus-Brief-Star läuft bis Ende 2002 weiter. Ihr Ziel: den Umsatz der strategischen Versandprodukte zu entwickeln. Die Mitwirkenden werden nach Punkten klassifiziert. Diese Punkte werden nach den strategischen Merkmalen der Verkaufsprodukte vergeben. Für einen Kunden, der ein Konto „Pro Privilège“ eröffnet, bekommt man zum Beispiel 200 Punkte, für ein Briefmarken-Abonnement 20 Punkte […]. Der Preisträger gewinnt eine Reise an die Sonne für zwei Personen im Wert von 1 500 Euro.“19 Die weiteren Preisträger müssen sich mit einem Fresskorb zufrieden geben. Anschließend dürfen die 320 000 Postangestellten die Fotos der Gewinner bewundern und deren Kommentare beherzigen, die zum Beispiel lauten: „Meine Motivation war der Wunsch nach Erfolg, schnellen Ergebnissen und Anerkennung.“20
Tagein, tagaus mit den Umsatzvorgaben der Direktion konfrontiert und durch derart kindische Spielereien bei der Stange gehalten, bleiben die Beschäftigten in ständiger Anspannung. Möglicher Widerstand wird dadurch im Keim erstickt. Das ideologische Bekehrungsunternehmen läuft in zwei Etappen ab. Sämtliche Beschäftigten sind gehalten, an Fortbildungslehrgängen teilzunehmen, die unter Mottos stehen wie „Ziel Entdeckung“ oder „Wie verbessere ich mein Wissen über Kundenbeziehungen“. Zwei Tage lang müssen sich die Postangestellten in Rollenspielen produzieren. Dabei sollen sie etwa die „BBALDV-Regeln“ (Begrüßung-Blickkontakt-Aufmerksamkeit-Lächeln-Dankeschön-Verabschiedung) oder das Einmaleins der drei „W“ (Wo-Wann-Was) lernen, um den Verkauf der neuen Versand- und Finanzprodukte zu fördern, die sich die Marketing-Abteilung ausdenkt.
Nach diesem Dressurprogramm dürfen die Mitarbeiter in den Belegschaftszeitungen ihre überströmende Begeisterung äußern. Valéry: „Das war einfach genial. Ich mag das Unvorhergesehene, alles, was einen aus der Fassung bringt. Ich fand das ganz toll.“21 Auch während der Arbeit geht die Fortbildung weiter. In so genannten Mutmachsitzungen hämmern eigens abgestellte Animateure die Parolen der Manager herunter, die mitunter auch Angst machen sollen: „Rémi Marbeuf ist Team-Moderator im Chronopost-Büro von Bobigny […]. Ich bin hier, um die Kuriere zu motivieren, damit sie die beruflichen Vorgaben erfüllen, die wir gemeinsam festgelegt haben […]. Ich verhehle den Kurieren nicht, dass sie mindestens 48 Punkte anfahren müssen; sonst rentiert sich das Büro aus Produktivitäts- und Qualitätsgründen nicht.“22
Neben den Fortbildungslehrgängen sorgen ständige Leistungskontrollen dafür, dass die Angestellten unter permanenter Spannung stehen. Jeden Monat beobachtet der Teamchef jeden Schalterangestellten zwanzig Minuten lang bei der Arbeit, um seine „BBALDV-Fähigkeiten“ und sein Verkaufstalent zu evaluieren. Die unternehmensinternen Zeitungen präsentieren das Briefing natürlich als die reinste Idylle: „In Begleitung eines Verkaufsmoderators verfolgt Michèle das Gespräch zwischen dem Kunden und dem Schalterangestellten. Anschließend unterhält sie sich mit Letzterem unter vier Augen. Der Zweck der Begleitung ist selbstverständlich nicht eine Leistungsbeurteilung, vielmehr sollen gemeinsam mit dem Schalterangestellten die Stärken und Schwächen seiner Argumentation herausgearbeitetet werden, man will also herausfinden, wo er Schwierigkeiten hat, und ihm helfen, Forschritte zu machen.“
Die monatliche Verkaufsbilanz erlaubt es, das prozentuale Verhältnis zwischen dem Verkauf von „Mehrwertprodukten“ und normalen „Postartikeln“ zu bestimmen. Erstere sollen Letztere übertreffen. „Valérie“, die in ihrem Postamt das beste Ergebnis erzielt hat, verrät zwischen den Zeilen, wie sich solche Verkaufsvorgaben auf das Betriebsklima auswirken: „Ich bin hier unter den Besten, aber die anderen eifern mir nach, sind mir dicht auf den Fersen. Ich mag Herausforderungen und den Kontakt mit Menschen, ich traue mich, den Leuten Kaufangebote zu machen.“23 Für das Fortkommen der Angestellten ist nicht zuletzt das jährliche Beurteilungsgespräch ausschlaggebend. Es dient dazu, „das Ergebnis des vergangenen Jahres zu bilanzieren und Zielvorgaben für das kommende Jahr festzulegen. […] Das Gespräch endet mit einer Gesamtbeurteilung, die in einem Buchstaben zusammengefasst wird: E für excellent (ausgezeichnet), B für bon (gut), A für à ameliorer (verbesserungswürdig) und D für déficitaire (unzureichend). […] Das Beurteilungsgespräch ist also ein wichtiger Augenblick im Leben des Postangestellten, da es sich auf seine Mobilität, seine Entlohnung und seine Beförderung auswirken kann.“24 Eine schlechtere Note als A kann unvorteilhaft für die Karriere sein. Die Überwachung der Angestellten wäre jedoch nicht vollständig, gäbe es nicht auch „Überraschungsbesuche“ von Postangestellten, die als Kunde getarnt den zuvorkommenden Empfang und die BBALDV-Fähigkeiten der Schalterangestellten prüfen.
Ein Ordnungsruf kann in jedem Moment des Arbeitsalltags fällig sein. Alle Schalterangestellten erhalten Spickzettel mit den neuesten Verkaufsangeboten und Verhaltensregeln, die in Formeln abgefasst sind: „Ich begrüße den Kunden, ich entdecke sein Bedürfnis, ich klopfe dieses Bedürfnis fest mit Hilfe des magischen Satzes, der den Kunden zu einer Kaufentscheidung bringt.“ Oder die Formel über die Produkte: „Das ganze Jahr über die fünf Basisprodukte vorschlagen: alle Plus-Produkte (Plus-Brief, Plus-Karte, Plus-Päckchen), Versand-Tracking, Briefmarken-Abonnement, Telefonartikel (wiederaufladbare Telefonkarten, Handy-Pakete, Prepaid-Karten).“
Es ist nicht leicht, die geistigen, psychologischen und sozialen Konsequenzen dieser Konditionierung und Infantilisierung umfassend zu beschreiben. Bislang gibt es dazu noch keine Untersuchungen. Die wenigen Informationen stammen überwiegend von den Gewerkschaftszellen der kommunistischen CGT-PTT und der linkssozialistischen SUD-PTT, deren Handlungsspielraum durch verstärkte Repression zunehmend eingeschränkt wird. Einige der Komitees für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz (CHS) verweisen auf depressive Störungen, Krankmeldungen, Kündigungen, sogar Selbstmorde. Bis zu welchem Grad die Beschäftigten mitmachen, Widerstand leisten und/oder Leidenssymptome entwickeln, hängt unter anderem von ihrem Vertragsverhältnis (zeitlich befristet oder fest angestellt), der Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit, ihrem politischen Bewusstsein und der Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft ab.
Ein Jahr nach der Entscheidung vom 15. Oktober 2001 beschleunigt sich der Anfang der Neunzigerjahre begonnene Wandel der betriebsinternen Strukturen auf ungeahnte Weise. Die Folgen für die Beschäftigten werden in den Medien kaum aufgegriffen. Die 320 000 Postangestellten müssen derzeit eine ähnliche ideologische Zwangsbehandlung über sich ergehen lassen, wie sie die 160 000 Beschäftigten von France Télécom im Rahmen ihrer Konversion zu den „Freuden“ des Liberalismus schon hinter sich gebracht haben. Der Aufschub, den die Luxemburger Beschlüsse brachten, täuscht über die wahren Verhältnisse hinweg. Er ist vor allem Wasser auf die propagandistischen Mühlen derer, die sich die Verteidigung des öffentlichen Dienstes zugute halten, während sie de facto an seiner Demontage arbeiten. Martin Vial bietet das abschließende Beispiel für jenes doppelzüngige Gerede, das den historischen Auftrag des öffentlichen Diensts als Dienst an der Allgemeinheit mit den allerbanalsten Marketing-Phrasen verquirlt: „Ich möchte La Poste nicht ‚banalisieren‘. Im Gegenteil, ich möchte Wege finden, um sie für den Wettbewerb zu stärken und mit Blick auf ihren Gemeinwohlauftrag gleichzeitig leistungsfähiger zu machen. Wir müssen Phantasie zeigen, um gemeinsam die Post von morgen zu schaffen.“25
dt. Bodo Schulze
* Journalist und Fotoreporter; Mitautor von „Journalistes précaires“ (hrsg. von Alain Accardo), Bordeaux (Le Mascaret) 1998.