11.10.2002

Von den Bienen lernen heißt arbeiten lernen

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Von den Bienen lernen heißt arbeiten lernen

NACHDEM sich Emile Zola mit seinem „J‘accuse“ für den jüdischen Hauptmann und vermeintlichen Staatsverräter Alfred Dreyfus eingesetzt und damit die Figur des Intellektuellen ins Leben gerufen hatte, musste er sich für einige Zeit nach London ins Exil begeben. Dort stürzte er sich in die Lektüre der Sozialtheoretiker und der Utopisten. Vor allem bei Charles Fourier fand er den Stoff, aus dem er schließlich – in dem inzwischen vergessenen Roman „Arbeit“ – seine eigene soziale Utopie entwickelte. Mit einer für das Fin de Siècle bezeichnenden Wissenschaftsgläubigkeit und einem ausgeprägten sozialen Mystizismus erweist sich Emile Zola, der strenge Kritiker des Second Empire und seiner moralischen Defizite, als ein Visionär, der den patriarchalischen und rassistischen Konzepten seiner Zeit verhaftet blieb.

Von ALAIN MORICE *

Der Roman „Arbeit“, der nach „Fruchtbarkeit“ zweite Band der geplanten Tetralogie „Die vier Evangelien“, ist Emile Zolas letzter zu Lebzeiten erschienener Roman. Die Veröffentlichung in Fortsetzungen des dritten, „Wahrheit“ betitelten Teils hatte noch kaum begonnen, und von dem vierten Band „Gerechtigkeit“ existierte nur eine Skizze, als der Autor am 28. September 1902 starb.

Zolas Spätwerk1 tritt uns als eine ausgreifende Utopie entgegen, in der das herrlich noble Ungestüm – Vermächtnis des genialen Autors des zwanzigteiligen Romanzyklus „Rougon-Macquart“ – sich in einem fast katechetischen Stil ausdrückt. Angesichts der Befürchtungen, die ihm der triumphierende Kapitalismus und der revolutionäre Sozialismus einflößten, schlug Zola etwas vor, das man heute als „Gesellschaftsprojekt“ bezeichnen würde.

Das Buch wurde bei seinem Erscheinen wohlwollend aufgenommen. Heute ist es im Buchhandel nicht mehr erhältlich und kaum noch bekannt.2 „Arbeit“ – ein leidenschaftliches, aber langatmiges Werk von oft akademischer Fadheit – ist in vieler Hinsicht aufschlussreich; einmal hinsichtlich des Widerspruchs zwischen Schwärmerei und Belehrung, den der Autor auszugleichen sucht, zum andern im Bezug auf das geistige Klima jener Zeit.

Damals, vor einem Jahrhundert, herrschte eine ideologisch paradoxe Situation, in der Szientismus und philosophischer Naturalismus eine starke Emanzipationsbewegung einzufordern und in gleichem Maße zu zügeln begannen.

Der Fortschritt

ES war die Zeit, in der das Großkapital, in Frankreich in einer paternalistischen Tradition stehend, erste Ansätze von staatlicher Regulierung und Arbeitsrecht zu akzeptieren begann. Der Fortschritt, die Weltausstellung von 1900 und der Optimismus bannten die düsteren Wolken, die bereits am Horizont heraufzogen. Mitten im Roman „Arbeit“ hält die Elektrizität Einzug. Und bei der Lektüre von Fourier fragt sich Zola: Ist der Mensch dazu verurteilt, sich durch die Arbeit zu entfremden, wo doch die Arbeit offenbar die unentbehrliche Voraussetzung seiner Freiheit ist?

Der Begriff der Rasse ist in Zolas gesamtem Werk präsent. Manchmal ist die Conditio Humanae gemeint: In „Der Zusammenbruch“ (1892) etwa erleidet ein Soldat vor der Niederlage bei Sedan „die historische und soziale Krise der Rasse“. Häufiger bezeichnet der Begriff eine Genealogie oder eine sich erblich konstituierende Klasse: Wie seine Zeitgenossen schwankt Zolas Begriffsverwendung zwischen einer biblischen (Abstammung, Nachkommenschaft) und einer deterministischen und hierarchisierenden Konnotation, wie sie im zwanzigsten Jahrhundert für den modernen Rassismus und das allgemeine Verständnis bestimmend geworden ist.

Im Vorwort zum „Rougon-Macquart“-Zyklus schreibt Zola 1871, „die Vererbung hat ihre Gesetzmäßigkeiten, genau wie die Schwerkraft“, und schließt wie folgt: „Der erste Teil von ,Das Glück der Familie Rougon‘, muss aus wissenschaftlichen Gründen ,Die Ursprünge‘ heißen.“ Von Beginn an sind die Arbeiter durch „die Rasse“ bestimmt. Zunächst erkennt man dies bei dem jungen Silvère, der „eine intelligente Natur hätte sein können, die in der Schwerkraft seiner Rasse und seiner Klasse untergegangen war“, dann bei Félicité, die „die Füße und Hände einer Marquise besaß, was gar nicht zu der Rasse zu passen schien, der sie entstammte“.

Die Familiensaga beginnt mit Tante Dide aus besagtem ersten Roman, die – „nicht ganz richtig im Oberstübchen“ – den „ungehobelten Bauern“ Rougon heiratet, bevor sie sich den „Habenichts Macquart zum Liebhaber“ nimmt und auf diese Weise zwei Linien begründet. Mit großem Talent bringt Zola ganz nach Belieben eine auf sukzessiver mütterlicher und väterlicher „Partnerwahl“ beruhende Kombinatorik ins Spiel, bei der er sehr geschmeidig einen Empirismus und Relativismus praktiziert, die gelegentlich an Astrologie grenzen. Dabei verbindet sich die Rasse mit der Klasse und dem „Milieu“, etwa bei der jungen Catherine in „Germinal“ (1885), „ein gutes Mädchen, Produkt von Rasse und Milieu, die sich abgefunden hat. Eine typische Vertreterin ihrer Klasse […], kurzum, ein Produkt und Opfer des Milieus.“3

Dieses Milieu bleibt im Wesentlichen genetisch bedingt, und alles läuft auf die Äußerung von Doktor Pascal in dem gleichnamigen Roman (1893) hinaus: Die Gesetze der Vererbung „kommen in der Rasse zum Ausdruck“, weshalb „der Stamm die Zweige erklärt, die wiederum die Blätter erklären“. Dieser Pascal ist beunruhigend: „Angesichts seines zwanzigjährigen Werks, in dem sich in aller Klarheit und Vollständigkeit die von ihm fixierten Gesetze der Vererbung wiederfanden, bemächtigte sich des Doktors die Freude eines Gelehrten.“ Und so rief er aus: „Ist es nicht schön, ein solches Gesamtbild“ – ein Gesamtbild wohlgemerkt, das Zola als Ansammlung von Degenerierten, gescheiterten Künstlern oder Revolutionären, Kokotten, Geizhälsen, Dienstmädchenschändern, Börsenspekulanten, Säufern und Mördern entworfen und beschrieben hat. „Es ist die Vererbung, das Leben selbst, welches Einfaltspinsel, Verrückte, Kriminelle und große Männer hervorbringt“, sagt Doktor Pascal noch und fügt hinzu: „Und die Menschheit schreitet voran und schleppt alles mit!“

Das katholische Lager, das Zola hasste, sah in diesem von „schlechtem Blut“ beeinträchtigten Universum eine morastige Literatur und nichts Geniales. Doch Zolas Genie lag auf einer Linie mit der vielgestaltigen rassistischen Ideologie, die zu den tragenden Säulen der Dritten Republik gehörte, mit ihren kolonialistischen Eskapaden und ihrer Politik der Anpassung der Arbeiter durch Bildung.4 Dieser Rassismus hat bei Zola nichts Hasserfülltes und ist mit seinem Engagement in der Dreyfus-Affäre durchaus vereinbar: Ihm liegt eine essenzialistische Weltsicht zugrunde – und das ist zu jener Zeit die vorherrschende. Erst fünfzig Jahre später, im Zuge des Zusammenbruchs des Nationalsozialismus, nimmt eine nichtrassistische Weltsicht Gestalt an. An der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert jedoch ist „Rasse“ für Émile Zola Ausdruck eines Überlegenheitskomplexes: Im Großen und Ganzen ist „Rasse“ bei ihm etwas Schlechtes, eine Art Fluch.

Tatsächlich sind „Rasse“ und „Blut“ in dem Roman „Arbeit“ zunächst negativ konnotiert, wie eine fünfzehn Seiten lange Passage zeigt, in der die Begriffe nicht weniger als zwölfmal vorkommen, meist in Verbindung mit „Verfall“ oder „verweichlicht, degeneriert, zerstört“ (3, I 5). Die Genealogie der Protagonisten von „Arbeit“ verweist auf das jahrhundertealte Erbe „des Tagelöhnertums, des Straflagers, wo der Arbeitssklave gequält und erniedrigt wurde“ (1, V). Zweimal im Verlauf des Romans geißelt Zola die Willenlosigkeit des Arbeiters Ragu, „der die lange Zeit der Sklaverei im Blut hat“ und der vor seinem Herrn, „vor dem allmächtigen Gott erzittert“ (1, I; 2, I). Und Zola spickt seine Beschreibung mit Tiermetaphern und vergleicht Ragu mit einem wilden Tier, so in der Szene, wo ihn die „Brunst“ übermannt und er eine widerliche Rentnerin vergewaltigt, die ihm zu Willen ist „wie das Weibchen, das in der Tiefe des Waldes von einem Männchen gestoßen wird“ (2, IV).

Aber der Begriff der „Arbeiterrasse“ nimmt im Roman eine andere Wendung. Der würdelose Ragu findet sein Gegenstück in der Figur des Arbeiters, dem noch die eigene Vernichtung Schönheit verleiht. Es ist der Meister der Eisengießer, Morfain, ein Höhlenmensch, der „den hohen Adel der langen, vernichtenden Arbeit der Menschheit“ trägt, „direkter Nachfahre jener ersten Arbeiter, deren fernes Erbe in ihm nachwirkt, der schweigsam, ergeben und klaglos wie einst im Morgengrauen der menschlichen Gesellschaften seine Muskelkraft bereitstellt“. Ein „Entzücken“ für den Apostel Luc, den Protagonisten des Romans, der in diesem „Helden“ und seinen zwei Kindern „den alten Adel mörderischer Arbeit“ (1, IV) erblickt. Ein seltsamer Adel, von dem im Roman immer wieder die Rede ist.

Wie dem auch sei, den alten Morfain packt der Zorn, als er mit ansehen muss, dass seine Kinder (vor allem seine Tochter) sich den Ideen Charles Fouriers zuwenden: „Und der Vater in seinem starrsinnigen Stolz darauf, ein solider Arbeiter zu sein, dem es mit seiner Kraft gelang, das Feuer zu zähmen und das Eisen zu schmieden, empfand bitterlichen Zorn, als er seine Rasse durch all die Wissenschaft und all die nutzlosen Ideen entarten sah.“ (2, III).

Der nicht gesellschaftsfähige Ragu und der reaktionäre Morfain stehen – jeder auf seine Weise – a contrario für die Stadt der Zukunft und für die Rettung der Rasse. Zum gegebenen Zeitpunkt lässt Zola sie verschwinden, den einen in der Finsternis, den anderen im Feuer, um Platz zu schaffen für eine von ihrem verfluchten Erbe befreite Menschheit. Als Gefangener seines eigenen Essenzialismus erschafft er den neuen Arbeiter: mit Hilfe der Wissenschaft und mit Hilfe einer Erlöserfigur.

Die persönlichen Umstände, unter denen Zola diese Evolution ins Werk setzte, waren prekär: In seinem sechzigsten Lebensjahr hatte Zola viele Schläge einstecken müssen. Er musste nicht nur die Dreyfus-Affäre, seine Verurteilung und das im Anschluss erzwungene Exil in England (1898–1899) verkraften6 , sondern auch eine Flut von Beleidigungen, Karikaturen und Spottliedern, die – zumindest seit „Der Totschläger“ (1877) – sein vermeintliches Vergnügen an der Beschreibung der Gosse geißelten; das Andenken seines Vaters wurde öffentlich geschmäht, und die Reaktionen auf den Roman „Fruchtbarkeit“ (1899) waren ablehnend. Charles Péguy, damals noch Sozialist, kritisierte es vernichtend als „ein konservatives Buch, den Lohnabhängigen gegenüber ebenso gleichgültig wie das christliche Evangelium gegenüber der Sklaverei“.7

Zolas Vitalität hilft ihm über dieses geballte Unverständnis hinweg – und aus dieser Situation heraus entsteht der Messianismus seiner sozialen Ideen. Er will optimistisch bleiben: Der Fortschritt, die Evolution werden das blinde Geschick überwinden und die Rasse vervollkommnen. In einem Brief kündigt er sein Projekt der „Vier Evangelien“ folgendermaßen an: „Ich habe das ganze nächste Jahrhundert bis zur Ankunft der Utopie. Als Arbeit die vollständige Entwicklung einer Stadt der Zukunft. […] Gerechtigkeit, die ganze Menschheit, die Völker schließen sich zusammen, werden wieder zu einer einzigen Familie, die Frage der Rassen wird erforscht und gelöst.“ Und weiter heißt es in einem Brief an seinen Freund Octave Mirbeau: „Das ist alles ziemlich utopisch, aber was wollen Sie? Ich analysiere seit vierzig Jahren, man sollte mir auf meine alten Tage erlauben, ein wenig zu träumen.“

Die Erlösung

MIT „Arbeit“ lässt der Autor also die erbarmungslose Logik der Verdammnis von „Der Totschläger“ fallen, und es gilt nicht mehr die apokalyptische Prophezeiung, die am Schluss von „Germinal“ die Heraufkunft einer „schwarzen Rachearmee“ verkündet, „deren Saat schon bald die Erde vernichten wird“. Zola folgt nun einer sehr christlichen Logik der Erlösung. Ob es um die Wiederaneignung eines selbstbestimmten Schicksals durch einen selbstbestimmten Menschen geht, ist jedoch nicht sicher. Auch wenn sie zu „Träumen“ umgetauft werden, sind Zolas Erlösungsprojekte noch unter dem Deckmantel der Wissenschaft formuliert. So gesehen handelt es sich also nicht um einen Richtungswechsel.

Die „wissenschaftliche“ Inspiration des Autors ist altbekannt und hat viele Namen und Quellen8 : Charles Darwin und Claude Bernard, der Positivismus Auguste Comtes, einige Ärzte für Geisteskrankheiten; weiterhin vor allem Doktor Lucas und sein „Traité philosophique et physiologique de l‘hérédité naturelle“ (1847–1850), dem er viel entlehnt; Ernest Renan mit seinem „Dogma“ von der allmächtigen Wissenschaft, die allein imstande sei, „die Menschheit wissenschaftlich zu organisieren“; auch Hippolyte Taine, trotz dessen Leugnung des Menschen als geschichtsmächtiges Subjekt9 . Schließlich die Utopisten, allen voran Charles Fourier. Man muss zugeben, dass es sich hier nicht um die gediegenste „Wissenschaft“ handelt, eher um eine, die Zola das beste Fundament bieten konnte für seinen Kult der Natur, jener „neuen Göttin, die den Platz der alten Götter eingenommen hat“.10

Zola erweist sich als unfähig, Wissenschaft aus der Verbindung mit dem Göttlichen zu lösen. „Als ich klein war und dich von der Wissenschaft reden hörte, schien es mir, als sprächest du vom lieben Gott“, sagt Clotilde zu Doktor Pascal. In Unkenntnis der Lehren Kants sieht Zola nicht, dass der Glaube sich nur auf das beziehen kann, was sich weder beweisen noch erkennen lässt, und dass wer glaubt, aufhört zu denken. Paradoxerweise ist es diese Wissenschaftsreligion in „Die drei Städte“ und „Die vier Evangelien“, die es ihm ermöglicht, den Determinismus der vorherigen Romane zu überwinden und eine soziale Utopie ins Auge zu fassen, in der sich die Menschheit als ihr eigener Gott konstituiert. Und die Waagschale neigt sich zur anderen Seite: Die Religion des Menschen wird nun nach wissenschaftlichen Prinzipien gestaltet. Nach dem Erscheinen von „Lourdes“ zeigt eine Karikatur den Reiter Zola, mit dem Hintern auf dem Boden, der sich nicht zwischen den zwei Sätteln mit der Aufschrift „Glaube“ und „Wissenschaft“ entscheiden kann.

Seiner Hoffnung treu, kam für Zola der skeptische Pessimismus seines späten Komplizen und Bewunderers Anatole France nicht in Frage, der von dem „Bedürfnis“ spricht, „dessen Gesetze noch herrschen, wenn Prometheus Jupiter entthront haben wird“. Aber ist es nicht Zola selbst, der sich in Gestalt seines Helden Luc, in „Arbeit“, für den Titanen Prometheus hält, den Schöpfer und Retter der Menschheit?11

Tatsächlich gesteht Émile Zola im Londoner Exil gegenüber Jean Jaurès ohne falsche Bescheidenheit: „Ein Freund hat mir Fourier geliehen, und ich lese ihn zurzeit mit Staunen. Ich weiß noch nicht, wohin mich meine Recherchen führen, aber ich will die Arbeit verherrlichen und ich will Menschen, die sie profanisieren, herabwürdigen und mit Hässlichkeit und Elend besudeln, dazu bringen, sie endlich zu achten.“ Ein dreiviertel Jahrhundert zuvor hatte Fourier gesagt: „Die wahre Erbsünde […] war die Unterjochung des ersten Sklaven, denn sie zeugt sich fort: Die Kinder der Sklaven wurden wieder Sklaven.“12

Zolas Recherchen führen in dem Roman „Arbeit“ zu folgenden Ergebnissen: In den ersten Kapiteln ist die Lage der Arbeiter in eine apokalyptische Atmosphäre getaucht, die eines Eugène Sue („Die Geheimnisse von Paris“) würdig wäre, mit sich wechselseitig überbietenden, von Düsternis, Tintenwolken, Angst, Gewalt und Hunger beherrschten Szenen. Als Luc von Paris in ein Bergbaustädtchen zieht, beobachtet er mit Schrecken, wie viel Furchtbares sich um das kleine Waisenmädchen Josine zusammenbraut (seine zukünftige Frau, die er aus den Klauen des Bösen retten wird): „Alles, was er von der ungerecht verteilten Arbeit gesehen hatte, die wie ein sozialer Makel verachtet wurde, fand er in der grausigen Situation dieses armen Mädchens verkörpert, von dem sein Herz ganz aufgewühlt war.“

Eines Nachts, von Angst und Schlaflosigkeit getrieben, findet er in der Bibliothek seines Gastgebers Jordan „alle Sozialphilosophen, alle Vorläufer, alle Apostel des neuen Evangeliums“. All jene nämlich, die Zola sich während seines Exils hatte schicken lassen: „Fourier, Saint-Simon, Auguste Comte, Proudhon, Cabet, Pierre Leroux und noch andere, die komplette Sammlung einschließlich der obskursten Schüler.“ Luc beschließt, „Solidarité“, das Buch eines Schülers von Fourier, zu lesen, weil der Titel „es ihm angetan hatte“13 .

In seinem nächtlichen Fieber entdeckt Luc den doppelten „Geniestreich“ der Lehre Fouriers: Dass er zum einen „die menschlichen Leidenschaften als eigentliche Lebenskraft“ ansieht, wohingegen der „verheerende Irrtum des Katholizismus“ in dem Versuch besteht, „den Menschen im Menschen abzutöten“ – welch großartige Formel; zum andern, dass er „der Arbeit ihre Würde zurückgibt, sie zur öffentlichen Aufgabe erklärt […]. Es bedürfte nur einer Neuordnung der Arbeit, um die gesamte Gesellschaft neu zu ordnen“ (1, V). Im Verlauf des Romans ist die Arbeit nacheinander „der Adel, die Gesundheit, das Glück des Menschen“ (1, III), „die einzige Wahrheit, das einzige Gesetz des Lebens, der Gott aller Religionen, der Friede, die Freude – ebenso wie die Gesundheit –, ein Fest“ (1, V), „einziger Souverän“ (3, I), „Retter, Schöpfer und ordnende Kraft der Welt, Gesetz und Kult“ (3, IV).

Das Ideal der Arbeit oszilliert zwischen den beiden unverrückbaren Kategorien von Glauben und Wahrheit, wobei Letztere den Forderungen des Glaubens untergeordnet ist. Zolas Ansatz vergöttlicht die aus dieser Art Arbeit hervorgegangene Gesellschaft und zugleich den Protagonisten Luc, der sie zu seiner Sache macht. Aus der modernen Anthropologie weiß man, dass jede Vergöttlichung eine irdische Herrschaft verrät. In diesem Zusammenhang sei an einen Aphorismus von Fourier erinnert, dem der Zola des Romans „Arbeit“ verpflichtet ist: „Die Ungleichheit zwischen Reichen und Armen geht ein in den göttlichen Plan.“

Bei der „arbeitenden Rasse“ à la Rougon-Macquart verwies die Tiermetaphorik auf die „Bestie“ und die „wilden Tiere“ – worauf lange Zeit auch der koloniale Rassismus anspielte, wenn er von den „Wilden“ sprach. Die Rasse, die Luc gründen will, ist im Gegenteil – nach dem Vorbild des Phalanstère [utopische Siedlung nach Fourier, Anm. d. Red.] und der „verwirklichten Harmonie“ – die des „Bienenstocks“. Zufällig veröffentlichte ebenfalls 1901 Maurice Maeterlinck „Das Leben der Bienen“, ein Werk, das beunruhigende zoomorphe Interpretationen auf den Plan rufen sollte. In „Arbeit“ bleibt das Thema Fruchtbarkeit des ersten Bandes der „Vier Evangelien“ virulent, und Zolas Namensgebungen sind alles andere als Zufall: Während das „Menschen fressende“ Bergwerk in „Germinal“ La Voreux („Gierschlund“) heißt, trägt hier die utopische Fabrik den verheißungsvollen Namen La Crêcherie (von crèche – Krippe).

Zum Mindesten erinnert Zolas Stadt der Zukunft mit der verschworenen Gemeinschaft ihrer Mitglieder, mit ihrer Ordnung, mit ihrem erdrückenden Hygienismus, mit der Art, wie sie sich – charakteristisch für die paternalistische Doktrin, wonach der Arbeitgeber es sich schuldig ist, seinen Arbeitern alles zu sein – von der restlichen Nation und dem Staat absondert, ebenso wie mit ihrer ganzen Künstlichkeit stark an die Stadt des „Königs Babar“, in der Jean de Brunhoff dreißig Jahre später auf ähnliche Weise, Arbeit und Harmonie rühmend, seine junge Leserschaft erbauen will: „Lasst uns fröhlich arbeiten, so wird das Glück uns treu bleiben“, sagt Babar.

Der Roman „Arbeit“ rühmt die soziale Harmonie und den neuen Menschen – beide auf Grundlage der Fourier‘schen Trias eines „breiten Bündnisses von Kapital, Arbeit und Begabung“ (Letztere wird unter Zolas Feder zur „Intelligenz“). Der Gastgeber „Jordan würde das nötige Geld beisteuern, Bonnaire und seine Kameraden würden ihre Arme leihen, er wäre der Kopf, der denkt und lenkt“; das wäre dann „das sichere Verschwinden der Lohnabhängigkeit“ (1, V).

Die Solidarität

KAUM hat Luc das Buch „Solidarité“ wieder zugeschlagen, hat er sein Schicksal klar vor Augen: Er „beugt sich dem Ruf der Elenden […], er würde sie durch die Erneuerung der Arbeit retten“ (1, V). Später schildert der Roman, wie das „schwarze Getrampel der Besitzlosen“ ihn mit einer derart aktiven „Frömmigkeit“ erfüllt, dass er schwört, „für das Los dieser Elenden sein Leben hinzugeben“ (2, II). Sein Leben hingeben: Seit Jesus und den Märtyrern weiß man, welche Vorstellungen von Überlegenheit und Macht ein solches Vorhaben transportieren kann.

Im Mittelpunkt der Stadt der endlich befreiten Arbeit, die Luc errichtet, steht er selbst – seine Macht über sie, sein Einfluss. Er bringt seine Schachfiguren in Stellung, indem er allen (rationalen, sozialen, finanziellen, moralischen) Aspekten einer drohenden industriellen Katastrophe ein sentimentales Register hinzufügt – daraus entsteht die literarische Übersetzung des synkretistischen Theoriegebäudes. Luc „besitzt“ zunächst die Arbeiterin Josine, die er so vor der Rasse rettet, als Präfiguration der Rettung der ganzen Menschheit. Besitzen, das heißt „ein Kind machen“, und man fühlt sich an das Leitmotiv in „Fruchtbarkeit“ erinnert: „Fortan war Josine seine Frau. Sie gehörte ihm, ihm allein, da sie schwanger ging mit seinem Kind“ – denn Luc hatte sie dem schlechten Ragu abgejagt (2, IV). Da Zola schlecht sagen kann, dass Luc die Arbeitswelt besitzt, lässt er Josine die Menschheit verkörpern, und zwar mittels einer interessanten Vermischung von Macht und Besitz – im Schlepptau das ganze schwere Erbe der den eigenen Unterdrücker austragenden Frau: „Es ist ein Sohn, ein kleiner Mann, ich habe es doch gesagt! […] Danke, Danke, Josine! Danke für das schöne Geschenk! Ich liebe dich und danke dir, Josine!“ (2, V).

In dem Maße, wie die neue Fabrik aufgebaut wird, bald darauf auch die idyllische Stadt mit ihrer Schule, ihrem Gemeinschaftshaus, ihren Spielstätten, ihren Bädern und ihren „Läden der Allgemeinheit“, in dem Maße, wie man sich dem Kitschroman annähert, schrumpft unter der Fuchtel von Luc die Führungsriege. Und man gelangt zum Schlusstableau des von seinen drei Frauen umgebenen Apostels, die ihn anhimmeln und alles für ihn tun: „Sie gingen überall dorthin, wo es eine Schwachstelle zu schützen, einen Schmerz zu lindern, eine Freude zu erwecken gab“ (3, I). Diese gleichsam zu Nonnen gewordenen Frauen „nannte er lächelnd seine drei Tugenden, und erklärte sie, jede auf ihre Weise, als eine Erweiterung seiner Liebe, Vorbotinnen all dessen, was er an liebreizender Zärtlichkeit in der Welt hätte finden wollen“. Ein Gegenentwurf zur Bigamie Emile Zolas, der glücklich gewesen wäre, wenn sich in seinem eigenen Leben alles so harmonisch gefügt hätte.

Gegen Ende von „Arbeit“, kurz vor der Auflösung, taucht endlich wie ein fehlendes Puzzlestück, das man nicht mehr zu finden hoffte, fast wie ein Versprecher in einem weitschweifigen Satz, der die Abstammung einer der zahlreichen, von Zola sorgfältig arrangierten, eugenischen Heiraten erzählt, das fehlende Wort auf: Charles, aus Luc „hervorgegangen“, wird da vorgestellt als der „Sohn des Herrn von La Crêcherie“ (3, IV). „Herr“: Man bekommt das Gefühl, wieder am Ausgangspunkt angelangt zu sein.

Doch das Erscheinen von „Arbeit“ wurde von der Linken positiv aufgenommen. Die feministische Journalistin Harlor sollte von „einem neuen Gedicht des Lebens“ sprechen. Die Fourier-Anhänger organisierten ein Bankett. Jean Jaurès fand warme Worte: „Die soziale Revolution hat endlich ihren Dichter gefunden.“ Aus der zugegeben sicheren Distanz eines ganzen Jahrhunderts bleibt jedoch festzuhalten, wie sehr Emile Zolas Unfähigkeit, den szientistischen Mystizismus und den Messianismus aus seinem Gedankengebäude zu tilgen, in Verbindung mit seinem Faible für die Rassentheorie seine Projekte äußerst fragwürdig erscheinen lassen.

Bleiben die schrecklichen Ängste dieses ausgehenden 19. Jahrhunderts, die Zola tief in seinem Innern barg. Die drei Albträume der „drei Tugenden“ Lucs, die den Roman beschließen, zeugen von einem dreifachen Schrecken: Josines Traum von den „Kollektivisten“, Sourettes Traum von den Anarchisten und Suzannes Traum vom totalen Krieg verraten, warum ein Zola, den all dies ängstigte – und wer wollte ihm darin hundert Jahre später nicht Recht geben –, sich solch zweifelhaften Glaubensformen hingab.

Die Frage, ob der Glaube an die Arbeit, den der Romancier verkündete, aus dem Glauben an den Menschen resultierte, müssen wir offen lassen. Jaurès jedenfalls bedauerte, dass in dem „bewundernswerten Werk“, das in seiner „epischen Größe“ vergleichbar sei mit der „Legende der Jahrhunderte“, Èmile Zola die Sorge um die „Errichtung der idealen Gesellschaft“ ausgerechnet „zwei wohlhabenden, ihrer Privilegien überdrüssigen Bürgern“14 anvertraut hat und damit dem Proletariat die Fähigkeit absprach, sich zum Subjekt der Geschichte zu erheben.

dt. Christian Hansen

* Anthropologe am Centre National de Recherche Scientifique, Mitarbeiter am Forschungsprojekt Unité de recherches Migrations et Sociétés (Urmis).

Fußnoten: 1 Protagonist der Romantrilogie „Die drei Städte“ (Lourdes, Rom, Paris) (1894–1898) ist Pierre Froment, ehemaliger Priester und Vater der vier „Apostel“, die Zola in seinen „Vier Evangelien“ auftreten lässt. 2 Die dt. Übersetzung von L. Rosenberg (1900–1902 u. ö.) ist nicht mehr lieferbar. Die Übersetzung der Zitate erfolgt nach der frz. Ausgabe von 1928. Der Roman „Arbeit“ ist unterteilt in drei Teile zu je fünf Kapiteln; die Zitatangaben verweisen mit den arabischen Zahlen auf die Teile, mit den römischen Ziffern auf die Kapitel. 3 Die angeborenen Eigenschaften, jene besondere „Chemie, in der die physischen und moralischen Merkmale der Eltern zusammenfließen, ohne dass sich irgendetwas von ihnen in dem neuen Wesen wiederfindet“ (kurz, der Zufall), ergänzt bei Zola das Begriffspaar Rasse/Milieu. 4 Vgl. „Polémiques sur l‘histoire coloniale“, Manière de voir, Nr. 58, Juli/August 2001. 5 Im Kontext geht es um eine Dynastie von Arbeitern, die zu Fabrikeignern aufgestiegen sind, in der paternalistischen Tradition von Hütten- und Minenbesitzern, die Zola als einer der Ersten beschrieben hat. Die Dynastie geht zugrunde und bestärkt die Vorstellung von dem Fluch, der auf der „Arbeiterrasse“ lastet. 6 In London trug er sich unter dem Namen Pascal ins Hotelregister ein. 7 Dieses erste „Evangelium“ ist in der Tat eine Apologie der Großfamilie, mit der Frau am heimischen Herd – und auch des Kolonialismus: „Es gibt in den Kolonie keine fruchtbarere Rasse als die französische […] Und wir werden uns mehren und die Erde bevölkern!“ 8 „Ich werde mich damit begnügen, ein Gelehrter zu sein“, hatte der Autor der „Histoire naturelle et sociale“, – so der Untertitel des „Rougon-Macquart“-Zyklus, angekündigt. 9 Später, als „Arbeit“ entsteht, ist auch Emile Durkheim stark im Gespräch. Der Begründer der rationalistischen Soziologie ging mit der „positivistischen Metaphysik von Herrn Comte“, die Zola so zusagte, hart ins Gericht. Doch seine berühmte Anweisung („Die sozialen Gegebenheiten müssen wie Dinge behandelt werden“) ist offen für durchaus gegensätzliche, von Vergegenständlichung bis zu Naturalisierung reichende Auslegungen. 10 Aus Colette Guillaumin, „Sexe, race, et pratique de pouvoir. L‘idée de la Nature“, Paris (Coté femmes) 1992. 11 Die Brüder Goncourt behaupteten (zitiert nach Armand Lanoux), dass vom ersten Roman des „Rougon-Macquart“-Zyklus an Zolas Interesse „nicht so sehr die Vererbung als vielmehr der Machtwille des Autors“ war. 12 Hier wie später bei Zola ist bemerkenswerterweise die Verbindung von Vererbung mit religiöser Metaphorik allgegenwärtig. 13 Es handelt sich um Hippolyte Renaud. Der Romancier hatte seinerseits 1896 mit Jules Noirot Kontakt aufgenommen, einem glühenden Fourier-Anhänger und Freund von Jean-Baptiste André Godin (ein Fabrikant von Kanonenöfen und Initiator einer Kommunesiedlung neben seiner Gießerei, der familistère). Dieser hatte Zola Godins „Solutions Sociales“ zu lesen gegeben und eben auch „Solidarité“. 14 Gemeint sind Luc und sein Gastgeber Jordan, der bekehrte Kapitalist.

Le Monde diplomatique vom 11.10.2002, von ALAIN MORICE