15.11.2002

Die Kolonialmacht kehrt zurück

zurück

Die Kolonialmacht kehrt zurück

Von PHILIPPE LEYMARIE *

DER Völkermord in Ruanda von 1994 war eine politische und humanitäre Katastrophe. Danach hat die französische Regierung jegliches weitere militärische Engagement in Afrika aufgegeben. Man beschränkte sich auf die gezielte Unterstützung der Friedenstruppen vor Ort.

Gelegentlich wurden französische Staatsbürger gerettet, wie etwa 1997, als sie nach der Einnahme Kinshasas durch die Rebellen von den Ufern des Kongo evakuiert wurden, oder später während des Bürgerkriegs, als sie Brazzaville verlassen konnten.

Die neue Haltung Frankreichs, das zuvor als einzige der früheren Kolonialmächte nicht auf die Stationierung von Truppen in Afrika verzichten wollte, brachte der sozialistische Ministerpräsident Lionel Jospin 1997 auf die Formel: „Weder Gleichgültigkeit noch Einmischung“.1

Als Präsident Konan Bédié Ende 1999 durch den so genannten Weihnachtsputsch entmachtet wurde, weigerte sich die französische Regierung gegen den erklärten Willen von Staatspräsident Chirac, Militär in die Elfenbeinküste zu entsenden. Diese Entscheidung löste in Frankreichs alter Einflusszone ein wahres Erdbeben aus. Nicht nur die „Dinosaurier“, die auf ewig bestallten Staatschefs im frankophonen „Delta“ Afrikas, brachten wenig Verständnis für diese Entscheidung auf: Auch ein führender Vertreter der französischen Streitkräfte meinte damals: „Im Namen der Sicherheit der dort lebenden Franzosen hätte man die Ordnung wiederherstellen und Bédié wieder an die Macht bringen sollen.“2

Am 23. September 2002 erklärte Oberst Charles de Kersabiec, der Kommandeur des 43. Marineinfanteriebataillons, das gerade auf den Flughafen von Yamoussoukro in der Elfenbeinküste vorgerückt war, dass sich das französische Militär auf keinen Fall in einen Konflikt einmischen wolle, der „ausschließlich Gegner in der Elfenbeinküste“ betreffe. Noch eine Woche zuvor, nachdem die Rebellen Bouaké, die zweitgrößte Stadt des Landes, erobert hatten und 2 100 Ausländer (vor allem Franzosen und Amerikaner) evakuiert werden mussten, hatten sich die französischen Soldaten hingegen keineswegs zurückgezogen, sondern die Gegend um die Hauptstadt Yamoussoukro militärisch gesichert.

Frankreich war damit zwischen die Fronten geraten und musste sich Vorwürfe sowohl von den Rebellen in Bouaké wie von den „Patrioten“ in Abidjan anhören. Ein französischer Oberst vor Ort meinte dazu Anfang Oktober: „Wenn die Rebellen hier einfallen, werde ich sie aufhalten.“ Zur gleichen Zeit gab ein Führer der Aufständischen seiner Verärgerung Ausdruck: „Die Franzosen machen uns unnötige Probleme, weil sie als Schutztruppe auftreten. Sie hindern uns am Vormarsch – wir könnten längst in Abidjan sein.“3 Tatsächlich hat sich eine klassische Evakuierungsmaßnahme nach dem „Putsch ohne Gesicht“4 zu einer gezielten Militärintervention entwickelt, an der etwa tausend französische Fallschirmjäger, Marineinfanteristen und Fremdenlegionäre beteiligt waren.

Offiziell dient diese Mission der Verhinderung von Kampfhandlungen so lange, bis die – nicht unumstrittene – Friedenstruppe der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (Ecowas), einer Neuauflage der Ecomog5 , stationiert sein wird. Tatsächlich dürfte es wohl eher darum gehen, Abidjan, den Süden und die wirtschaftlich wichtigen Gebiete des Landes zu schützen, den Vormarsch der Rebellen aufzuhalten und die Front so lange „einzufrieren“, bis sich die ivorischen Regierungstruppen wieder formiert haben – womit bis auf weiteres die faktische Teilung des Staatsgebiets in Kauf genommen wird.

Dass sich die Ziele der „Operation Licorne“ in dieser Weise verschoben haben, zeigt einmal mehr, wie schmal der Grat zwischen den so genannten humanitären Einsätzen und jenen Interventionen ist, die letztlich doch nur eine der Krieg führenden Parteien stützen. Bis zu dem katastrophalen militärischen Abenteuer in Ruanda Mitte der 90er-Jahre war es bei Frankreichs Einsätzen im angestammten Einflussgebiet in den meisten Fällen um Unterstützung für befreundete Machthaber gegangen. Oft unter durchaus fragwürdigen Umständen: etwa bei der brutalen „Säuberung“ der Bamileke-Siedlungsgebiete in Kamerun Anfang der 1960er-Jahre, bei den wiederholten Interventionen im Tschad gegen den Vormarsch der Rebellen aus dem Norden, in den 1970er-Jahren bei einer Reihe von Fallschirmjägereinsätzen in den Bergbaugebieten des damaligen Zaire oder 1990 beim Einmarsch in Gabun.6

Hinzu kam die Unterstützung profranzösischer Söldnertruppen in Angola, Guinea, Benin und auf den Komoren. Offiziell waren diese Einsätze gedeckt durch Verteidigungsabkommen mit sieben Staaten und Verträge über militärische Zusammenarbeit mit 25 Staaten. Frankreich unterhält fünf Truppenstützpunkte (siehe Karte), führt zusammen mit den örtlichen Streitkräften etwa 15 gemeinsame Manöver im Jahr durch und steuert etwa 250-mal jährlich mit französischen Kriegsschiffen afrikanische Häfen an.

Auf Drängen der Regierung, die in Abidjan sitzt, hat sich Paris, wenn auch nach zehntägigem Zögern, einmal mehr entschlossen, der regulären Armee der Elfenbeinküste beizustehen, und zwar in den Bereichen Fernmeldewesen, Truppentransport und Nachschub. Auf das Verteidigungsabkommen zwischen den beiden Ländern wollte man sich nicht beziehen, es sieht Militärhilfe nur im Fall der „Aggression von außen“ vor.7

Offiziell handelt es sich um eine begrenzte „logistische“ Unterstützung im Rahmen der „normalen“ militärischen Zusammenarbeit. Frankreich riskiert dabei allerdings, noch weiter in den Konflikt verwickelt zu werden. Dem ivorischen Oberkommando hat die Hilfe Rückendeckung und neue Zuversicht verschafft. „Frankreich lässt uns nicht im Stich“, erklärte der Verteidigungsminister der Elfenbeinküste, kurz bevor er gefeuert wurde. In den meisten Zeitungen des Landes titelte man: „Paris hält zu Gbagbo“.

Frankreich sorgte für den Schutz und die Evakuierung von afrikanischen Diplomaten und Offizieren der „Kontaktgruppe“ Ecowas und übernahm auf Bitten des ivorischen Präsidenten auch die Überwachung des am 17. Oktober geschlossenen Waffenstillstands. Damit hatte die frühere Kolonialmacht genau die Rolle übernommen, der sie sich immer entziehen wollte: die des Vermittlers zwischen den kampfentschlossenen Regierungsstreitkräften („Wir müssen unsere Truppen nur neu formieren“) und den Rebellen, die nicht zur Aufgabe bereit sind („Wir haben Gbagbo nie getraut“).8

Aus französischer Sicht gab es eine ganze Reihe von Gründen, die für ein Eingreifen sprachen. Zunächst die Befürchtung, das einstige „Schaufenster“ des frankophonen Westafrika könne sich in einen Scherbenhaufen verwandeln – mit unabsehbaren Folgen für die Stabilität in der Region. Zum anderen fühlte man sich unter Druck, weil die USA erstmals Spezialeinheiten in die Region entsandt und damit deutlich gemacht hatten, dass sie Frankreich nicht länger uneingeschränkt vertrauten. Außerdem hatte sich nigerianisches und sogar angolanisches Militär in den Konflikt eingemischt, in dem bereits zahllose Waffenhändler, Söldner, Geheimagenten und diverse Milizen aus den Bürgerkriegen in Liberia und Sierra Leone ihr Unwesen trieben. Und nicht zuletzt ging es darum, ein Zeichen zu setzen und alle anderen „befreundeten“ Regime in Afrika vorsorglich zu beruhigen.

Ein interventionistischer Kurs der französischen Afrikapolitik dürfte allerdings auf das Problem stoßen, dass die öffentliche Meinung in den betroffenen Ländern weniger denn je für ausländische militärische Eingriffe zu gewinnen ist. Auch fehlt dem französischen Militär auf dem schwarzen Kontinent inzwischen jene Erfahrung, die einst ihre Stärke ausgemacht hat: Heute gehören die meisten der in Afrika stationierten Soldaten zu den regulären Truppen Frankreichs, sie werden alle vier Monate abgelöst und verlassen nur selten ihre Kasernen. Die militärische Führung ist seit Jahren mit der „Professionalisierung“ der Armee und ihrer „Öffnung nach Osten“ beschäftigt. Sie hat unter den Regierungen den Linken, von 1981 bis 2002, auch die Lektion gelernt, dass Auslandseinsätze bei der französischen Öffentlichkeit nicht sehr beliebt sind. Vom Enthusiasmus für die „Waffenbrüderschaften“, wie sie am Beginn der Fünften Republik gepflegt wurden, ist nichts mehr zu spüren.

Seit 1998 sind die Haushaltsmittel für Auslandseinsätze und die Stationierung von Militär in Übersee um ein Drittel gekürzt worden. In der Zentralafrikanischen Republik wurden die Stützpunkte Bangui und Bouar geschlossen; im Tschad ging die Zahl der Militärberater innerhalb der letzten zehn Jahre auf ein Sechstel zurück; und Dschibuti, lange Zeit eine Domäne des französischen Militärs, verlangt inzwischen eine Änderung der Verteidigungsabkommen mit Frankreich und hat sich US-amerikanische und deutsche Soldaten ins Land geholt.9

Abgesehen von Kamerun (1975) und den Komoren (1981) stammen die übrigen sechs Verteidigungsabkommen mit afrikanischen Staaten aus der Zeit der „Communauté Française“, dem letzten Versuch Frankreichs Ende der 1960er-Jahre, die früheren Kolonien institutionell einzubinden. Diese Verträge, mit zahlreichen Geheimklauseln bezüglich der Aufrechterhaltung der inneren Ordnung, wurden kaum revidiert, in einzelnen Fällen aufgekündigt (1973 von Madagaskar) und gelten heute als unwirksam.

Der Verteidigungsausschuss des französischen Parlaments forderte im Jahr 2000, Militärbündnisse und Auslandseinsätze mit Beteiligung französischer Truppen der Kontrolle eines „parlamentarischen Gremiums mit Befugnissen in Verteidigungsfragen“10 zu unterstellen.

Zu einer solchen Regelung kam es dann doch nicht, und so wurde dem Parlament zwar im Oktober 2002 eine Debatte über die Irakkrise „gestattet“, zur „Operation Licorne“ in der Elfenbeinküste oder auch zur Regierungspolitik während der politischen und militärischen Krise auf Madagaskar in der ersten Jahreshälfte 2002 konnten sich die Volksvertreter allerdings nicht äußern.

Um jeden Gedanken an eine „Abkehr“ vom afrikanischen Kontinent zu zerstreuen, hält das französische Militär vor allem am neuen System der Unterstützung der afrikanischen Friedenstruppen Recamp (Renforcement des capacités africaines de maintien de la paix) fest, auf das immerhin ein Fünftel des Budgets für die militärische Zusammenarbeit entfällt. Seit 1996 hat es drei Ausbildungsphasen von je zwei Jahren für die Armeen West-, Zentral- und jüngst auch Ostafrikas gegeben (dazu zählten Manöver im Senegal, in Gabun und Tansania). In jeder dieser Großregionen soll eine Art Blauhelmtruppe in Bataillonsstärke aufgestellt werden, mit Versorgungsstützpunkten in Dakar, Libreville und Dschibuti. Ergänzend sind regionale Zentren für militärische Sonderausbildung eingerichtet worden, etwa die „Schule der Friedenssoldaten“ in Zambrakro (Elfenbeinküste).

Der französischen Armee verschafft dieses Projekt eine symbolische Entlastung: Es ist multilateral angelegt, steht unter der Schirmherrschaft von Vereinten Nationen und Afrikanischer Union und fügt sich in das Konzept, dass regionale Sicherheitsfragen künftig von den Afrikanern selbst zu lösen seien.11 Wie die Krise in der Elfenbeinküste zeigt, funktioniert das Ganze aber noch nicht: Sechs Wochen nach Ausbruch der Feindseligkeiten war noch kein einziger afrikanischer „Friedenssoldat“ vor Ort – und Frankreich erneuerte das Band mit den alten Kriegskameraden und schickte 1 500 Soldaten in ein gefährliches Abenteuer.

dt. Edgar Peinelt

* Journalist, Radio France Internationale.

Fußnoten: 1 Siehe Philippe Leymarie, „Frankreichs prioritäre Solidarität“, Le Monde diplomatique, Juni 2002. 2 Libération, 10. Februar 2000. 3 Le Parisien – Aujourd‘hui, 8. und 10. Oktober 2002. 4 Die Rebellen taten sich schwer damit, ihre politischen Ziele zu formulieren. Erst einen Monat nach dem Putsch verkündeten sie die Gründung einer „Patriotischen Bewegung der Elfenbeinküste“. Ihr Generalsekretär Guillaume Soro stammt aus dem Norden des Landes. Er war Anführer des größten Studentenverbandes und gehörte zu den Vertrauten des Oppositionspolitikers Alassane Ouattara. 5 Die Ecomog (Ecowas Cease-Fire Monitoring Group) bestand überwiegend aus nigerianischem Militär und kam vor allem in Liberia und Sierra Leone zum Einsatz. 6 1990 intervenierte Paris, um den Diktator Omar Bongo an der Macht zu halten, kaum drei Monate nach der „Nationalen Konferenz“. 7 Dieses Abkommen wurde kurz nach der Unabhängigkeit der Elfenbeinküste geschlossen und hat seither unverändert Bestand. Es soll eine – bislang nie angewandte – Geheimklausel bezüglich der französischen Unterstützung bei der Aufrechterhaltung der inneren Ordnung enthalten. 8 Äußerungen von Präsident Laurent Gbagbo und Guillaume Soro, dem Generalsekretär der Rebellenbewegung, nach dem Waffenstillstandsabkommen; zit. n. Radio France Internationale, 18. Oktober 2002. 9 AFP, Dschibuti, 30. September 2002. 10 „Les interventions militaires sous l‘oeil du Parlement“, Le Figaro, 9. März 2000. 11 Siehe Manne Dissez und Fouad Srouji „Mbeki, Afrikas zögerlicher Schiedsrichter“, Le Monde diplomatique, Oktober 2002.

Le Monde diplomatique vom 15.11.2002, von PHILIPPE LEYMARIE