Bürgerkrieg im Namen der Ivoirité
DIE Elfenbeinküste befindet sich im nunmehr offenen Bürgerkrieg. Doch die Situation in dem quasi zweigeteilten Land war schon lange so explosiv, dass der Ausbruch offener Kriegshandlungen nur eine Frage der Zeit schien. Die ethnischen und religiösen Konflikte zwischen dem islamischen Norden und dem christlichen Süden wurden jahrzehntelang durch offenen Tribalismus geschürt. Das Eingreifen der französischen Truppen, deren eigentliche Aufgabe es war, den Frieden zu sichern oder wiederherzustellen, scheint den Konflikt noch zu vertiefen. In der Praxis läuft die Präsenz der Franzosen auf die Unterstützung des Regimes von Präsident Gbagbo hinaus.
Von TIEMOKO COULIBALY *
Der Aufstand vom 19. September 2002 in der Elfenbeinküste ist nur der jüngste Beweis für die Schwäche eines Staates, der sich auf ethnische Privilegien gründet. Seit der Unabhängigkeit des Landes sind – hinter einer stabilen Fassade – zentrifugale Kräfte am Werk, die den Staat und seine Institutionen zu zerreißen drohen. In den zahlreichen blutigen ethnopolitischen Konflikten hat sich immer wieder gezeigt, dass dieser Staat niemals demokratisch und unparteiisch war. Die diskriminierten und von der Macht ausgeschlossenen Ethnien mussten ihn stets als Instrument einer bestimmten Volksgruppe wahrnehmen.
Der Streit um die „Ivoirité“ – den Grundsatz, dass für politische Ämter nur kandidieren darf, wer seine Abstammung aus der Elfenbeinküste nachweisen kann – zeigt exemplarisch, wie die Führungsschicht aus dem Süden des Landes die Macht okkupiert hat.1 Keiner der bisherigen Präsidenten hat sein Amt durch wirklich demokratische Wahlen erworben, weder Félix Houphouët-Boigny, noch Henri Konan Bédié oder Robert Guei. Und schon gar nicht Laurent Gbagbo, der sich im Oktober 2000, nach der umstrittensten Wahl in der Geschichte der Elfenbeinküste, einfach zum Sieger ausrief.
Von der Regierung Clinton wurde er damals nicht anerkannt, der französische Entwicklungsminister Charles Josselin kritisierte das „gezielte Ausmanövrieren“ der aussichtsreichsten Bewerber (Konan Bédié und Alassane Ouattara). Für einen großen Teil der Gesellschaft war oder ist der Staat also eine Bedrohung, ein Gegner, dem man misstraut, solange man ihn nicht bekämpfen kann, und gegen den man sich erhebt, sobald sich die Gelegenheit bietet.
Dass es schon unter dem Regime von Houphouët-Boigny Sezessionsbestrebungen gegeben hatte, kam erst im Dezember 2001 auf dem von Laurent Gbagbo einberufenen Forum der nationalen Versöhnung zur Sprache – in der offiziellen Geschichtsschreibung waren sie nie vorgekommen. Zum Beispiel ging es bei der so genannten Sanwi-Krise 1966 um einen Konflikt zwischen den beiden größten Untergruppen innerhalb der herrschenden Ethnie der Akan: Die Agni warfen den Baoulé (zu denen Präsident Houphouët-Boigny gehörte) tribalistische Machtpolitik vor, und ihr Aufstand hatte zum Ziel, ihr Gebiet an Ghana, das Herkunftsland der Akan, anzuschließen. Der Sezessionsversuch wurde blutig niedergeschlagen.2
Auch in der Guébie-Krise 1970 ging es um die politische Vormachtstellung der Baoulé, die damals von den Bété in Frage gestellt wurde. Unter Berufung auf Artikel 7 der Verfassung forderte Kragbe Gnagbe, der aus der Provinz Guébie stammte, vom Präsidenten die Zulassung einer Oppositionspartei. Houphouët-Boigny erklärte Kragbe zum Sezessionisten und überzog die Bété-Siedlungsgebiete mit gnadenloser Repression, der schätzungsweise 4 000 bis 6 000 Menschen zum Opfer fielen. Die Überlebenden sprechen bis heute vom „Völkermord in Guébie“ und fordern nachträglich eine juristische Aufarbeitung wie auch eine Entschädigung.3
In dieser Ära war die Macht der Baoulé (auch Akan genannt) auf ihrem Höhepunkt angelangt. Ihre Ideologie, die von den übrigen Bewohnern der Elfenbeinküste „Akanité“ oder auch „Sefonisme“ genannt wurde,4 sprach den Akan die alleinige Befähigung zur Führung des Landes unter Ausschluss aller anderen Ethnien zu. Dementsprechend begünstigte Präsident Houphouët-Boigny ganz offen seine eigenen Leute. Sein Heimatdorf Yamoussoukro wurde mit staatlichen Geldern ausgebaut und schließlich zur Hauptstadt erklärt.
Auch sein Nachfolger Konan Bédié, der zur selben Ethnie gehörte und schon langfristig für das Präsidentenamt aufgebaut worden war, führte diese Praxis weiter. Laurent Gbagbo, der bedeutendste Oppositionsführer, sprach damals von einer „Erbmonarchie“.
Eine Erbmonarchie auf ethnischer Basis
DIE Staatsideologie der „Akanité“ schuf Vorurteile, die sich hartnäckig am Leben hielten: Die Bété gelten als „gewalttätig“, als „Wilde“, als die „Indianer der Elfenbeinküste“, die man nicht an der Staatsmacht beteiligen kann, weil sie über keine stabilen politischen Strukturen verfügen. Die Bewohner des Nordens – und darin sind sich Bété und Akan aus dem Süden wieder einig – werden mehr oder minder als „Fremde“ betrachtet, als Zuwanderer aus Mali, Burkina Faso oder Guinea. Sie stellen die Arbeitskräfte auf den Plantagen oder das Dienstpersonal in den Häusern der reichen Familien des Südens. Die übelsten Vorurteile sind über Ausländer aus den Staaten der Region im Umlauf. Ghanaische Frauen gelten als „Huren“, und die ivorische Regierungszeitung Fraternité Matin betrieb in den 1970er- und 1980er-Jahren ihre Propaganda mit der immer wiederkehrenden Behauptung, die kriminellen Banden in Abidjan kämen allesamt aus Burkina Faso.
Weitaus folgenreicher ist aber, dass diesen „Fremden“ und ihren Kindern (sie stammen überwiegend aus Mali und Burkina Faso) mit allen Mitteln die ivorische Staatsbürgerschaft verweigert wird, obwohl sie seit Jahren, ja oft seit Jahrzehnten im Lande leben. Dabei garantiert die erste Verfassung der Elfenbeinküste jedem Menschen, der fünf Jahre im Land ansässig war, das Recht, die Staatsbürgerschaft zu erlangen – egal woher seine Vorfahren stammen.5
Die Gründe für diese Verletzung des Staatsbürgerschaftsrechts sind offensichtlich: Es liegt nicht im natürlichen Interesse der Führungsschicht aus dem Süden, den Personalausweis, der das aktive und passive Wahlrecht verleiht, den Mitgliedern einer Bevölkerungsgruppe zu geben, die aufgrund historischer und kultureller Affinitäten vorwiegend Kandidaten aus dem Norden wählen würden. Diese Millionen von „Fremden“ wieder in ihr Recht auf Staatsbürgerschaft einzusetzen gehört ohne Zweifel zu den wichtigsten Aufgaben einer Regierung, die mit der aktuellen Staatskrise fertig werden will. Denn es geht nicht an, dass – 42 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung und der Schaffung einer ivorischen Staatsbürgerschaft – die Frage, wer eigentlich ein Ivorer ist, unbeantwortet bleibt.
Trotz ihrer früheren Streitigkeiten untereinander hatte sich die politische Elite aus Akan und Bété hinter dem Konzept der „Ivoirité“ verschanzt. Dass die Bevölkerung des Nordens, jene „zweifelhaften Ivorer“ fremder Herkunft, auch nur daran denken könnten, die „wahren Ivorer“ mit ihrer „jahrhundertealten“ Tradition aus der Macht zu drängen, war für sie völlig unvorstellbar. Überdies war der Norden muslimisch und der Süden christlich, was die Polarisierung noch eindeutiger zuspitzte.
Präsident Houphouët-Boigny ließ in Yamoussoukro eine gigantische Basilika errichten, Ausdruck seiner Überzeugung von der Überlegenheit des Katholizismus über den Islam. Während die katholischen Schulen aus der Staatskasse finanziert wurden, hatten islamische Bildungseinrichtungen keinerlei Recht auf öffentliche Zuschüsse. Staatliche Radio- und Fernsehsender übertrugen die meisten Sonntagsgottesdienste, und katholische Festtage waren Staatsfeiertage, während die muslimischen Feste nicht anerkannt wurden. Auch heute noch wird zum Doyen des diplomatischen Corps in Abidjan stets der apostolische Nuntius, der Botschafter des Vatikans, bestimmt. Und die katholische Kirche in der Elfenbeinküste hat nie einen Hehl aus ihrer Unterstützung für die Führungsriege aus dem Süden gemacht.
Für die muslimische Bevölkerungsmehrheit waren diese Diskriminierungen schwer zu ertragen. Beim Übergang von der „Akanité“ zur ethnisch breiter gefassten „Ivoirité“ (als Ideologie des Südens), in deren Namen die Bevölkerung gegen die Bewohner des Nordens aufgehetzt wurde, bediente weiter eingefleischte ethnische und religiöse Vorurteile. Das musste zwangsläufig irgendwann zur Bildung einer nationalistischen Bewegung im Norden führen.
In den 1960er- und 1970er-Jahren hatte es Sezessionsbestrebungen allerdings allein unter den ethnischen Gruppen im Süden (Baoulé, Agni, Bété) gegeben. Die Bevölkerung des Nordens hatte dagegen nicht rebelliert, obwohl sie ständig einer Politik der ethnischen Diskriminierung ausgesetzt war. Doch Präsident Houphouët-Boigny hatte sich den Norden mittels dauerhafter Bündnisse mit den Führern der Stämme, insbesondere mit Amadou Gon Coulibaly, dem Chef der Senoufo, botmäßig gemacht. In den traditionellen Gemeinschaften ist das Wort des weltlichen und geistlichen Führers heilig; deshalb beklagte man sich nur halblaut über Armut und wirtschaftliche und wie politische Marginalisierung.
Das änderte sich radikal mit dem Auftritt einer jüngeren Generation, die offen gegen „Unrecht und Diskriminierung“ anging und vor allem dagegen, dass das Regime des Südens ihnen die Staatsbürgerschaft absprach. Viele Beobachter sahen in dieser Offensive schon damals den Beginn einer neuen Sezessionsbewegung.
Die derzeitigen Kriegshandlungen, an denen auf Seiten des Nordens überwiegend sehr junge Soldaten beteiligt sind, signalisieren das Ende der Tradition der Unterwerfung und den Beginn eines neuen Nationalismus. Mitglieder des Militärs aus dem Norden hatten schon seit Monaten erklärt, die politische Vormachtstellung des Südens sei nur noch durch einen Krieg zu brechen. Auf dem politischen Parkett war für den Norden nichts mehr zu gewinnen, und die ethnischen Säuberungen innerhalb der Armee nahmen dramatische Ausmaße an.6
Die Erhebung richtete sich logischerweise vor allem gegen die tribalistische Politik. Die Aufständischen forderten unter anderem, die im Jahr 2001 erfolgten Beförderungen in der Gendarmerie rückgängig zu machen. Diese rekrutiert sich zu 80 Prozent aus Angehörigen der Bété und der Dida, wobei aus der einen dieser im Westen der Elfenbeinküste siedelnden Ethnien der Präsident Laurent Gbagbo stammt, aus der anderen sein damaliger Verteidigungsminister Lida Kouassi.
Auch die Politik der Ethnisierung innerhalb der Armee geht auf das Regime von Houphouët-Boigny zurück. Unter diesem hatte es keinen Verteidigungsminister gegeben, der nicht der ethnischen Gruppe des Präsidenten oder gar direkt seiner Familie angehört hätte (wie etwa sein Neffe Konan Banny). Dabei ging es natürlich darum, die Macht des Clans langfristig abzusichern.
Houphouët-Boignys Nachfolger Konan Bédié setzte diese Tradition fort. Und als 1999 Robert Guei – der am 20. September 2002 unter ungeklärten Umständen ermordet wurde – durch einen Staatsstreich an die Macht kam, bemühte er sich ebenfalls, die Machtverhältnisse innerhalb des Apparats zu seinen Gunsten umzugestalten. So setzte er seine beiden Stellvertreter (die Generäle Abdoulaye Coulibaly und Palenfo, beide aus dem Norden) ab und ließ sie unter dem Vorwand verhaften, sie hätten sich gegen seine Kandidatur zu den geplanten Präsidentschaftswahlen gestellt. Eine Säuberungsaktion innerhalb der Armee veranlasste hunderte von Militärs, die aus dem Norden stammten, zur Flucht nach Burkina Faso, wo sie vom Regime unter Blaise Compaoré freundlich aufgenommen wurden. Zu diesen Deserteuren gehörte auch „IB“ (Ibrahim Coulibaly), ein populärer Anführer der gegenwärtigen Rebellion.
Um seinen direkten Einfluss in der Armee zu stärken, rekrutierte Robert Guei außerdem hunderte junger Soldaten für eine Truppe, die dem Präsidenten direkt unterstand und für die ein eigener Haushaltstitel im knappen Staatsbudget eingerichtet wurde.
Auch Gueis Nachfolger Laurent Gbagbo organisierte sich direkt nach seiner Machtübernahme eine Prätorianergarde. Zunächst vergab er die Kabinettsposten für Verteidigung und innere Sicherheit an Lida Kouassi und Boga Doudou, zum Chef des Generalstabs wurde General Mathias Doue ernannt. Alle drei stammten aus Gbagbos Heimatregion. Sie betrieben die Aufstellung einer Miliz, die sich allein aus der Ethnie der Bété rekrutierte. Inzwischen hat diese Formation offenbar innerhalb der Armee, der Polizei und der Gendarmerie Schlüsselfunktionen übernommen.7
Die damit verbundenen Entlassungen betrafen vor allem Militärs, die aus dem Norden stammten – häufig wurden sie verhaftet und der Verschwörung angeklagt. Auch die von Guei rekrutierten Hundertschaften erschienen Gbagbo als Bedrohung. Er setzte alles daran, die Truppe wieder aufzulösen, als Vorwand dienten zum einen die Budgetknappheit, zum anderen die Notwendigkeit einer „Modernisierung“ der Streitkräfte.
Doch genau diese Tribalisierung im Interesse seiner kleinen ethnischen Gruppe macht es Präsident Gbagbo heute so schwer, ohne ausländische Hilfe – aus Frankreich, Angola oder anderen Ländern – gegen die aufständischen Truppen zu bestehen, die gut organisiert und hoch motiviert sind und sich nicht spalten lassen.
Gbagbo hat kaum Rückhalt in der Bevölkerung, weil seine Macht nicht demokratisch legitimiert ist und vor allem weil er alle wichtigen Positionen ausschließlich an Mitglieder seines Clans vergeben hat. Selbst die Akan, die schließlich gemeinsam mit den Bété immer noch das Bollwerk der „Ivoirité“ bilden, mussten immer wieder Protest erheben: Die entscheidenden Ämter gingen stets an den kleinen Stamm aus dem Westen. Warum sollten Mitglieder des Militärs aus anderen Regionen im Namen der „vaterländischen“ Ideale des Südens ihr Leben riskieren, um ein Regime zu verteidigen, in dem die Bété alle Macht an sich gebracht haben?
Der erste Angriff der Rebellen am 19. September, gegen Stützpunkte der Armee und der Gendarmerie in Abidjan und Bouaké, hat die militärische Führung des Regierungslagers ganz erheblich geschwächt. Manche Quellen besagten, dass dabei auch viele Soldaten gefallen sind, aber entscheidend war, dass wichtige Führungsoffiziere von Armee und Gendarmerie getötet wurden, die zur Entourage von Präsident Gbagbo gehörten.8
Zur allgemeinen Überraschung hielt sich Generalstabschef Mathias Doue, der als gewiefter Taktiker gilt, mit öffentlichen Erklärungen zurück. Präsident Gbagbo, der seit der Entlassung von Lida Kouassi zugleich Verteidigungsminister ist, sieht sich vor einem großen Problem: Auf seine Truppen ist wenig Verlass, sie sind zerstritten, kampfunwillig, schlecht ausgerüstet und ohne effektive Führungsstruktur. Glaubt man der Propaganda der Rebellen, so sind bereits viele Soldaten desertiert.
Diese Entwicklung kommt nicht überraschend, schließlich hat das Regime ganz auf seine Elitetruppe, die Gendarmerie, gesetzt und die Polizei und das schlecht ausgerüstete Militär an den Rand geschoben. Innerhalb der Sicherheitskräfte hat es in der letzten Zeit bereits einige Racheaktionen gegeben, und sie dürften nicht die einzigen bleiben.9
Die allgemeine Paranoia und Untergangsstimmung in Abidjan wird auch dadurch verstärkt, dass es den Rebellen nach ihrem Angriff auf die Militärlager der wirtschaftlichen Hauptstadt offenbar gelungen ist, sich in Luft aufzulösen. Um ihnen auf die Spur zu kommen und sie auszuschalten, hat Präsident Gbagbo erst einmal den gnadenlosen Abriss von Hütten in den Slums um Abidjan angeordnet. Und im Hafen kommt durch die ständigen Durchsuchungen der Warenverkehr fast zum Erliegen.
Die Rebellen werden offenbar von der Bevölkerung einiger Nachbarländer unterstützt – Grund genug für das Regime der Elfenbeinküste, den Regierungen dieser Staaten Einmischung in den Konflikt vorzuwerfen. Präsident Gbagbo musste ins entferntere Ausland, nämlich bis nach Angola reisen, um die dringend benötigte militärische Hilfe zu bekommen.
Einen Ausweg aus der Krise wird die Elfenbeinküste nicht finden, wenn die politische Führung des Landes zu einer grundlegenden Erneuerung außer Stande ist. Die derzeit herrschende Kaste ist durch ihre Praxis des ethnischen Nepotismus10 und der Korruption diskreditiert. Und diese Praxis ist der eigentliche Grund für die bewaffnete Erhebung und den chaotischen Zustand der ivoirischen Gesellschaft.
dt. Edgar Peinelt
* Historiker