Hinter jedem Geschäftsmann ein General
NACH dem Tod von Hafis al-Assad im Sommer 2000 hatte dessen Sohn Baschar eine demokratische Öffnung des Landes versprochen. Als Zeichen des Fortschritts galt zum Beispiel die überfällige Reform des Pressegesetzes. Der „Frühling von Damaskus“ schien die Zensur zu beschränken und den Spielraum für die Kritik an der allgemeinen Korruption zu erweitern. Doch mittlerweile hat der Einparteienstaat unter Berufung auf „syrische Sonderbedingungen“ seine Herrschaftsstrukturen erneut gefestigt. Im Januar 2002 stellte der syrische Cartoonist Ali Farzat das Erscheinen seiner ein Jahr zuvor gegründeten ersten privaten Wochenzeitung des Landes ein.
Von JUDITH CAHEN *
Dreißig Jahre hatte in Syrien die Alleinherrschaft des Hafis al-Assad gedauert. Als er am 13. Juni 2000 starb, hofften nicht nur Regimegegner und Vertreter der Zivilgesellschaft auf eine Demokratisierung. Auch innerhalb der Baath-Partei waren viele überzeugt, dass mit Assads designiertem Nachfolger, seinem Sohn Baschar, eine Wende eintreten könne: Der junge und weltläufige neue Führer stand für ein Programm der Modernisierung und der Korruptionsbekämpfung. Zwar waren viele Beobachter skeptisch, weil die Nachfolge an der Parteispitze so schnell geregelt wurde1 und die Machthaber sogleich die „syrischen Sonderbedingungen“ betonten, die angeblich keine Einführung der Demokratie erlaubten. Aber da der neue Staatspräsident erklärte, die öffentliche Meinung müsse künftig mehr respektiert werden, fühlten sich zunächst viele ermutigt, mehr Demokratie und Achtung der Menschenrechte zu fordern.
„Das Volk muss wieder zu Wort kommen. Und das Parlament muss wieder zur Kontrollinstanz des Staates werden. Wenn es keine Rückkehr zu republikanischen Prinzipien gibt, bleibt Syrien, was es in der Vergangenheit war: eine totalitär regierte Republik, geführt von einer Herrscherdynastie.“ So formulierte es im Juni 2000 Rijad Turk, der Vorsitzende des „Politbüros der Kommunistischen Partei“, der nach 15 Jahren Haft aus dem Gefängnis freigekommen war. Solche mutigen Äußerungen machten ihn zu einer Führungsfigur des „Frühlings von Damaskus“2 . Auch in der arabischen Presse außerhalb Syriens wurde damals die Rückkehr zum Rechtsstaat und zum Mehrparteiensystem angemahnt. Und so unterschiedliche Gruppierungen wie die Londoner Sektion der Muslimbruderschaft, Anwaltsvereinigungen, Vertreter der Syrer im Ausland und eine Gruppe „99 Intellektuelle“ forderten die Freilassung aller politischen Gefangenen und die Aufhebung des Ausnahmezustands, der seit der Machtübernahme des Baath-Regimes im Jahre 1963 herrscht.
In Damaskus und den meisten anderen Städten entstanden die muntadajat, private Diskussionsgruppen, die großen Zulauf hatten. Misstrauisch beäugt von der Einheitspartei, schufen sich hier Universitätslehrer, Oppositionspolitiker, aber auch viele einfache Bürger ein Forum der Kritik an Korruption und Nepotismus. Diskutiert wurden hier aber auch Themen wie die Einführung der parlamentarischen Demokratie, Meinungsfreiheit und Freilassung der politischen Gefangenen.
Im September 2001 reagierten die Machthaber, die schon ein halbes Jahr zuvor die Grenzen der Toleranz abgesteckt hatten.3 Zehn Aktivisten der Demokratisierung, die sich nicht an die neuen Regeln hielten, wurden verhaftet, darunter Rijad Turk und Rijad al-Seif, der einzige unabhängige Abgeordnete im Parlament. Ende August 2002 verurteilte die Justiz diese Vorkämpfer der Demokratie zu Haftstrafen zwischen zwei und zehn Jahren. Angeblich hatten sie „die Verfassung in Frage gestellt, zum bewaffneten Aufstand aufgerufen und religiöse Streitigkeiten gefördert, das Nationalgefühl verletzt und falsche Informationen verbreitet“.
Ausländische Beobachter führten die Verhaftung von Rijad al-Seif darauf zurück, dass er im Parlament auf Unregelmäßigkeiten bei der Gründung der Mobiltelefongesellschaften SyriaTel und Investcom hingewiesen hatte. Hauptaktionär beider Firmen ist Rami Machluf, ein Vetter von Baschar al-Assad. Seif hatte zu bedenken gegeben, der syrische Staat habe, anders als in den meisten Ländern der Welt, am Verkauf der Mobilfunklizenzen überhaupt nichts verdient und die Betreibergesellschaften müsse nicht einmal Gewerbesteuer zahlen.
Haissam Maleh, Präsident der syrischen Menschenrechtsvereinigung (ADHS), gegen den jüngst ein Haftbefehl erlassen wurde, sieht es so: „Diese Verhaftungen waren ein deutliches Signal der Machthaber an die Zivilgesellschaft. Dabei muss das Regime diese Bewegung nicht fürchten, auch glaubt niemand in Syrien an einen gewaltsamen Umsturz. Aber in Angst leben nicht nur die Menschen, sondern auch die Herrschenden – sie fürchten, ihre Privilegien zu verlieren.“ Die Gruppierungen, die den „Frühling von Damaskus“ bewirkt hatten, waren allerdings keine geschlossene Bewegung, und vor allem hatten sie keinen Rückhalt in der Bevölkerung.
Y., der sich mit Ausländern nur im Café verabredet, weil die Wohnungen der Regimegegner meist überwacht werden, schaut skeptisch in seine Mokkatasse und scheint nichts Gutes aus dem Kaffeesatz zu lesen. Er war lange Zeit Mitglied in der Kommunistischen Partei von Rijad Turk und hat einige Jahre im Gefängnis gesessen. Y. sieht die Lage düster: „Die jungen Leute unterliegen vom Kindergarten bis zur Universität dem Einfluss der Baath-Partei. Im besten Fall wollen sie bloß eine gute Ausbildung, im schlimmsten Fall wollen sie reich werden, egal wie. Eigentlich gibt es in Syrien keine Opposition, höchstens eine „oppositionelle Haltung“, die darin besteht, Modernisierung und eine Art „Glasnost“ zu fordern. Die verschiedenen Strömungen der Regimegegner sind wie Volksstämme, die nebeneinander existieren, aber zu keinem Bündnis fähig sind. Sie konnten die Jugend nicht für sich gewinnen, was vielleicht daran liegt, dass sich ihr politisches Vokabular in den letzten fünfzig Jahren nicht verändert hat.“
Die Jugendlichen in den Städten unterscheiden sich kaum von ihren Altersgenossen in europäischen Großstädten: In Damaskus sind Laptop-Computer und modische street wear angesagt. Man trifft sich neuerdings in der Altstadt, wo es Internetcafés und Restaurants gibt. Am Freitagabend, wenn das muslimische Wochenende beginnt, sind die Diskotheken in der Medina überfüllt. In den Straßen sieht man Mädchencliquen, Gymnasiastinnen, die mit gleichaltrigen Freunden Zärtlichkeiten austauschen, und sogar Frauen, die auf der Straße rauchen.
Das Regime verhalte sich wieder wie gehabt, meint ein Diplomat: „Man sieht zwar weniger Porträts des Präsidenten in der Öffentlichkeit, aber sonst ist alles beim Alten. Bevor er die Macht übernahm, konnte man Baschar al-Assad überall begegnen, er trat ganz ungezwungen auf. Heute ist er nicht mehr zu sehen, und er äußert sich nicht mehr zu innenpolitischen Fragen – keine Ansprachen im Fernsehen, keine Interviews mit den syrischen Medien.“
Natürlich war das traditionelle politische System nie bedroht. Mehr denn je enspricht es heute der sprichwörtlichen dschumlukia.4 Um sich als neuer Machthaber bestätigen zu lassen, musste Baschar al-Assad einen Kongress der Baath-Partei einberufen, was es seit 1985 nicht mehr gegeben hatte. Obwohl die Partei kurzzeitig mit der Tendenz des „Frühlings“ liebäugelte, schloss sie sich dann doch um die alte politische Elite zusammen. Schließlich wollte sie die „führende Rolle“ in Syrien nicht verlieren. Die einzige Neuerung bestand darin, dass einige Vertraute des neuen Staatspräsidenten (8 der 36 Minister) mit Ressorts von wirtschaftlicher Bedeutung, aber ohne politisches Gewicht bedacht wurden.
Ein Zugeständnis von Assad junior war die Reform des seit 1949 unverändert geltenden Pressegesetzes. Sie machte zwar die Herausgabe neuer Zeitungen möglich, aber nach wie vor kann jedes Blatt verboten werden, das die „nationale Einheit“ in Frage stellt oder die „Sicherheit“ gefährdet. Und für die „Verbreitung falscher Nachrichten“ drohen Strafen bis zu drei Jahre Gefängnis und Bußgelder bis zu 18 000 Dollar. Ein Universitätslehrer in Damaskus sieht in dem neuen Gesetz lediglich die Institutionalisierung der Zensur: „Es nützt allein den Söhnen der Parteibosse, die über gute Beziehungen im Machtapparat und die nötige wirtschaftliche Potenz verfügen.“
Tatsächlich stehen hinter allen Neuerscheinungen auf dem Pressemarkt politische Gruppierungen, die der Baath-Partei verbunden sind. Geleitet werden die neuen Blätter von Freunden und Verwandten Baschar al-Assads oder von Söhnen mächtiger Parteifunktionäre. Die Inhaftierung Rijad al-Seifs und anderer, die wegen ihrer öffentlichen Äußerungen ins Gefängnis wanderten, kommentierten die neuen Zeitungen noch unversöhnlicher als die offiziellen Regierungsorgane.
Zur Korruption in Syrien meint ein europäischer Diplomat mit leicht zynischem Unterton: „Hinter jedem Geschäftsmann steht ein General, der ihn nicht aus den Augen lässt. Die Korruption ist hier allgegenwärtig. Ein Beispiel: Jeder kleine Oberst in der Armee erhält eine staatliche Zuteilung von Dieselkraftstoff. Was macht er damit? Er verkauft sie zum Höchstpreis an Taxiunternehmer. Die meisten Mitglieder des Machtapparats sind nur darauf bedacht, zu Geld zu kommen – egal, ob unter kapitalistischem oder sozialistischem Vorzeichen. Vielleicht werden sie ihre Begeisterung für die Demokratie entdecken, wenn sie erst begriffen haben, dass im Kapitalismus noch mehr zu holen ist.“
Das chinesische Modell soll Schule machen
UM von der fehlenden Demokratie abzulenken, betont die Regierung stets die Notwendigkeit wirtschaftlicher Reformen. Aber welche Reformen? Wann soll es damit losgehen? Immerhin sind 20 Prozent der syrischen Erwerbsbevölkerung arbeitslos, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt bei unter 1 000 Dollar,5 in etwa zwei Jahren wird es mehr als acht Millionen Syrer zwischen 15 und 35 Jahren geben, fast die Hälfte der Bevölkerung.
Obwohl 2001 das Gesetz Nr. 28 über die Zulassung privater Banken beschlossen wurde, lässt die Eröffnung der ersten nichtstaatlichen Bank, ursprünglich für 2002 geplant, noch auf sich warten. Bislang gibt es noch nicht einmal das geplante Aufsichtsorgan, das für die Zentralbank und alle öffentlichen und privaten Bankgeschäfte zuständig sein soll. Für Banken, die einen Antrag auf Zulassung stellen, sind zwei Prüfungsphasen von jeweils drei Monaten vorgesehen. Seit 1991 sind private Investitionsgeschäfte erlaubt, aber auf diesem Sektor tut sich kaum etwas, und ausländische Investitionen machen dabei kaum 1 Prozent aus. Natürlich fragt man sich als Anleger, ob man in einem Land investieren soll, wo die Justiz auch in Wirtschaftsdingen ganz offensichtlich nach der Pfeife der Machthaber tanzt.6 Am 11. Juli 2002 erklärte der Industrieminister Issam al-Zaim, ein ehemaliger Kommunist, der heute zu den Vertrauten von Baschar al-Assad zählt, dass man dem chinesischen Modell folgen und wirtschaftliche Reformen ohne politische Veränderungen in Gang setzen wolle.
Obwohl der Libanon nach wie vor unter syrischer Oberherrschaft steht, sind dort in den letzten beiden Jahren deutliche Fortschritte im Bereich der Meinungsfreiheit zu verzeichnen. Die in Syrien verbotene Tageszeitung An-Nahar lässt in ihrem Feuilleton – geleitet von Elias Khoury, einem renommierten Schriftsteller und Theatermann – regelmäßig auch Vertreter der syrischen Opposition zu Wort kommen. Khoury meint dazu: „Schon vor dem Tod von Hafis al-Assad haben einige Intellektuelle im Libanon gegen die in Syrien geltenden Tabus opponiert. Ihr Eintreten für die Meinungsfreiheit gehört heute zu dem umfassenden Kampf für die Demokratie im Libanon.“ Am 5. Juli 2002 versammelten sich Vertreter der libanesischen Linken und der christlichen Opposition auf der Hauptstraße in Beiruts Geschäftsviertel Hamra zu einem Sitzstreik für die Freilassung von Rijad Turk.
Die Entwicklungen in der Region – von der palästinensischen Intifada bis zum Wahlsieg Ariel Scharons – und die Anschläge vom 11. September hatten zur Folge, dass Syrien sich im „falschen Lager“ wiederfand.7 Das erneute Anwachsen der politischen Spannungen bot dem Regime den willkommenen Vorwand, sich abermals einer demokratischen Öffnung zu verweigern. Aber dank der regionalen Konflikte eröffneten sich auch für die syrische Opposition neue Möglichkeiten, ihre Kritik wenigstens indirekt zu formulieren. Als die israelische Armee im Frühjahr 2002 mit der Belagerung des palästinensischen Flüchtlingslagers Dschenin begann, gab es in Damaskus einen 42 Stunden dauernden Sitzstreik vor der UN-Vertretung und im eleganten Stadtviertel Abou Roumané, wobei die Parolen und Transparente natürlich in keiner Weise auf die Politik des Regimes bezogen waren. An diesen Aktionen waren bis zu 5 000 Menschen beteiligt, berichtet ein syrischer Intellektueller: „Die Machthaber waren in der Zwickmühle. Propalästinensische Kundgebungen gelten grundsätzlich als erwünscht, also konnten sie die Aktionen nicht verbieten. Sie durften aber auch nicht einfach zusehen, denn die Partei führte nicht Regie, und es war zu befürchten, dass Kritik an der Untätigkeit des Regimes angesichts der Lage der palästinensischen Brüder laut werden könnte. Daher wählten sie einen anderen Weg, um die Demonstrationen zu entschärfen: Sie karrten ganze Busladungen von jungen Baathisten und Mitarbeitern der Staatssicherheit Muchabarat heran, um vor Ort die zahlenmäßige Übermacht zu haben.“
In Damaskus ist die alte Garde wieder obenauf. Eine Amnestie für die politischen Gefangenen in Syrien, wie sie Hafis al-Assad nach Angaben seines Biografen Patrick Seale angestrebt hatte,8 wäre moralisch geboten und könnte dem Land ein besseres Image verschaffen. Aber Baschar al-Assad tritt auf, als halte er seine Macht noch auf dreißig Jahre hinaus für gesichert. Die Zeit der Massenverhaftungen ist vorbei, doch so wie Assad junior mit den Problemen umgeht, scheint eine Parole aus der Zeit seines Vaters zur düsteren Prophezeiung zu werden: „Assad li‘l abad ua baad al abad – Assad für immer und ewig!“ Der 1997 verstorbene syrische Dramatiker Saadallah Wannus hat es treffender ausgedrückt: Die Syrer sind „zur Hoffnung verdammt“.
dt. Edgar Peinelt
* Dozentin für Nahostfragen (Paris).