15.11.2002

Mauern gegen den Frieden

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Mauern gegen den Frieden

UM ihre eigenen Irakpläne vorantreiben zu können, haben die Amerikaner den Friedensplan des „Quartetts“ (UNO, USA, Russland, EU), der für 2005 einen palästinensischen Staat vorsieht, wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Doch Israels Ministerpräsident Scharon hat den Vorschlag der internationalen Gemeinschaft strikt abgelehnt, insbesondere jeglichen Rückzug aus den besetzten Gebieten. So gewinnt er Zeit, seinen Mauerbau voranzutreiben und damit das Territorium Israels gewissermaßen aufzurunden. Vor allem die geplante Doppelmauer um Jerusalem schafft territoriale Fakten, die kaum reversibel sind und die den palästinensischen Anspruch auf die Stadt völlig übergehen.

Von MATTHEW BRUBACHER *

Zwischen Israel und dem Westjordanland entsteht derzeit eine 360 Kilometer lange Sicherheitsmauer, die dreimal länger und doppelt so hoch ist wie die Berliner Mauer. Damit wird ein erheblicher Teil des Westjordanlandes annektiert; die militärischen Pufferzonen um die palästinensischen Bevölkerungszentren werden ausgedehnt und die Bewohner dieser Zonen praktisch in ein offenes Gefängnis gesperrt.

Die erste „Mauer“, die Israel gebaut hat, war der lückenlose Elektrozaun, mit dem Gaza während der ersten Intifada (1987–1993) hermetisch abgeriegelt wurde. Dank dieses Zaunes konnte Israel damals nicht nur die Oberhoheit über seine 16 Siedlungen sichern, sondern auch die Bewegungen der Palästinenser kontrollieren. Heute hält Israel immer noch 20 Prozent des Territoriums von Gaza besetzt, während sich die 1,2 Millionen Palästinenser auf einer in drei Kantone untergliederten ursprünglich ländlichen Fläche drängen.

Der Bau einer Mauer um das Westjordanland bedeutet, dass den dort lebenden Palästinensern ein ähnliches Schicksal bevorsteht wie ihren Landsleuten in Gaza. Der erste Abschnitt der Mauer wird zwischen Israel und dem größten Teil des nördlichen Westjordanlands verlaufen. Diese Mauer, die innerhalb der 1967 besetzten Gebiete entsteht und entlang der Waffenstillstandslinie verläuft, wird jedoch zahlreiche jüdische Siedlungen Israel anschließen, mehrere wichtige palästinensische Ortschaften einmauern und andere palästinensische Siedlungen auseinander reißen. Die Ortschaft Qaffin etwa verliert 60 Prozent ihrer landwirtschaftlichen Fläche, andere Regionen wie die von Kalkilya büßen nicht nur Land ein, sondern werden auch noch vom Westjordanland wie von Israel abgeschnitten. Die Mauer in dieser Gegend wird Israel weit über eine Million Dollar pro Kilometer kosten. Sie wird aus einer acht Meter hohen Betonmauer, einem zwei Meter tiefen Graben, einem Stacheldraht und einer Straße für Sicherheitspatrouillen bestehen und alle dreihundert Meter mit einem Wachturm bestückt sein.

Der erste, 95 Kilometer lange Abschnitt dieser nördlichen Mauer verläuft von Salem bis Kfar Kassem. Mit ihr annektiert Israel de facto ein Territorium, das 1,6 Prozent des Westjordanlands ausmacht, auf dem 11 illegale israelische Siedlungen stehen und 10 000 Palästinenser leben. Israel will sich dieses Gebiet so komplett einverleiben, dass dieser Schritt bei den Verhandlungen über den endgültigen Status von Israel/Palästina schon wegen der hohen Kosten nicht mehr rückgängig zu machen ist. So gesehen lässt sich die Mauer auch als Strategie verstehen, die „Grüne Linie“ – die Waffenstillstandslinie vom Ende des 6-Tage-Krieges von 1967 – zugunsten Israels zu verschieben.

Der Bau der Mauer rund um Ostjerusalem bedeutet auch das Ende aller Bestrebungen der Palästinenser, ihren Staat auf die Region Jerusalem auszudehnen. Während die Mauer im Norden an keinem Punkt mehr als acht Kilometer tief in das Westjordanland vordringt, wird sie bei Jerusalem viel weiter in palästinensisches Gebiet hineinreichen. Die Mauer im Norden und die Mauer um Jerusalem folgen also offensichtlich nicht derselben Logik.

Laut den israelischen Minimalforderungen, die den von der Regierung Barak bei den Friedensverhandlungen in Camp David und Taba gemachten Vorschlägen entsprechen, will man im Norden auch die stadtähnlichen Siedlungen innerhalb des Westjordanlandes für Israel erhalten. Die Mauer im Norden wird also keine politische Grenze darstellen, wie es Ministerpräsident Ariel Scharon und sein ehemaliger Verteidigungsminister Ben Eliezer auch mehrfach betont haben. Dagegen spiegelt die Mauer, die um Jerusalem herum geplant ist, sehr wohl die territorialen Interessen und wird also tatsächlich auch eine politische Grenze sein.

Um die Herrschaft der Israelis über „Greater Jerusalem“1 zu sichern, konzentriert die Regierung ihre Aktionen auf diese Gegend. Nach dem Plan mit dem Titel „Jerusalem einbetten“, den Scharon Anfang dieses Jahres autorisiert hat, wird der erste Bauabschnitt der Mauer sowohl das ganze Stadtgebiet von Jerusalem (so wie es durch Israel nach 1967 definiert wurde) als auch die weiter außerhalb gelegenen Siedlungsstädte Givon (im Norden) und Maale Adumin (im Osten) einschließen.

Diese Einverleibung von „Greater Jerusalem“ in das israelische Staatsgebiet bringt beträchtliche Probleme mit sich – denn damit werden auch sehr viele Palästinenser „einverleibt“. Daran wird deutlich, dass Sicherheitsinteressen und demografische Interessen nicht in Einklang zu bringen sind. Um dieses Problem zu lösen, versucht Israel, zwei Mauern um Jerusalem herum zu bauen. Da ist zunächst eine innere Mauer, die das Gebiet innerhalb der israelisch definierten Stadtgrenzen abtrennt. Doch darüber hinaus ist eine zweite, äußere Mauer vorgesehen, die auch die Siedlungsblöcke umfasst.

Der Unterschied zu mittelalterlichen Festungsmauern besteht darin, dass die neuen Mauern um Jerusalem vor allem aus einem Elektrozaun und einer Patrouillenstraße bestehen werden; stellenweise sollen sie auch mit Gräben und Betonmauern verstärkt und mit Überwachungskameras ausgestattet werden. Beide Mauern muss man sich als eine Art Kettenring vorstellen, welcher die bereits bestehenden israelischen Siedlungen und die Militärposten, die schon heute von einzelnen Sicherheitskordons umgeben sind, systematisch miteinander verbindet. So wird die israelische Herrschaft auch über das Gebiet zwischen den Siedlungen lückenlos gesichert.

Nach dem heutigen Stand der Dinge sind die Mauern im Raum Jerusalem vor allem dazu gedacht, die israelischen Gebiete von den palästinensischen Bevölkerungszentren zu trennen. Im Norden der Stadt haben die Israelis schon eine Mauer quer über den Flughafen von Kalandiyahy gebaut, die als Grenze zwischen Jerusalem und Ramallah fungiert. Im Osten verläuft eine Betonmauer entlang dem Ölberg, die sich zwischen die palästinensischen Gemeinden Abu Dis und Asaria und Jerusalem schiebt. Im Süden wurde eine Mauer mit vorgelagertem Graben gebaut, die nicht nur Bethlehem von Jerusalem scheidet, sondern auch ein beträchtliches Stück des Gemeindelandes abzwackt, das Bethlehem nach 1967 noch verblieben ist. Damit haben die Israelis nebenbei auch noch Rachels Grab annektiert, eine für Juden wie für Muslime heilige Stätte, die eigentlich tief innerhalb der Gemarkung von Bethlehem zwischen zwei palästinensischen Flüchtlingslagern gelegen ist.

Da es gegen dieses israelische Vorgehen keinerlei internationalen Proteste gibt, plant Jerusalems Bürgermeister Ehud Olmert eine weitere Mauer um Kufr Aqab und das Flüchtlingslager Qalandia. Die palästinensischen Bewohner dieser Gegend, die im äußersten Norden des israelischen Jerusalem liegt, haben Jerusalemer Personalausweise und zahlen israelische Steuern, ohne die entsprechenden kommunalen Dienstleistungen zu erhalten. Im Gegenteil: der Checkpoint von Kalandiyahy versperrt ihnen den freien Zutritt nach Jerusalem. Und überdies plant Olmert nun noch eine Mauer, die das Gebiet auch noch vom Westjordanland abschneidet. Damit werden die Bewohner praktisch in einem virtuellen Gefängnis leben.

Wenn die Mauer vom Norden des Westjordanlands bis nach Jerusalem fertig gestellt sein wird, wird Israel über 7 Prozent dieses Gebietes annektiert haben, was 39 Siedlungen mit etwa 270 000 Bewohnern einschließt – aber auch 290 000 Palästinenser, von denen 70 000 keine israelischen Bürger sind. Diese haben also kein Recht auf Bewegungsfreiheit oder auf Sozialleistungen – obwohl der Staat sie von ihrer Lebensbasis im Westjordanland abschneiden wird. Diese 70 000 Menschen werden also unter höchst prekären Bedingungen leben und einem ständig zunehmenden Emigrationsdruck ausgesetzt sein. Und die Fortsetzung der Mauer im Süden in Richtung Hebron wird die Annexion von noch einmal etwa 3 Prozent des Westjordanlandes mit sich bringen.

Mit dem Bau der Mauer und der weiteren Expansion der Siedlungen folgen die Israelis der bekannten Logik: „Was wir heute bauen, wird uns morgen gehören.“ Ihre Handlungen verstoßen zwar gegen das Völkerrecht und gegen dutzende von UN-Resolutionen, aber es gibt keine politischen Instrumente, um sie zu stoppen. Je stärker bewehrt und befestigt die Siedlungen sind, desto schwieriger und teurer wird es, sie zu beseitigen. Damit gewinnt das Kriterium, das der frühere US-Präsidenten Bill Clinton im Dezember 2000 in Camp David für einen künftigen Jerusalem-Kompromiss eingeführt hat, einen ganz anderen dynamischen Sinn. Die Formel „Was jüdisch ist, wird israelisch, was arabisch ist, ist palästinensisch“ scheint jede israelische Expansion zu legitimieren, die bis zum Beginn künftiger Verhandlungen stattgefunden haben wird.

Die internationale Gemeinschaft steht heute offensichtlich hinter dem Nahostplan des „Quartetts“ (USA, EU, Russland, UN), der den Neubeginn von Verhandlungen über eine endgültige Friedensregelung innerhalb von drei bis fünf Jahren vorsieht. Aber sie macht sich kaum Gedanken über die Frage, welche Art von Palästinenserstaat dann überhaupt noch zur Debatte stehen wird. Da allein schon die Mauer den Palästinensern 10 Prozent ihres Territoriums im Westjordanland wegnehmen wird und da die israelischen Siedlungen sich in allen besetzten Gebiete weiter ausbreiten, ist die Verhandlungsposition der Palästinenser massiv unterminiert

Wenn es also eine Chance für die Wiederaufnahme von Verhandlungen im Rahmen einer Zweistaatenlösung geben soll, muss die internationale Gemeinschaft heute durchsetzen, dass der Siedlungsbau eingefroren und die Rückführung von Siedlern aus den besetzten Gebieten nach Israel gefördert wird. Eine solche politische Initiative kann nicht so lange aufgeschoben werden, bis alle möglichen Vorbedingungen erfüllt sind oder gar ein Waffenstillstand zustande kommt.

Künftige Friedensverhandlungen werden sich mit sehr viele Aspekten befassen müssen, aber die Siedlungen und der Bau der Mauer sind vordringliche Themen, da eine reale und akute Bedrohung nicht nur für den Frieden in der gesamten Region darstellen. Sie gefährden auch den Gesamtrahmen einer Friedensregelung und die Perspektive einer künftigen Koexistenz zwischen zwei unabhängigen und lebensfähigen Staaten.

aus dem Engl. von Niels Kadritzke

* Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Orient House in Ostjerusalem (das von der israelischen Regierung am 10. August 2001 geschlossen wurde) und Berater der palästinensischen Autonomiebehörde zur Jerusalemfrage.

Le Monde diplomatique vom 15.11.2002, von MATTHEW BRUBACHER