Der Terror und die Gegengabe
Von JEAN BAUDRILLARD *
GIBT es eine Zwangsläufigkeit der Globalisierung? Alle Kulturen mit Ausnahme der unseren entgingen auf die eine oder andere Weise der Fatalität des indifferenten Tauschs. Wo befindet sich die kritische Schwelle des Übergangs – zunächst zum Universellen und dann zum Globalen? Was ist das für ein Taumel, der die Welt zur Abstraktion der Idee drängt, sowie jener andere Taumel, der sie zur unbedingten Realisierung der Idee drängt?
Denn das Universelle war eine Idee. Dort, wo sie sich im Globalen realisiert, begeht sie als Idee, als ideelles Ziel, Selbstmord. Da das Humane zur einzigen Bezugsinstanz geworden ist und die selbstimmanente Menschheit den leeren Platz des toten Gottes eingenommen hat, ist das Humane von nun an Alleinherrscher, verfügt jedoch über keinen Endzweck mehr. Da es keinen Feind mehr besitzt, generiert es ihn im Inneren und sondert dabei allerlei inhumane Metastasen ab.
Daher rührt die Gewalt des Globalen – ein System, das Negativität und Singularität in jeder Form verfolgt, inklusive jener äußersten Form von Singularität, die der Tod selbst darstellt; die Gewalt einer Gesellschaft, in der Konflikte und Tod uns letztlich virtuell verboten sind; eine Gewalt, die in gewisser Weise der Gewalt selbst ein Ende bereitet und die bestrebt ist, eine von aller natürlichen Ordnung (sei es des Körpers, des Geschlechts, der Geburt oder des Todes) befreite Welt zu installieren. Man müsste also weniger von Gewalt (violence) als vielmehr von Virulenz (virulence) sprechen. Denn diese Gewalt ist viral: Sie operiert mittels Ansteckung und Kettenreaktion, und sie zerstört nach und nach all unsere Immunitäten und unsere Widerstandskräfte.
Doch die Würfel sind noch nicht gefallen, die Globalisierung hat nicht im Vorhinein gewonnen. Wir sehen, wie angesichts dieser homogenisierenden und zersetzerischen Macht überall heterogene, nicht allein differente, sondern antagonistische Kräfte ihr Haupt erheben. Es gilt, hinter den immer heftigeren sozialen und politischen Widerständen gegen die Globalisierung mehr zu erkennen als eine archaische Verweigerung: vielmehr eine Art schmerzlichen Revisionismus bezüglich der Errungenschaften von Moderne und „Fortschritt“, nicht nur eine Ablehnung der globalen Technostruktur, sondern auch eine Ablehnung der mentalen Struktur, die auf einer Äquivalenz aller Kulturen basiert. Diese Auflehnung kann gewaltsame, anomalische, in den Augen unseres aufgeklärten Denkens irrationale Erscheinungsformen annehmen – kollektive, ethnische, religiöse oder sprachliche Formen –, aber auch individuelle Formen, Verhaltensstörungen ebenso wie Neurosen. Es wäre ein Irrtum, diese Ausbrüche als populistisch, archaisch oder gar terroristisch zu verurteilen. Alles, was heute Ereignis wird und Aufsehen erregt, tut dies im Gegensatz zu dieser abstrakten Universalität – das gilt auch für den Antagonismus zwischen dem Islam und den westlichen Werten (denn gerade weil der Islam die heftigste Anfechtung dieser Werte ist, ist er heute der Feind Nummer eins).
Wer kann dieses globale System zum Scheitern bringen? Gewiss nicht die Antiglobalisierungsbewegung, deren Ziel nur darin besteht, die Deregulierung zu bremsen. Wie beachtlich ihre politische Wirkung auch sein mag, ihre symbolische Wirkung ist gleich null. Diese Gewalt ist immer noch eine Art interner Umschwung, über den sich das System hinwegsetzen kann und dabei weiterhin Herr der Dinge bleibt.
Was das System zum Scheitern bringen kann, sind nicht positive Alternativen, sondern Singularitäten. Nun sind diese aber weder positiv noch negativ. Sie sind keine Alternative, sondern gehören einer anderen Ordnung an. Sie gehorchen keinem Werturteil mehr und auch keinem politischen Realitätsprinzip. Sie können folglich das Beste und das Schlechteste sein. Und sie können folglich in keiner historischen Gesamtaktion zusammengeführt werden. Sie bringen jedes dominante Einheitsdenken zum Scheitern, sind aber ihrerseits kein Gegen-Einheitsdenken, sie erfinden vielmehr jede ihr eigenes Spiel und ihre eigenen Spielregeln.
Singularitäten sind nicht notwendig gewaltsam. Einige sind subtil – wie die der Sprache, der Kunst, des Körpers oder der Kultur; andere sind tatsächlich gewaltsam – und zu diesen anderen gehört der Terrorismus. Diese Singularität rächt all jene singulären Kulturen, die die Installierung der alleinigen Weltmacht mit ihrem Verschwinden bezahlt haben.
Es handelt sich also nicht um einen „Zusammenstoß der Kulturen“, sondern um eine beinahe anthropologische Konfrontation zwischen einer undifferenzierten Universalkultur und allem, was sich – in welchem Bereich auch immer – ein Stück unreduzierbare Andersheit erhalten hat.
Der Weltmacht, die genauso fundamentalistisch ist wie die religiöse Orthodoxie, gelten alle differenten und singulären Formen als Häresien. Daher sind sie dazu verdammt, entweder – freiwillig oder gewungenermaßen – in den Schoß der Weltordnung zurückzukehren oder aber unterzugehen. Die Mission des Westens (oder vielmehr des Ex-Westens, denn er besitzt schon lange keine eigenen Werte mehr) besteht darin, die vielfältigen Kulturen mit allen Mitteln dem unerbittlichen Gesetz der Äquivalenz zu unterwerfen. Wenn eine Kultur die eigenen Werte verloren hat, muss sie sich an denen der anderen rächen. Selbst die Kriege – wie der in Afghanistan – zielen jenseits politischer und ökonomischer Strategien darauf ab, die Wildheit zu normalisieren, alle Territorien auf Linie zu zwingen. Ziel ist es – geografisch wie mental gesehen – jede Widerstandszone zu minimieren, sämtliche wilden Räume zu kolonisieren und zu domestizieren.
Die Errichtung des globalen Systems ist das Resultat einer rasenden Eifersucht: der Eifersucht einer indifferenten Kultur niedriger Auflösung gegenüber hochaufgelösten Kulturen; der Eifersucht desillusionierter Systeme, die an Intensität eingebüßt haben, gegenüber Kulturen mit hoher Intensität; der Eifersucht säkularisierter Gesellschaften gegenüber Kulturen oder Formen, die vom Opfer bestimmt werden.
Für ein solches System ist jede widerständige Form potenziell terroristisch.1 Dies gilt auch für Afghanistan. Dass auf einem bestimmten Territorium sämtliche „demokratischen“ Freiheiten und Freizügigkeiten – die Musik, der Fernseher oder gar das Gesicht der Frauen – verboten sein können, dass ein Land das genaue Gegenteil von all dem tun könne, was wir als Zivilisation bezeichnen (auf welches religiöse Prinzip man sich dabei auch immer berufen mag), ist für den Rest der „freien“ Welt unerträglich. Niemand thematisiert, dass man der Moderne auch ihren universellen Anspruch streitig machen kann. Dass die Moderne jemandem nicht als die Evidenz des Guten und als natürliches Ideal der Gattung erscheint, dass gar die Universalität unserer Sitten und Werte in Frage gestellt wird (und sei es durch gewisse Geister, die sogleich als fanatisch bezeichnet werden), all dies gilt dem Einheitsdenken und dem alles angleichenden Horizont des Westens als kriminell.
Diese Konfrontation lässt sich nur im Lichte der symbolischen Verpflichtung verstehen. Um den Hass des Rests der Welt auf den Westen zu verstehen, muss man alle Perspektiven umkehren. Es geht hier nicht um den Hass derer, denen man alles genommen und nichts zurückgegeben hat, sondern um den Hass derer, denen man alles gegeben hat, ohne dass sie es zurückgeben können. Es geht also nicht um Hass aufgrund von Beraubung und Ausbeutung, sondern um Hass aufgrund von Demütigung. Sie ist es, auf die der Terrorismus des 11. September antwortet: Demütigung gegen Demütigung. Das Schlimmste für die Weltmacht ist nicht, angegriffen oder zerstört zu werden, sondern gedemütigt zu werden. Und durch den 11. September ist sie gedemütigt worden, denn die Terroristen haben ihr etwas aufgezwungen, was sie nicht erwidern bzw. zurückgeben kann. All die Repressalien sind nur ein Mechanismus physischer Vergeltung, während tatsächlich die Niederlage auf einer symbolischen Ebene liegt. Der Krieg ist eine Antwort auf die Aggression, aber nicht auf die Herausforderung. Die Herausforderung kann nur dadurch angenommen werden, dass man den anderen seinerseits demütigt (aber gewiss nicht dadurch, dass man ihn in Grund und Boden bombardiert oder – wie in Guantánamo – wie einen Hund einsperrt).
Grundlage aller Herrschaft ist die Abwesenheit von Gegenleistungen – immer noch derselben Grundregel gemäß. Die einseitige Gabe ist ein Akt der Macht. Und das Reich des Guten, die Gewalt des Guten besteht gerade darin, zu geben, ohne dass eine Gegenleistung möglich wäre. Das bedeutet, die Position Gottes einzunehmen. Oder die des Herrn, der dem Sklaven – im Austausch gegen dessen Arbeit – das Leben gewährt (doch ist die Arbeit keine symbolische Gegenleistung, die einzige Antwort bleibt letztendlich die Revolte und der Tod). Daher hatte Gott dem Opfer Raum gegeben. In der traditionellen Ordnung gibt es immer die Möglichkeit, etwas in Form des Opfers zurückzugeben, sei es Gott, der Natur oder sonst einer Instanz. Ebendies gewährleistet das symbolische Gleichgewicht der Wesen und Dinge. Heute haben wir niemanden mehr, dem wir etwas zurückgeben, dem wir die symbolische Schuld zurückzahlen könnten – und genau darin besteht der Fluch unserer Kultur. Nicht dass in ihr die Gabe unmöglich wäre, sondern die Gegengabe ist unmöglich, da sämtliche Wege des Opferns neutralisiert und entschärft wurden (übrig bleibt nur jene Parodie von Opfer, wie sie in allen derzeitigen Formen der Opferinszenierungen sichtbar wird).
Auf diese Weise befinden wir uns in der unerbittlichen Lage, zu empfangen, unablässig zu empfangen, allerdings nicht mehr von Gott oder von der Natur, sondern von einem technischen Dispositiv des generalisierten Tauschs und der allgemeinen Zuteilung. Uns ist alles virtuell gegeben und wir haben ein Recht auf alles – ob wir wollen oder nicht. Wir befinden uns in der Situation von Sklaven, denen man das Leben gewährt hat und die nun durch eine untilgbare Schuld gebunden sind. All dies kann dank der Einbindung in den Tausch und die ökonomische Ordnung lange Zeit funktionieren, an einem bestimmten Moment aber siegt die fundamentale Regel, dann antwortet auf diese positive Übertragung unweigerlich eine negative Gegenübertragung, eine gewaltsame Abreaktion auf dieses Leben in Fesseln, auf dieses geschützte Dasein, diese Sättigung des Daseins. Dieser Rückschlag nimmt entweder die Form offener Gewalt an (hierzu gehört der Terrorismus) oder die Form ohnmächtiger Verweigerung, wie sie für unsere Moderne charakteristisch ist, die Form von Selbsthass und Gewissensbissen – alles negative Leidenschaften, die eine degradierte Form der unmöglichen Gegengabe darstellen.
Was wir an uns verachten, das obskure Objekt unseres Ressentiments, ist genau dieses Übermaß an Realität, dieses Übermaß an Macht und Komfort, diese universelle Verfügbarkeit, diese definitive Erfüllung – ebenjenes Schicksal, das Dostojewskis Großinquisitor für die domestizierten Massen vorsieht. Genau dies aber verdammen die Terroristen an unserer Kultur – und hierher genau rührt das breite Echo ebenso wie die Faszination, die vom Terrorismus ausgeht.
Der Terrorismus beruht also sowohl auf der Verzweiflung der Gedemütigten und Beleidigten als auch auf der unsichtbaren Verzweiflung der Privilegierten der Globalisierung, auf unserer eigenen Unterwerfung unter eine integrale Technologie, eine erdrückende virtuelle Realität, eine Herrschaft der Netze und Programme, die vielleicht das Regressionsprofil der gesamten Gattung skizziert, jenes „global“ gewordenen Menschengeschlechts (entspricht nicht die Herrschaft der menschlichen Gattung über den Rest des Planeten jener des Westens über den Rest der Welt?). Und diese unsichtbare Verzweiflung – die unsere – ist unwiderruflich, denn sie resultiert aus der Realisierung all unserer Wünsche.
Wenn der Terrorismus also aus dem Übermaß an Realität und deren unmöglichem Tausch, aus dieser verschwenderischen Fülle ohne Gegenleistung, aus dieser erzwungenen Auflösung der Konflikte resultiert, dann ist es eine völlige Illusion, ihn wie ein objektives Übel ausmerzen zu wollen, denn so wie er ist, in seiner Absurdität und seinem Nicht-Sinn, ist er das Urteil und die Strafe, die diese Gesellschaft über sich selbst verhängt.
dt. Markus Sedlaczek
* Französischer Philosoph, Soziologe und Schriftsteller; zuletzt erschien auf Deutsch: „Der Geist des Terrorismus“ und: „Paroxysmus“, Jean Baudrillard und Peter Engelmann (Herausgeber), aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, Wien (Passagen Verlag) 2002. Weitere Bücher: „Der unmögliche Tausch“, aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, Berlin (Merve Verlag) 2000. „Das perfekte Verbrechen“, aus dem Französischen von Riek Walther, München (Matthes & Seitz Verlag) 1996. „Das System der Dinge – Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen“ aus dem Franösischen von Joseph Garzly, Frankfurt (Campus Fachbuch) 1991. „Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene“, aus dem Französischen von Michaela Ott, Berlin (Merve Verlag) 1992. „Der symbolische Tausch und der Tod“, München (Matthes & Seitz Verlag) 1982.