15.11.2002

Es geht kein Zug nach Ploce

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Es geht kein Zug nach Ploce

Das von der Europäischen Kommission initiierte transeuropäische Verkehrsnetz legt insgesamt zehn paneuropäische Verkehrswege fest, die den mittel-, ost- und südosteuropäischen Ländern die infrastrukturelle Anbindung an die Europäische Union liefern sollen. Sie bestehen aus Straßen, Schienen und Flüssen und heißen „Korridore“. Korridor V, genauer: V c, führt von Venedig über Triest, Ljubljana, Budapest, Osijec und Sarajevo nach Ploce. Derzeit werden die letzten Streckenabschnitte der Autobahn zwischen Budapest und dem Adriahafen gebaut.

Von JEAN-ARNAULT DÉRENS *

ZWISCHEN Budapest und der kroatischen Hafenstadt Ploce verläuft über Sarajevo in Bosnien-Herzegowina der paneuropäische Verkehrskorridor V c.1 Auf der Landkarte existiert er bereits, in der Wirklichkeit ist noch nicht viel von ihm zu erkennen. Er dient der Ausweitung des Handels zwischen Regionen, die sich noch vor wenigen Jahren im Krieg befanden. Aber nur ein paar unverbesserliche Optimisten glauben, dass der Korridor helfen wird, die alten Wunden zu schließen. Viele Beobachter haben für die oft beschworene Aussicht auf wirtschaftliche Entwicklung nur ein müdes Lächeln übrig.

In Budapest sollen sich eines Tages mehrere solcher Korridore kreuzen. Damit würde die Rolle der ungarischen Hauptstadt als Drehscheibe aufgewertet. Bahnlinien führen schon heute durch die wohlhabenden Vorstädte, in denen die neue Mittelklasse des Landes lebt. Bei den Wahlen im April dieses Jahres musste die nationalistische Rechte um Victor Orban den Sozialisten das Feld überlassen – aus den Exkommunisten sind inzwischen eifrige Verfechter der Liberalisierung und der EU-Integration geworden. Der Skandal um den neuen Ministerpräsidenten Peter Medgyessy, der wenige Wochen nach der Wahl als ehemaliger Informant der politischen Polizei enttarnt wurde, wird an der Europafixierung des Landes wenig ändern können.

Ungarn sieht sich als Zentrum Mitteleuropas und hat sein Blick ist fest in Richtung Westen gerichtet. Der Süden hingegen steht nur für Sommertouristen auf der Prioritätenliste: An der Küste Dalmatiens und Montenegros sind ungarische Feriengäste gern gesehen, doch die Budapester Geschäftsleute machen sich nicht viel aus den Ländern Exjugoslawiens. Sogar der Hafendirektor von Ploce am anderen Ende des Korridors V c räumt ein, dass der ungarische Markt seinen Hafen überhaupt nicht nötig hat. Der Binnenstaat Ungarn setzt für seine wirtschaftlichen Entwicklungsstrategien fast ausschließlich auf den Straßen- und Schienenverkehr und auf ein bisschen Donauschifffahrt.

Das Desinteresse der Ungarn an ihren südlichen Nachbarn beruht nicht unbedingt auf Gegenseitigkeit. Im Frühjahr 2002 bewegte sich eine endlose Kolonne bosnischer Lastwagen in Richtung Ungarn, weil Bosnien und Kroatien noch immer kein eigenes Saatgut produzieren können. Eigentlich wäre der Weg aus den nördlichen Landesteilen Bosniens nach Ungarn in wenigen Stunden zu bewältigen, doch mit den Grenzkontrollen muss man mindestens einen Tag einkalkulieren. Die Lastwagenfahrer, die sich am kroatisch-ungarischen Grenzposten auf stundenlanges Warten einrichten, haben vom V c-Korridor gehört, aber sie haben ihre Zweifel, ob es ihn je geben wird. „Für Bosnien gibt‘s immer nur Projekte und Ankündigungen, aber nie etwas Konkretes“, meint Milos, ein Lkw-Fahrer aus dem nordbosnischen Brčko.

Für Bosnien sind die Saatgutimporte lebenswichtig, für Ungarn ist dieser Exportmarkt eher zweitrang. Die bosnische Landwirtschaft hat sich vom Krieg noch nicht erholt, von der kroatischen ist nach der Privatisierung so gut wie nichts übrig geblieben. Seit dem Abbau der Handelshemmnisse überschwemmen landwirtschaftliche Erzeugnisse aus EU-Lagerbeständen den kroatischen Markt und machen der einheimischen Landwirtschaft Konkurrenz. Das Resultat: Die Lebensmittel in den kroatischen Geschäften sind teuer und häufig von schlechter Qualität, während die heimische Agrarwirtschaft daniederliegt.2

Die großen Agrarkombinate in der slawonischen Ebene unmittelbar hinter der ungarischen Grenze haben außer dem zukunftsträchtigen Handel mit transgenen Pflanzensorten nicht mehr viel zu bieten. Einige Kilometer außerhalb von Osijek hat das Agronomische Forschungsinstitut von Zagreb Versuchsfelder von mehreren hundert Hektar Größe mit Stacheldraht umzäunt.

Zurück nach Ungarn. Nur in der Großstadt Pecs im Süden des Landes scheint man ein gewisses Interesse für den berühmten Korridor V c aufzubringen. In einer schmucken Villa im Stadtzentrum liegt das Informationsbüro für EU-Angelegenheiten. Ein Beamter zeigt auf Berge von Akten zum EU-Beitritt Ungarns. Er kramt nach der Mappe zum Thema Korridor und muss eine Weile suchen, bis er fündig wird. Im Vordergrund steht hier eher die Euroregion, die außer dem Kreis Pecs die slawonischen Bezirke Kroatiens und den bosnischen Kanton Tuzla umfasst.

Der Beamte meint: „Die Region von Pecs hat dieselbe Kultur wie Slawonien, wir haben eine lange gemeinsame Geschichte, waren gemeinsam Teil des österreichisch-ungarischen Reichs. Beide Regionen zeichnen sich durch ein Völker- und Religionengemisch aus. In der Gegend von Pecs leben auch Kroaten, Serben, Ruthenen, Slowaken und Ukrainer. Das Gleiche gilt für Slawonien.“ Mit einem Anflug von Bedauern fügt er hinzu: „Die kulturellen Bindungen zu Bosnien sind natürlich weniger eng.“

In Osijek, der Hauptstadt des kroatischen Slawonien, hat die Euroregion viele begeisterte Anhänger. Einer von ihnen ist Miljendo Turjaski, Leiter des „Büros für lokale Demokratie“ und entschlossener Gegner des Nationalismus à la Franjo Tudjman. Das Büro will die erst in Ansätzen entwickelte demokratische Kultur stärken und den autoritären Tendenzen des Regimes in Zagreb etwas entgegensetzen. „Unsere Bindungen an Serbien und Bosnien sind natürlich besonders stark, weil wir ähnliche Sprachen sprechen. Die Euroregion versucht, diesen historisch und geografisch verbundenen Raum mit neuem Leben zu füllen.“

Die Initiative zur Schaffung einer Euroregion ging von den örtlichen Gemeinden aus, die sich den nationalistischen Bestrebungen ihrer jeweiligen Zentralregierung erfolgreich widersetzten. Osijek war schon immer eine Hochburg der Tudjman-Gegner, und der Kanton Tuzla ist fest in der Hand der bosnischen Sozialdemokraten. Begeisterte Zustimmung findet die Euroregion auch beim Leiter der Handelskammer von Osijek, der jedoch einräumt, dass ihm die Entwicklung des Handels mit der Region jenseits der Donau mehr am Herzen liegt als die Verstärkung der Handelsbeziehungen mit Bosnien. Im Februar vorigen Jahres veranstaltete das „Büro für lokale Demokratie“ einen runden Tisch über diese die „transdanubische Achse“, das dem paneuropäischen Verkehrskorridor VII entspricht. Seit dem Übergang Jugoslawiens zur Demokratie knüpft Slawonien mit der auf der anderen Seite der Donau gelegene Vojvodina zwar neue Beziehungen, doch hält sich der flussüberschreitende Handel bislang noch sehr in Grenzen.

Der Gründer des Büros, Damir Jurić, sitzt als einziger Abgeordneter der „Regionalistischen Partei von Slawonien und Baranja“ im kroatischen Parlament. Auch er sieht im multiethnischen Charakter der Region einen großen Vorteil. Die österreichisch-ungarischen Armeen eroberten Slawonien im 18. Jahrhundert von den Türken zurück. In dieser Randregion der Doppelmonarchie ließen sich Bauern unterschiedlichster Herkunft nieder, während die militärischen Vorposten vor allem mit Serben besetzt wurden. Die kroatischen Regionalisten, die im ebenfalls multiethnischen Istrien großen Einfluss besitzen, unterscheiden strikt zwischen Nationalismus – hinter dem immer eine ethnisch homogene Gruppe stehe – und Regionalismus, der versucht, die gesamte Bevölkerung einer Region um ein Entwicklungs- und Demokratisierungsprojekt zu vereinen.

Dieses Verständnis von Regionalismus findet auch bei der Autonomiebewegung in der benachbarten serbischen Vojvodina Anklang; ähnliche Strömungen entwickeln sich im rumänischen Transsilvanien. Es bleibt freilich dahingestellt, ob wir es hier mit dem spezifischen Merkmal multiethnischer Regionen zu tun haben, die historisch und kulturell stark von Österreich-Ungarn geprägt sind, oder ob sich darin nicht auch der Versuch vergleichsweise reicher Regionen äußert, am nationalen Gefüge vorbei eigene Entwicklungswege zu beschreiten – ungeachtet allfälliger Egoismusvorwürfe seitens der weniger reichen Regionen.

Der Krieg ist in Slawonien noch lange nicht vergessen. Die in unmittelbarer Grenznähe liegende Kleinstadt Beli Manastir gehörte eine Zeit lang zur „Serbischen Republik Srem, Baranja und Ostslawonien“. Erst nach dem Zusatzabkommen von Erdut im Januar 1998 kam die Region wieder unter kroatische Oberhoheit. In einem kleinen Park mit einem Denkmal zum Ruhme der Roten Armee, die diese Region befreit hat, bevor Titos Partisanen Stellung bezogen, passt Marija auf ihre Enkelin auf. Die alte Dame kehrte nach achtjährigem Exil an der kroatischen Küste erst 1999 in die Stadt zurück: „Da unten haben wir als Flüchtlinge wenigstens ein bisschen Sozialhilfe bekommen; aber hier gibt es gar nichts, weder Arbeit noch humanitäre Hilfe.“

In Vukovar, der ehemaligen Hauptstadt der „Serbischen Republik Srem, Baranja und Ostslawonien“ sind die Spuren des Krieges überall noch sichtbar. Der Wiederaufbau hat erst vor zwei Jahren richtig begonnen, weite Teile der Stadt wirken noch immer verlassen. Von den 60 000 Einwohnern, die hier vor dem Krieg lebten, waren am Ende nur noch rund 10 000 Serben geblieben. Seither sind ein paar tausend Kroaten zurückgekehrt.

In den Dörfern Slawoniens prangt an vielen Häuser ein Schild mit der Aufschrift „Zu verkaufen“, ein deutliches Zeichen, dass der Exodus der Serben nicht abgeschlossen ist. Das Dörfchen Tenja war während des Kriegs eine wichtige strategische Position der serbischen Nationalisten, die von hier aus die Stadt Osijek unter Beschuss nahmen. Herr Turjaski hat sich in Tenja ein Haus gekauft, wegen der günstigen Immobilienpreise. Sein nächster Nachbar ist ein Serbe, der fest entschlossen ist, seine Heimatregion nicht zu verlassen. Bei einem Gläschen selbst gebranntem Obstler träumen die beiden von einem befriedeten Slawonien.

Auch Darko Vargas, ein gebürtiger Ungar, hat Träume. Er ist seit langen Jahren Mitglied der nationalistischen Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft HDZ und wurde nach der Wiederherstellung der kroatischen Autorität 1998 über Bilje zum Bürgermeister der kleinen Gemeinde gewählt. Bilje liegt gegenüber von Osijek auf der anderen Seite der Drave, die die Grenze zwischen den beiden historischen Regionen Slawonien im Süden und Baranja im Norden bildet. Bilje mit seiner mehrheitlich ungarischen Bevölkerung ist vor allem für seinen Naturpark „Kopacki Rid“ bekannt, ein weitläufiges Moorgebiet, das Vargas wieder für Touristen attraktiv machen möchte.

Doch auch hier hat die Geschichte tiefe Spuren hinterlassen. In einem Großteil des Parks sind die Minen noch immer nicht entschärft worden, und wenige Kilometer von Bilje entfernt liegt diskret versteckt die Jagdhütte von Tikves, in der Milošević und Tudjman 1991 mehrmals Geheimverhandlungen führten. Später wurde der Pavillon von serbischen paramilitärischen Gruppen bezogen. Korridor V c könnte den Tourismus in Bilje wieder ankurbeln, auch wenn der kroatische Ökotourismus bislang noch in den Kinderschuhen steckt.

Wer Geschäfte machen will, findet immer einen Weg

UM von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina zu gelangen, ohn den Umweg über den weitläufigen Grenzposten von Zupanija nehmen zu müssen, setzen die Grenzbewohner mit Booten über die Save, einen Nebenfluss der Donau, der hier die Grenze darstellt. Eine dieser Fähren verbindet Kroatien mit der kroatischen Enklave Odjak, die in der Republika Srpska liegt, dem serbischen Teil Bosnien-Herzegowinas. Die Kleinstadt wurde im Krieg völlig verwüstet. Das serbische Militär vertrieb die kroatische und die muslimische Bevölkerung, bevor dann später die serbischen Einwohner flohen. Dank internationaler Hilfsgelder kommt der Wiederaufbau gut voran, doch von kleinen Schmuggelaktivitäten abgesehen liegt die Wirtschaft wie fast überall in Bosnien auch hier danieder.

In Kürze soll eine neue Brücke über die Save eröffnet werden. Die auf serbischer Seite gelegene Kleinstadt Samac, ein Transitpunkt des Korridors V c, besitzt theoretisch alle Voraussetzungen, um sich zu einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt zu entwickeln. Ihr Binnenhafen war einmal „der größte Bosniens,“ erinnert sich der Bürgermeister, „aber seit Kriegsbeginn hat dort jede wirtschaftliche Tätigkeit aufgehört“. Nur vereinzelte Schwimmbagger schürfen auf dem Flussgrund Sand und Kies für die Bauwirtschaft.

Ein ebenso trostloses Bild bietet der Bahnhof. „Vor dem Krieg kamen hier die Bahnlinien aus Sarajevo und Banja Luka zusammen. Die Züge gingen dann weiter nach Kroatien, kurz hinter der Grenze war die nächste Verzweigung, von da aus ging es weiter nach Belgrad, Zagreb und Budapest.“ Heute hält nur noch der Zug aus Banja Luka zweimal täglich in Samac, wo inzwischen das Eisenbahnnetz der Republika Srpska endet.

Die großartige Brücke über die Save, die mit EU-Geldern finanziert wurde, zeigt der Bürgermeister seinen Besuchern besonders gern. Sie wurde im Februar dieses Jahres fertig gestellt, ist aber nach wie vor geschlossen. Auf bosnischer Seite lungert ein Polizist herum. Die kroatischen Behörden wären bereit, den neuen Grenzposten zu öffnen, zumal die Straße auf kroatischer Seite wenige Kilometer weiter in die Autobahn Zagreb–Belgrad einmündet. Doch die bosnische Seite blockiert.

Der Bürgermeister von Samac erläutert: „Die Grenzen von Bosnien-Herzegowina werden von der gemeinsamen Bundespolizei bewacht. Der Zoll hingegen liegt in der Zuständigkeit der beiden Landesteile, und die Zollgebühren bilden einen wesentlichen Teil der Landeshaushalte. Hier bei uns gehört ein 200 Meter breiter Streifen entlang der Save dem Bund, der deshalb Anspruch auf die Zolleinnahmen erhebt. Dieser Grenzposten soll aber einmal zum wichtigsten des Landes werden, und deshalb sind großflächige Zollanlagen auf dem Territorium der Republika Srpska geplant. Unsere Regierung wäre durchaus bereit, über eine Aufteilung der Zolleinnahmen zu sprechen, aber der Bund will den ganzen Kuchen für sich allein.“

In Samac gibt es einen sehr bescheidenen Wohlstand. Sogar eine Fußgängerzone mit einem Denkmal zu Ehren der serbischen Kämpfer im Krieg von 1992–1995 wurde vor kurzem eingeweiht. Das Preisniveau in der Republika Srpska ist merklich niedriger als in Kroatien, niedriger auch als in der Bosniakisch-Kroatischen Föderation. So kommen zahlreiche Kunden aus den „feindlichen Gebieten“, um in Samac Einkäufe zu erledigen. Der Bürgermeister des Städtchens macht sich keine Illusionen über den Korridor V c. „Versöhnung durch Handel? Wenn die Leute Geschäfte machen wollen, finden sie immer einen Weg, um sich zu verständigen. Aber Europa hat doch kein Interesse an nennenswerten Investitionen in unserer Region. Wir sind bloß eine vergessene Provinz Europas.“

Die Straße nach Sarajevo ist nicht schön. Sie führte durch eine reizlose Landschaft, hier und da sieht man zerstörte, ausgebrannte Häuser. Unmerklich geht die Posavina-Ebene entlang der Save in eine Hügellandschaft über. Zenica war früher das ehemalige Zentrum der bosnischen Metallindustrie, das moderne Stadtbild hat den Krieg unbeschadet überstanden. Von allen größeren Städten Bosniens lag Zenica am weitesten von der Front entfernt, hier ist es also nie zu Kampfhandlungen gekommen. Bekannt wurde die Stadt als Hochburg der Mudschaheddin, die als freiwillige Kämpfer in Bosnien ein Schlachtfeld für ihren neuen Heiligen Krieg suchten.

Noch mehrere Jahre nach Kriegsende führten sich diese ungebetenen Gäste in einigen Dörfern der Umgebung wie die Herrscher auf. Der internationale Druck brachte die bosnischen Behörden schließlich dazu, ihre tolerante Haltung aufzugeben, so dass sich die letzten Mudschaheddin von Zenica nun unauffälliger verhalten.

Neben dem lokalen Zentrum der islamischen Gemeinde präsentiert eine Boutique für Frauenbekleidung die neuesten Schleier- und Mantelmodelle, doch im Straßenbild von Zenica wie im übrigen Bosnien sind die Zeichen des fundamentalistischen Islam seltener geworden. Am Eingang des Markts bieten einige „Bärtige“ CD-ROMs und DVDs an. Ja, sie haben in der „regulären“ islamischen Brigade der bosnischen Armee gekämpft. Nun halten sie sich mit dem Verkaufen von Raubkopien von Computerprogrammen und amerikanischen Filmen über Wasser.

Muhamed Efendi Lugavić ist einer der führenden Männer des „fortschrittlichen“ Islam in Bosnien. Nach seiner Einschätzung halten sich die Radikalen in der Öffentlichkeit etwas zurück, um sich auf ihre langfristigen Ziele konzentrieren zu können. „Sie bringen alle Lehranstalten und Institutionen der islamischen Gemeinde unter ihre Kontrolle“, erklärt der einstige Mufti von Tuzla, der aller Ämter enthoben wurde, weil er gegen die radikale Strömung opponierte, die im bosnischen Islam den Ton angibt.

Auf dem Streckenabschnitt Zenica–Sarajevo wird das Projekt Korridor V c bereits deutlich erkennbar. Eine Autobahn ist im Bau, doch aus Geldmangel kommen die Arbeiten nur quälend langsam voran. Am 15. März 2002 fand in Sarajevo eine internationale Tagung zur transnationalen Autobahn des Korridors V c statt. Die 328 Kilometer lange Trasse soll über Samac, Doboj, Zenica, Sarajevo und Mostar bis zur kroatischen Grenze führen. Gesamtkosten: 2 461 280 000 Euro. Im Rahmen des Stabilitätspakts wird derzeit nur ein 10 Kilometer langer Streckenabschnitt südöstlich von Sarajevo ausgebaut. Darüber hinaus sind Ausbesserungsarbeiten an einer Brücke im Gange, die der Stadt Capljina einen Anschluß an die Euro-Achse E 73 bietet. Kostenpunkt: 57 Millionen Euro.

Am Stadtrand von Sarajevo durchschneidet die ewig unvollendete E 73 einige Viertel, in denen so etwas wie wirtschaftlicher Aufschwung zu spüren ist. Etwas weiter an der Straße zum Flughafen gibt es einen neuen Interex-Supermarkt. Interex gehört zum französischen Konzern Intermarché, der landesweit bereits drei Filialen besitzt. Bei der Eröffnung des Supermarkts in Banja Luka war von der „größten Auslandsinvestition in der Republika Srpska“ die Rede, doch der Interex bietet fast nur qualitativ minderwertige Importwaren, wie sie überall im Land zu finden sind, und zwar zu Preisen, die sich die meisten Bosnier kaum leisten können.

An der „Sniper Alley“ – einer Hauptverkehrsstraße, die ins Zentrum Sarajevos führt – sind die Spuren des Krieges fast verschwunden. Nur das ausgebrannte Gerippe, das vom einstigen Sitz der Tageszeitung Oslobodjenje übrig geblieben ist, erinnert noch daran, dass die „Heckenschützen-Allee“ monatelang unter Feuer lag. Ansonsten fällt der Blick auf renovierte Wohnsilos, Reklametafeln, nagelneue Straßenbahnen, die vielfach die Aufschrift „Geschenk des japanischen Volkes“ tragen, und auf die gigantische Moschee, deren architektonischen Stil die Islamisten vom Persischen Golf überall auf dem Balkan als Modell durchzusetzen suchen.

Viele Einwohner von Sarajevo erleben derzeit ihre schlimmsten Jahre. In einem Szenecafé im Stadtzentrum sitzen junge Leute und reden. „Die Kriegsjahre waren wie ein Albtraum“, sagt einer von ihnen. „Aber Albträume haben ja bekanntlich ein Ende. In der unmittelbaren Nachriegszeit dachte man, das Land müsse sich eben erst einmal erholen. Solche Phasen sind ja immer schwierig. Nun aber verlieren wir allmählich jede Hoffnung.“ Die politischen Querelen und die wirtschaftliche Misere treiben viele Menschen aus dem Lande, die demografische Entwicklung ist rückläufig. Während die Bürgerkriegsflüchtlinge langsam zurückkehren, tragen sich viele, vor allem jüngere Bosnier mit dem Gedanken, ihr Glück im Ausland zu versuchen.

Für das gesamte Stadtgebiet von Sarajevo ist kaum zu ermitteln, wie sich die Zusammensetzung der Bevölkerung verändert hat. Insgesamt zählt die Stadt heute wie vor dem Krieg rund 500 000 Einwohner. Die 150 000 Serben, die einst hier lebten, haben Sarajevo größtenteils verlassen. Ein örtlicher Journalist berichtet: „Viele Serben sind während der Belagerung im bosnischen Teil der Stadt geblieben und haben sich an der Verteidigung der Stadt und an der Zivilverwaltung beteiligt. Erst als wieder Frieden herrschte, sind diese Leute weggegangen: Sie verloren ihre Arbeit, und man gab ihnen zu verstehen, dass ihre Wohnungen für bosnische Flüchtlinge gebraucht würden.“

Den Krieg überlebt, aber nicht den Frieden

NACH unzuverlässigen statistischen Angaben leben derzeit höchstens 20 000 Serben in Sarajevo. Auch die Kroaten und die Muslime haben die Stadt während des Krieges massenhaft verlassen, ein Exodus, der aufgrund der wirtschaftlichen Misere auch nach dem Ende des Krieges weitergegangen ist. Von den derzeit 500 000 Einwohnern seien nur 100 000 bis 200 000 Alteingesessene. Der Rest bestehe aus Displaced Persons, die in der Stadt Zuflucht suchten. „Den Krieg hat der Geist von Sarajevo überlebt, aber der Friede hat ihm den Todesstoß versetzt“, sagen einige der „alten“ Einwohner von Sarajevo.

Auf den ersten zehn Kilometern ist die Straße von Sarajevo nach Mostar eine „Autobahn“, wenngleich mit Geschwindigkeitsbegrenzung. Im weiteren Verlauf geht die Trasse in eine ruhige Bundesstraße über, führt vorbei an Pasalić, einer bosnischen Kleinstadt am Igman-Massiv, das während der Belagerung Sarajevos Schauplatz heftiger Kämpfe war. In weiten Kurven windet sich die Straße durch die Landschaft. Hier und da sind unter der üppigen Vegetation noch Überreste kriegszerstörter Häuser zu erkennen. Zwischen Tarcin und Konjić haben dutzende von Honig- und Gemüsehändlern ihre Verkaufsstände entlang der Straße aufgebaut. Aber kaum ein Reisender macht Halt, und so schlagen die Händler mit Schwatzen und Schachspielen die Zeit tot.

Weiter südlich, hinter Mostar, ist die Bosniakisch-Kroatische Föderation reine Illusion. An quer über die Straße gespannten Schnüren flattern noch immer die Fahnen Kroatischen Republik Herceg Bosna, die offiziell schon seit Jahren aufgelöst ist. Die Stadt Mostar ist nach wie vor strikt in einen bosnisch-muslimischen Sektor im Osten und einen kroatischen Sektor im Westen geteilt. Um ihren Anspruch auf die Stadt zu manifestieren, haben die Kroaten auf einem die Stadt überragenden Berggipfel ein riesiges Kreuz errichtet. Auch der große, frei stehende Turm der Kathedrale setzt im Stadtbild einen beherrschenden Akzent. Doch mit dem Wiederaufbau der alten osmanischen Brücke aus dem 16. Jahrhundert, die von der kroatischen Artillerie im November 1993 zerstört wurde, hat man gerade erst begonnen.

Auch das Städtchen Pocitelj, das einige Kilometer südlich von Mostar am Talhang liegt, weist noch deutliche Spuren des Krieges auf. In den glücklichen Zeiten, als die Touristen nach Jugoslawien strömten, war die Madrasa (Islamschule) Sisman Ibrahim Pacha mit ihren fünf kleinen Kuppeln noch ein Restaurant. Das Gebäude wird derzeit restauriert, sämtliche Tore sind verriegelt. Gegenüber dem bewehrten Haupteingang sitzen im einzigen Café von Pocitelj einige junge Kroaten beisammen. Es ist noch früh am Nachmittag, aber sie sind schon betrunken. „Wir sind hier in Kroatien“, sagt einer und lässt dabei spüren, dass jeder Widerspruch die Situation eskalieren lassen würde.

Wenige Kilometer weiter liegt die Kleinstadt Capljina, in der vor dem Krieg viele Serben und Muslime lebten. Die kroatischen Nationalisten haben die Stadt so konsequent von „fremden Ethnien“ gesäubert, dass nach dem Krieg kein einziger muslimischer Flüchtling zurückgekehrt ist. Der Bahnhof von Capljina spielt eine wichtige Rolle im Gütertransport zwischen der Hafenstadt Ploce und Bosnien: Hier werden die Waggons aus Kroatien an bosnische Lokomotiven angekoppelt.

Im heruntergekommenen Bahnhofsgebäude entspinnt sich ein Gespräch mit den Arbeitern. Der Bahnhofsvorsteher erklärt: „Bislang gehören wir noch zur Eisenbahn von Herceg Bosna, aber demnächst wollen sie uns mit der Eisenbahn von Bosnien-Herzegowina zusammenlegen. Die Zusammenarbeit funktioniert auch eigentlich ganz gut, obwohl wir viel wettbewerbsfähiger sind als die Bosnier, weil wir Personal abgebaut haben. Mit der Eisenbahn der Republika Srpska haben wir jedoch nichts zu tun.“ Bosnien leistet sich für sein Schienennetz von knapp über 1 000 Kilometern also drei Eisenbahngesellschaften. In der Umgebung von Mostar herrschen nachgerade groteske Verhältnisse: Alle paar Streckenkilometer wechselt die Zuständigkeit zwischen der bosnischen und der kroatisch-bosnischen Eisenbahngesellschaft. „So ist das in Bosnien“, meint der Bahnhofsvorsteher von Capljina: „Aber keine Angst, Unfälle hat es noch nie gegeben.“

Mit Metković erreicht der Reisende den wichtigsten Grenzübergang zwischen Bosnien und Kroatien. Die Grenzpolizisten sind auf beiden Seiten Kroaten. Im Normalfall gibt es hier weder Ausweis- noch Zollkontrollen. Die Lastwagen überqueren die Grenze weiter westlich an einem kleinen Grenzposten in den Bergen. Sollten die Warenströme durch den Korridor V c je beträchtlich anwachsen, müsste sich bei der Zollabfertigung einiges ändern. Einstweilen fließt jedoch ein Großteil der Zolleinnahmen am Haushalt der Bosniakisch-Kroatischen Föderation vorbei in die schwarze Kasse der kroatischen Nationalisten Herzegowinas.

Am Ende von Korridor V c liegt in einer Bucht die Hafenstadt Ploce. An den Wohnhäusern entlang der Meeresfront blättert der Putz, kein einladender Anblick für Touristen. Nach Auskunft des stellvertretenden Hafendirektors Svemir Zekulić arbeiteten im Hafen frühereinmal 5 000 Leute; heute sind es kaum mehr 2 000. Ein Schiff wird mit Holz beladen – eines der wenigen Exportgüter Bosniens, das hauptsächlich in den arabischen Staaten Abnehmer findet. 1989 belief sich die Holzausfuhr auf 4,495 Millionen Tonnen, 2001 waren es noch bei 921 000 Tonnen. Trotz ehrgeiziger Ausbauprojekte rechnet niemand in den kommenden Jahren mit einer merklichen Exportsteigerung. Dennoch studiert Svemir Zekulić am Beginn jedes Arbeitstags im Internet die Presse Kroatiens, Bosniens und Serbiens. Denn für ihn liegt die einzige Hoffnung für die Zukunft des Hafens von Ploce in der Entwicklung der regionalen Wirtschaftsbeziehungen.

dt. Bodo Schulze

* Journalist

Fußnoten: 1 Zu den Streckenverläufen der insgesamt zehn paneuropäischen Korridore siehe die Internetseite www.isl.uni-karlsruhe.de/datenmodule/schienennetze/paneuropanetze. 2 Dazu Drago Hedl, „L‘effondrement de l‘agriculture croate“, AIM, 9. September 2001, siehe die Webseite des Courrier des Balkans, www.balkans.eu.org.

Le Monde diplomatique vom 15.11.2002, von JEAN-ARNAULT DÉRENS