15.11.2002

Es war einmal in al-Andalus

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Es war einmal in al-Andalus

DASS Spanien den Islam als Religionsgemeinschaft anerkennt, erachten manche als Wiederkehr des alten islamischen al-Andalus mit seinen kulturellen Errungenschaften und seiner viel gelobten Toleranz. Die weit reichenden Garan-tien – von Religionsunterricht in Schulen bis zu eigenen Friedhöfen – bezeugen einen Wandel, doch ein gewisses Wunschdenken verstellt möglicherweise den Blick auf die Tatsache, dass die gesetzliche Verankerung einer Religion mit all ihren Implikationen nicht unbedingt auch die alten Tugenden wiederbelebt. Über die Frage, ob das Modell Spanien übertragbar und für andere europäische Staaten überhaupt wünschenswert ist, wäre auf dieser Grundlage nachzudenken.

Von JEAN-LOUP HERBERT *

Am 10. November 1992 unterzeichneten der spanische König Juan Carlos I. und die sozialdemokratische Regierung unter Felipe González das Gesetz 26-1992, das ein Kooperationsabkommen zwischen dem spanischen Staat und der islamischen Kommission Spaniens vorsieht. Zuvor war das Abkommen in den beiden Kammern der Cortes – dem Abgeordnetenhaus und dem Senat – diskutiert und verabschiedet worden. Damit übernahm Spanien die Vorreiterrolle bei der gesetzlichen Anerkennung des Islam als eines europäischen Faktums. Für eine Gesellschaft, die sich jahrhundertelang unter großem Leid eine nationale katholische Identität geschmiedet und dafür Juden und Muslime aus dem Land getrieben hatte, ähnelte dieser Akt einer Kulturrevolution. Er stärkt die demokratische, pluralistische und laizistische Umwandlung der Gesellschaft der postfrankistischen Ära und bereichert darüber hinaus durch seine inhaltliche Substanz die derzeitige Debatte über den kulturellen und religiösen Pluralismus einer zukünftigen europäischen Zivilgesellschaft.

1992 jährte sich überdies zum fünfhundertsten Mal1 die Ankunft von Christoph Columbus in Amerika – Gründungsdatum des modernen Europa und in der Interpretation von Karl Marx die Geburtsstunde des Kapitalismus durch „barbarische und gewalttätige Akkumulation“ auf Kosten der Völker Afrikas und Amerikas, die außerdem einherging mit der Vertreibung der Juden und Muslime durch die katholischen Könige Ferdinand und Isabella. Darum waren, mutig genug, die Jubiläumsfeierlichkeiten Anlass zu zahlreichen, an die verschiedenen Opfergruppen gerichteten Reuebekundungen.

Seit dem Ende des Franco-Regimes (1975) hatten eine Reihe intellektueller, politischer, gewerkschaftlicher und Unabhängigkeitsbewegungen die Erinnerung an das alte islamische al-Andalus neu belebt. Anlässlich eines internationalen Kongresses zu dem Thema errichtete etwa die am Ebrodelta gelegene Gemeinde Sant Carles de la Rapita 1990 ein Denkmal zur Erinnerung an die „41 992 Morisken2 , die zwischen dem 15. Juni und 16. September 1610 von hier vertrieben wurden“3 .

Aber bedeutete diese letzte Vertreibung tatsächlich das Ende der arabisch-islamischen Präsenz auf der Iberischen Halbinsel? Außer den zu touristischen Attraktionen avancierten baulichen Hinterlassenschaften (Granada, Córdoba, Sevilla, Teruel, Toledo, Zaragoza) gibt es in der Sprache von Cervantes mehr als 4 000 aus dem Arabischen entlehnte Wörter; auch tausende von Ortsnamen aus dem Arabischen prägen bis heute das kollektive Gedächtnis. Die von dem Orientalisten Miguel Asín Palacios zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründete große spanische Schule der Islamwissenschaft, weitergeführt vor allem von Cruz Hernández, Juan Vernet und Mikel de Epalza, vermochte das tausendjährige spirituelle, philosophische und wissenschaftliche Erbe im europäischen Gedächtnis wieder freizulegen.4 Dieses offenkundige Verwurzeltsein – el notorio arraigo – der muslimischen Komponente, auf das in der Begründung des Gesetzes von 1992 verwiesen wird, stellt dessen Legitimität und Bedeutung für das europäische Recht her. Die verschüttete Erinnerung wurde durch verschiedene Ereignisse der jüngeren Vergangenheit wieder zum Vorschein gebracht. Zunächst durch die Ankunft tausender Studenten aus dem Nahen Osten Anfang der Siebzigerjahre, von denen mehr als ein Drittel die spanische Staatsbürgerschaft annahmen. Einige beteiligten sich – angeregt durch die erste islamische Gesellschaft in Spanien – aktiv an der Gründung der ersten Moscheen in Barcelona (1974) und Madrid (1978). Sodann der Aufenthalt europäischer Pilger auf der spirituellen Suche nach den andalusischen Ursprüngen, die in Andalusien jungen, engagierten Nationalisten begegneten – oft Geschichts-, vor allem aber Arabischstudent(inn)en. Von ihnen kamen Anfang der Achtzigerjahre die entscheidenden Impulse zur Eröffnung – sie würden es Wiedereröffnung nennen – der ersten Moschee von Granada, der rasch die von Sevilla, Córdoba, Málaga und Almería folgen sollten. Zusammen bilden sie die islamische andalusische Gemeinde, die den Anstoß zur Gründung der Islamischen Universität Ibn Rushd in Córdoba gab.

Die spirituelle Wiederkehr von al-Andalus, die der große muslimische Denker des 20. Jahrhunderts, Mohammed Iqbal, schon 1930 ausrief und die sich an diesen Orten kristallisiert, könnte der Beginn einer entscheidenden Revision „unseres vergessenen Erbes“ sein, wie es der Historiker Alain de Libéra nennt. In den europäischen Lehrplänen fehlt sie bislang.5 Mit der fortschreitenden Integration der spanischen Wirtschaft in die EU werden seit Beginn der Achtzigerjahre in großem Umfang ausländische, mehrheitlich muslimische Arbeitskräfte ins Land geholt. In Baugewerbe, Industrie und landwirtschaftlichen Großbetrieben von Andalusien und Katalonien stellten schon bald mehr als 300 000 aus Pakistan, Marokko, Senegal und Gambia stammende Arbeiter die Mehrheit der muslimischen Bevölkerung. Und diese bekommt massiv zu spüren, was Ausbeutung, dürftigste Wohnverhältnisse, die Entwicklung von Bikulturalität und Rassismus bedeuten. Letzterer geht bis zur Jagd auf Menschen, auf moros, wie man es 2001 in der Gemeinde El Ejido erlebt hat.6 So wie in anderen europäischen Ländern vor zwanzig oder dreißig Jahren sind es in der Mehrheit diese Arbeiter, die – manchmal gemeinsam mit Studenten und Geschäftsleuten – Gebetshäuser, ein Gemeindeleben und die Versorgung mit halal-Fleisch (arab. halal: den religiösen Vorschriften gemäß) organisieren.

Und da ist noch die besondere Situation der Exklaven Ceuta und Melilla, Überbleibsel der ersten europäischen Besatzung in Afrika zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Erst 1986 billigte Spanien der Bevölkerung der beiden autonomen Städte (sie besitzen Autonomiestatus, einen Stadtrat und ein frei gewähltes Stadtparlament) die volle Ausübung ihrer staatsbürgerlichen und nationalen Rechte zu. Neben den jüdischen, hinduistischen und christlichen Gemeinden leben dort mehr als 70 000 Muslime (in der autonomen Stadt Melilla stellen sie sogar den Ratspräsidenten). Sie verfügen über rund zwanzig religiöse Einrichtungen und sind hin- und hergerissen zwischen den marokkanischen Integrationsbestrebungen, den Annehmlichkeiten eines im Vergleich zu Marokko höheren Lebensstandards mit demokratischeren Verhältnissen sowie dem militärischen Gebaren des spanischen Staates, wie man es im vergangenen Sommer beim Tauziehen um die Petersilieninsel beobachten konnte. Diese Bevölkerungsgruppe bleibt ein Spielball der auf die Meerenge von Gibraltar gerichteten weltpolitischen Interessen.

Zweihundert bis vierhundert Vereinigungen

MIT dem raschen Wachstum des muslimischen Bevölkerungsanteils in Spanien seit einem Vierteljahrhundert ist ein zunehmend reges Gemeindeleben entstanden, auf das Länder wie Libyen, Saudi-Arabien und Marokko besonders durch die Finanzierung der Imame und den Bau monumentaler Moscheen Einfluss zu nehmen suchen. 1992 wurde in Madrid das Islamische Kulturzentrum eröffnet, an der Costa del Sol die grandiosen Moscheen von Marbella (1981) und Fuengirola (1993). Die verschiedenen Gruppen des muslimischen Bevölkerungsanteils (zwischen 500 000 und 600 000 Menschen) werden durch zweihundert bis vierhundert Vereinigungen vertreten, die sich auf zwei Dachorganisationen verteilen. Im November 1989 beschlossen die Föderation Islamischer Religionsgruppen in Spanien (Feeri) und die Union Islamischer Gemeinschaften in Spanien (Ucide), ihre Bemühungen zu bündeln und ihre Differenzen beizulegen, um die staatliche Anerkennung des Islam als Religionsgemeinschaft zu erreichen.

Bis heute bildet die Zusammenarbeit dieser beiden Dachorganisationen, die –wie bei wohl allen pluralen Gemeinschaften – nicht ohne Reibungen funktioniert, das Gerüst für die Islamische Kommission Spaniens (CIE), die in Abstimmung mit dem spanischen Staat für die Umsetzung des Gesetzes von 1992 zuständig ist.

Ihre Existenz verdankt sie nicht zuletzt der „auf das Prinzip eines demokratischen und pluralistischen Staates gegründeten“ Verfassung von 1978 – die von der Idee der „Staatsreligion“ Abschied genommen hat – und der im Körperschaftsgesetz von 1980 festgelegten Religionsfreiheit. Verhandlungspartner der Islamischen Kommission ist das Justizministerium, dem die Regelung religiöser Angelegenheiten obliegt. „Die islamische Religion mit ihrer jahrhundertealten Tradition und ihrer großen Bedeutung für die Bildung der spanischen Identität“ (Text der Gesetzesbegründung) setzt sich aus Glaubensgemeinschaften zusammen, deren Mitgliedschaft in einer der beiden Dachorganisationen von der Islamischen Kommission bestätigt werden muss, bevor sie in das Verzeichnis religiöser Gruppierungen eingetragen werden können. Ausgehend von dieser allgemeinen Regelung, deren Tenor und Geisteshaltung sich merklich von dem unterscheidet, was man aus anderen europäischen Ländern kennt, werden die Rechte und Pflichten beider Seiten in diesem Kooperationsabkommen formuliert.

Die Moscheen und religiösen Einrichtungen sind als unantastbare, „dem Gebet, der religiösen Ausbildung und Seelsorge“ vorbehaltene Orte anerkannt. Das Recht auf gesonderte Bereiche innerhalb der kommunalen Friedhöfe bzw. die Möglichkeit, eigene Friedhöfe anzulegen und die Bestattungsrituale selbst bestimmen zu können, müssen von allen Institutionen berücksichtigt werden (Artikel 2).

Die Posten und Ämter, welche die aus Koran und Sunna hervorgegangenen Gesetze und Traditionen des Islam vorsehen, sind durch das Gesetz zur freien Religionsausübung geschützt. Die von ihren Gemeinden ernannten Funktionsträger und Imame werden bei der Islamischen Kommission registriert; sie haben Anspruch auf Sozialversicherung und Berufsgeheimnis. Sofern sie der Wehrpflicht unterliegen, können sie auf Wunsch Aufgaben zugewiesen bekommen, die mit ihren Funktionen vereinbar sind (Artikel 6).

Die islamische Eheschließung wird in Anwesenheit einer solchen Person und zweier von den Brautleuten bestimmter Zeugen vorgenommen und anschließend vollgültig ins Melderegister eingetragen (Artikel 7).

In den Krankenhäusern, Kasernen und Strafanstalten muss die Möglichkeit zur Ausübung religiöser Praktiken und Seelsorge gewährleistet sein (Artikel 8). Beim Anspruch auf Religionsunterricht im öffentlichen und privaten Schulwesen ist der Islam allen anderen anerkannten Religionsgemeinschaften gleichgestellt. Der Unterricht wird von Lehrern gehalten, die von den Gemeinden dazu ernannt sind und die von der Islamischen Kommission die Zulassung erhalten (Artikel 10).

Obwohl 1996 eine Anordnung bezüglich Stundenplänen, Unterrichtsräumen, Lehrinhalten und Lehrergehältern erfolgte, kommt die Umsetzung dieses Artikels bis heute wegen der Trägheit der Verwaltung oder der Lehrinstitute nur sehr mühsam in Gang. Vor allem in Ceuta und Melilla wurden kürzlich rund ein Dutzend staatlich finanzierte Stellen in öffentlichen Schulen geschaffen. Keiner der vorgeschlagenen Bewerber erhielt die Zulassung seitens der Islamischen Kommission; obwohl Ausbildungszentren geplant sind, um die Eignung der Kandidaten für die verschiedenen Aufgaben in den Gemeinden zu verbessern, bleibt dieser Punkt im Augenblick das hauptsächliche Manko.

Die religiösen Einrichtungen und einige für das Gemeindeleben wichtige Gebäude wie die Amtssitze der Gemeindeleitung sind von der Grundsteuer ausgenommen; weitere Steuervergünstigungen gelten im Fall von Spenden (Artikel 11). Vorbehaltlich eines Arbeitszeitausgleichs sind Angestellte von ihren Arbeitgebern für die Gebetszeiten am Freitag und an Festtagen freizustellen. Sechs islamische Feiertage werden ausdrücklich genannt, womit man über die beiden obligatorischen Feiertage (Beendigung des Ramadan und der Pilgerfahrt) hinausgeht. Sowohl der schulische Ablauf als auch staatliche Prüfungen haben diesen Kalender zu berücksichtigen (Artikel 12).

Bei der Islamischen Kommission liegt die Zuständigkeit für die Zertifizierung von halal-Fleisch; die Kantinen in öffentlichen Betrieben, beim Militär, in staatlichen und privaten Schulen müssen die Nahrungsvorschriften sowie die während des Fastenmonats Ramadan bestehenden Essenszeiten respektieren (Artikel 14).

In einer Zusatzbestimmung wird die Abwicklung einer gemeinsamen Kommission übertragen, die sich zu gleichen Teilen aus Vertretern der Behörden und der Islamischen Kommission zusammensetzt. Mit sechsmonatiger Frist kann jede der beiden Parteien eine Änderung beantragen oder auch das Abkommen insgesamt aufkündigen.

Dieser Text, hervorgegangen aus einem von den Cortes und dem Senat einstimmig verabschiedeten Gesetz, deckt sich weitgehend mit ähnlichen Abkommen zwischen dem spanischen Staat und den jüdischen und protestantischen Glaubensgemeinschaften. Seine Umsetzung verzögert sich vor allem aufgrund der dazu nötigen finanziellen Ausgestaltung, die nur schleppend vorankommt. Doch er bietet der muslimischen Gemeinschaft eine gesetzlich statuierte Gleichstellung mit den übrigen Religionen und die volle Gewährleistung der Religionsausübung.

Zu diesem religiösen Pluralismus auf der juristischen Grundlage eines partnerschaftlichen Verfahrens hat die muslimische Gemeinschaft einen aktiven und mutigen Beitrag geleistet,7 der in ganz Europa auf großes Interesse stößt.

All diese Symptome lassen darauf schließen, dass wir tatsächlich Zeugen der Wiederkehr des alten al-Andalus im kollektiven Gedächtnis Europas sind, die sich auf die europäisch-mediterranen Beziehungen nur positiv auswirken kann.

dt. Christian Hansen

* Ethnologe. Mitarbeiter der Zeitschrift La Médina, Paris.

Fußnoten: 1 Zur Bedeutung dieses Datums siehe auch die Schriften des von der Universität Granada und der Französischen Liga für Bildungswesen organisierten Kolloquiums „Grenade 1492–1992. Du royaume de Grenade à l‘avenir du monde méditerranéen“, Paris 1997. 2 Morisken“ nennt man die nach dem Fall von Granada am 2. Januar 1492 in Spanien verbliebenen Muslime. Sie wurden schließlich im 16. Jahrhundert nach Nordafrika vertrieben. 3 Vgl. Internationaler Kongress zum 380. Jahrestag der Vertreibung der Morisken 1990 in Sant Carles de la Rapita. Textsammlung in katalanischer, spanischer, französischer und englischer Sprache; hrsg. von der Kulturabteilung der Generalitat de Catalunya, Barcelona 1994. 4 Cruz Hernández ist Autor einer umfangreichen „Historia del pensamiento del mundo islámico“ (Wiederveröffentlichung: Madrid, Alianza 1996). Von José María de Epalza stammt die erste katalanische Gesamtübersetzung des Korans einschließlich eines zweihundertseitigen Kommentars: „L‘Alcora“, Barcelona (Proa) 2001. 5 Vgl. Die im Rahmen einer im EU-Auftrag erstellten Studie zum Vergleich europäischer Lehrpläne: Josep María Navarro (Hrsg.), „El Islam en las aulas“, Barcelona (Icaria) 1997. 6 Marie-Claude Decamps, „Le salaire de la haine“, Le Monde, 9. Februar 2001. 7 Siehe auch die Webseite http://www.webislam.com (darunter auch www.verdeislam.com bzw. die Zeitschrift Verde Islam, die dem Austausch der spanischsprachigen Welt offen steht).Unter www.halal.de bietet das Frankfurter Islamologische Institut e.V. Verbraucher- und andere Informationen für Muslime in Deutschland.

Le Monde diplomatique vom 15.11.2002, von JEAN-LOUP HERBERT