15.11.2002

Cuba revisited

zurück

Cuba revisited

VOR vierzig Jahren hielt die Welt, so die inzwischen übliche Formulierung, den Atem an. Die Stationierung sowjetischer Atomraketen auf Kuba führte zu einer politischen Krise, auf deren Höhepunkt atomar bestückte B-52-Bomber Richtung Sowjetunion losgeschickt wurden. Finstere Reden und abenteuerliche Szenarien begleiteten die sogenannte Raketenkrise. Aber zum militärischen Präventivschlag kam es damals nicht. Angesichts der Gefahr eines Nuklearkriegs fanden Kennedy und Chruschtschow – mit vorsichtiger Diplomatie und kalkulierten militärischen Drohgebärden – einen Ausweg ohne Gesichtsverlust. Damals konnte die Welt wieder aufatmen.

Von DANIEL GANSER *

Am 12. September 2002 hielt US-Präsident George W. Bush eine Rede vor der UN-Vollversammlung. Darin erinnerte er an die Geburtsstunde der Vereinten Nationen: „Die Gründungsmitglieder haben einst beschlossen, dass der Weltfrieden nie mehr durch den Willen und die Niederträchtigkeit eines Mannes zerstört werden darf.“

Über ein halbes Jahrhundert später befindet sich die Welt in einer Spirale des Kriegs und des Terrors. Bush forderte die in New York versammelten Nationen auf, einen Krieg gegen den Irak zu unterstützen, da Saddam Hussein nach wie vor Massenvernichtungswaffen produziere und damit „eine ernste und wachsende Gefahr“ darstelle. Der Irak habe die UN und deren Resolutionen missachtet, weshalb Bush zu dem Schluss kommt: „Saddam Hussein hat selbst das Urteil über sich gesprochen, indem er durch Täuschung und Grausamkeit keine seiner Zusagen einhielt.“1

Ebenfalls am 12. September ermahnte UN-Generalsekretär Kofi Annan in seiner Eröffnungsrede zur UN-Vollversammlung die USA, die internationalen Gesetze und die Charta der Vereinten Nationen zu achten: „Selbst den mächtigsten Ländern ist bewusst, dass sie auf die Zusammenarbeit mit anderen Staaten im Rahmen von multilateralen Institutionen angewiesen sind, um ihre Ziele zu erreichen.“ Der Generalsekretär stellte klar, dass nach den Bestimmungen der UN-Charta das Machtmonopol heute in Händen des UNO-Sicherheitsrates liege, der unilaterale Einsatz militärischer Gewalt sei also illegal: „Wenn Staaten sich zur Anwendung von Gewalt entschließen, um allgemeineren Bedrohungen des Weltfriedens und der Sicherheit zu begegnen, gibt es keinen Ersatz für die einzigartige Legitimität, die die Vereinten Nationen verleihen.“

Viele Menschen in aller Welt sind überzeugt, dass Krieg für die vielen miteinander verflochtenen globalen Probleme wie Terrorismus, Armut, Umweltzerstörung, Bedrohung durch atomare, chemische und biologische Waffen keine Lösung ist. Und doch liegt ein Krieg in der Luft. Die Welt hält derzeit also den Atem an.

Aber das tut sie nicht zum ersten Mal. Genau vor vierzig Jahren stand die Menschheit schon einmal kurz vor einer atomaren Katastrophe. Die Kubakrise vom Oktober 1962 hätte den Kalten Krieg um ein Haar in einen finalen nuklearen Kampf zwischen den beiden Supermächten Sowjetunion und USA umkippen lassen.

Was haben wir aus dieser Krise gelernt? Welche Rolle spielten die Vereinten Nationen vor 40 Jahren? Auf dem Höhepunkt der Krise wurden damals atomar bestückte B-52-Bomber in Richtung sowjetischer Angriffsziele losgeschickt. Natotruppen in ganz Europa waren alarmiert, US-Streitkräfte wurden im Süden der USA zusammengezogen. Sowjetische Raketenfrachter und U-Boote waren auf dem Weg in die Karibik und sowjetische Soldaten arbeiteten in Kuba rund um die Uhr, um ihre Atomraketen einsatzfähig zu machen. Die sowjetischen Truppen auf kubanischem Boden, für die kein Nachschub mehr aus der UdSSR durchkam, waren mit taktischen Atomraketen ausgestattet, die gegen eine US-Invasionstruppe eingesetzt werden konnten. Die Kubaner rechneten fest mit einer Invasion und hatten ihre militärischen Vorbereitungen abgeschlossen. Die Katastrophe schien unvermeidlich. Aber sie trat nicht ein. Durch eine Mischung aus Glück und und umsichtiger Diplomatie konnte ein alles zerstörender Konflikt verhindert werden. Die Sowjetunion zog ihre Atomraketen aus Kuba ab. Und die USA gaben die Zusicherung, von weiteren Angriffen auf Castros Regierung Abstand zu nehmen.

Washington will den Regimewechsel in Kuba

ALS Fidel Castro und Che Guevara im Januar 1959 bei ihrem Einzug in Havanna von jubelnden Massen begrüßt wurden, befürchtete die Eisenhower-Regierung in Washington, nunmehr werde sich der Kommunismus in ganz Lateinamerika ausbreiten. Kubas Diktator Fulgenico Batista, Washingtons treuer Verbündeter im Kalten Krieg, musste Hals über Kopf in die Dominikanische Republik flüchten.

Noch bevor Castro seine Agrarreform und die Enteignung US-amerikanischer Unternehmen eingeleitet hatte, beschloss der Nationale Sicherheitsrat der USA am 10. März 1959, dass Castro abgelöst werden müsse, und erörterte verschiedene Strategien, wie man „eine andere Regierung in Kuba an die Macht bringen“ könnte. Eisenhower ermächtigte die CIA, mit terroristischen Organisationen zusammenzuarbeiten. Daraufhin begann der Geheimdienst, Exilkubaner zu organisieren, zu bezahlen, auszubilden und mit Waffen auszustatten, um Sabotageakte gegen die Castro-Regierung zu organisieren. Zudem wurde die CIA unter höchster Geheimhaltung zu Attentaten auf Castro ermächtigt, wie der amerikanische Untersuchungsausschuss 1975 herausfand. 1959 war also bereits ein unerklärter Krieg der Vereinigten Staaten gegen Kuba im Gange.

Die ersten Bombenangriffe und Sabotageakte der CIA erfolgten im Oktober 1959. Der kubanische Außenminister Raul Roa brachte den Fall vor die Vereinten Nationen und präsentierte dem Sicherheitsrat am 18. Juli 1960 die Zahl der kubanischen Opfer, die Namen der US-Piloten, die Kennzeichen ihrer Flugzeuge und die genauen Daten ihrer Angriffe. US-Botschafter Henry Cabot wies die Anschuldigungen zurück: „So überflüssig es mir zu sein scheint, gebe ich ihm [Castro] hier und heute zum tausendsten Mal die Zusicherung: die Vereinigten Staaten hegen keine Angriffsabsichten gegen Kuba.“ Der Sicherheitsrat ließ die Sache auf sich beruhen. Fidel Castro war alles andere als glücklich und fuhr im September 1960 nach New York, um der UN-Generalversammlung seine Sicht der Dinge vorzutragen. „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen“, begann er seine Rede, „wir werden uns alle Mühe geben, uns kurz zu fassen.“ Dann sprach er fünf Stunden.

Einen Monat vor dieser Rede hatte Präsident Eisenhower in einem streng geheimen Memorandum 13 Millionen Dollar für Ausbildungslager in Guatemala bewilligt, in denen Exilkubaner auf eine Invasion in Kuba vorbereitet wurden. Das Unternehmen begann am Morgen des 15. April 1961, als von der CIA angeheuerte Piloten die kubanischen Militärflugplätze bombardierten. In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages landeten die Terroristen in der Schweinebucht. Doch die kubanischen Kräfte versenkten das Schiff der Invasionstruppen und vernichteten die Eindringlinge, die es an Land geschafft hatten. Während noch die Bomben auf Kuba fielen, bat Außenminister Roa die Vereinten Nationen erneut um Beistand. Kuba sei von einer Söldnertruppe angegriffen worden, die „von den Vereinigten Staaten ausgebildet, finanziert und bewaffnet wurden“. US-Botschafter Adlai Stevenson wies die Anschuldigungen als „absolut falsch“ zurück, die USA hätten „keine gewaltsamen Schritte gegen Kuba unternommen“. Der britische Botschafter Patrick Dean sprang Stevenson mit dem Argument bei, Großbritannien habe sich eigentlich immer auf das Wort der Vereinigten Staaten verlassen können. Als die Fakten nicht länger zu verheimlichen waren, entschied John F. Kennedy, der Eisenhower als Präsident der USA abgelöst hatte, die Wahrheit öffentlich zuzugeben. Am 22. April übernahm er in einer offiziellen Erklärung des Weißen Hauses „die volle und ausschließliche Verantwortung“ für das Schweinebucht-Abenteuer.

Nach den US-Angriffen gegen Kuba fürchtete der sowjetische Ministerpräsident Nikita Chruschtschow endgültig, seinen Alliierten in der Karibik zu verlieren. In seiner Autobiografie schrieb er: „Diese Angelegenheit ging mir ständig durch den Kopf … Wenn Kuba fallen sollte, würden sich andere lateinamerikanische Staaten mit der Begründung von uns abwenden, dass die Sowjetunion trotz ihrer Macht außer leeren Reden vor den Vereinten Nationen nichts für Kuba tun konnte.“ Chruschtschow ließ sich auf ein hochriskantes Spiel ein und und gab grünes Licht für die Operation Anadyr: Ab Mai 1962 wurden heimlich 50 000 sowjetische Soldaten und 60 SS-4- bzw. SS-5-Mittelstreckenraketen auf Schiffen durch Nato-Hoheitsgewässer hindurch über den Atlantik in Richtung Kuba auf den Weg gebracht.1 Damit erreichte Chruschtschow drei Ziele: Er signalisierte den Kubanern seine Unterstützung für ihr Land, er verschaffte sich einen strategischen Vorteil, und er demonstrierte seine Stärke in Richtung Vereinigte Staaten wie in Richtung China.

Die UN als Sprachrohr der US-Interessen

DIE sowjetischen Soldaten waren bereits dabei, die Atomraketen in ihren Silos zu installieren, als am 14. Oktober 1962 ein U-2-Spionageflugzeug Fotos von den Raketen machte. Die US-Regierung war schockiert. Der Präsident rief unverzüglich seinen Krisenstab zusammen. Die geheime Sitzung dieses Executive Committee (ExComm) fand im Weißen Haus statt. „Warum setzt er diese Dinger dort hin?“, fragte Kennedy, „das ist ja gerade so, als wenn wir auf einmal beginnen würden, eine größere Anzahl von MRBMs [Mittelstreckenraketen] in der Türkei zu stationieren. Und das wäre ja wohl verdammt gefährlich.“ Worauf Kennedys Sicherheitsberater McGeorge Bundy erwiderte: „Na ja, das haben wir ja gemacht, Mr. President.“ Damit meinte er die atomar bestückten Jupiter-Raketen, die die USA 1961 in der Türkei, nahe der sowjetischen Grenze stationiert hatten.

Der Präsident war dennoch fest entschlossen, dass die Atomraketen abgezogen werden müssten. Zwar versicherte ihm die CIA, dass diese noch nicht einsatzbereit seien, doch die Installation war bereits in vollem Gange und die Zeit drängte. Verteidigungsminister Robert McNamara riet dem Präsidenten, den Fall nicht vor die Vereinten Nationen zu bringen: „Wenn die Sache einmal auf der politischen Schiene ist, gibt es wohl keine Chance mehr für eine Militäroperation.“ Und Richard Gardner, der damalige Staatssekretär für Internationale Angelegenheiten im US-Außenministerium, tat kurz nach dem Ende der Krise ganz offen kund: „Wir in Washington … betrachten die Vereinten Nationen knallhart und pragmatisch als Sprachrohr unserer nationalen Interessen.“

Das Pentagon setzte Kennedy unter enormen Druck. Die Militärs forderten Luftangriffe gegen Kuba und eine Invasion, doch Kennedy entschied sich klugerweise gegen diese Optionen.

Erst später fand man heraus, dass die sowjetischen Bodentruppen in Kuba mit taktischen Atomraketen ausgerüstet waren, die sie im Ernstfall auch gegen die US-Invasionstruppen eingesetzt hätten. Doch der Präsident entschied sich, eine Seeblockade um Kuba zu errichten, die verhindern sollte, dass die sowjetischen Schiffe auch noch die restlichen Raketen anliefern konnten.

Am Montag, dem 22. Oktober 1962, trat Präsident Kennedy vor die Fernsehkameras und eröffnete einem perplexen Publikum in den Vereinigten Staaten und dem Rest der Welt, die Sowjetunion habe in „flagranter und bewusster Verletzung“ der UN-Charta atomar bestückte Raketen auf Kuba stationiert. „Am allergefährlichsten wäre es, nichts zu tun“, betonte er und verkündete, dass er „eine strikte Quarantäne für alles offensive Militärgerät, das auf Schiffen nach Kuba unterwegs ist“, angeordnet habe. Gleichzeitig brachten die USA eine UN-Resolution ein‚ die eine „prompte Demontage und den Abzug jeglicher offensiven Waffen aus Kuba unter Aufsicht von UN-Beobachtern“ forderte.

UN-Generalsekretär Sinth U Thant, ein Buddhist aus Burma, berichtete später, er habe seinen Ohren kaum getraut, als er von der US-Blockade hörte. Denn das bedeutete im Grunde den Beginn eines Krieges gegen Kuba und die Sowjetunion: „Wenn ich mich recht erinnere, war die Rede Kennedys die grimmigste und düsterste, die jemals von einem Staatsoberhaupt gehalten wurde.“

Um die Krise zu entschärfen, forderte der Generalsekretär vor dem UN-Forum alle Beteiligten eindringlich auf, sich aller militärischen Aktionen zu enthalten. Und er telefonierte hinter den Kulissen mit Kennedy, Chruschtschow und Castro, wobei er Letzterem anvertraute: „Wenn CIA und Pentagon weiterhin so mächtig bleiben, sehe ich für die Zukunft der Welt doch sehr schwarz.“ Zur selben Zeit versuchte Adlai Stevenson, den UNO-Sicherheitsrat zum „Gerichtssaal der Weltöffentlichkeit“ zu machen, wie seine Formulierung lautete. In diesem Sinne präsentierte er am 25. Oktober einer verblüfften Öffentlichkeit und einem peinlich berührten Valerian Zorin die Fotos mit den sowjetischen Atomraketen. Wobei der sowjetische UN-Botschafter nur noch etwas von „gefälschten Beweisen“’ murmeln konnte.2 Wie Stevenson erklärte, hatte Kennedy die Blockade ohne vorherige Konsultation des UNO-Sicherheitsrat angeordnet, weil die Sowjetunion jede entsprechende Resolution blockiert hätte. Ein Freund Stevensons schilderte später, wie sehr der UN-Botschafter die amerikanische Bevölkerung beeindruckt hatte: „An seiner Post aus den folgenden Tagen war abzulesen, dass er für das breitere amerikanische Publikum zu einer Art Held geworden war.“

Weil sie einen Krieg unbedingt verhindern wollten, hatten sich Kennedy und Chruschtschow vertraulich darauf verständigt, ihre Atomraketen aus Kuba respektive der Türkei abzuziehen. Zudem hatten die USA zugesagt, von weiteren Angriffen auf Kuba abzusehen. Die Welt konnte aufatmen. Der vielleicht gefährlichste Konflikt des Kalten Krieges war abgewendet worden.

Die Lehre, die wir aus der Geschichte ziehen können, ist klar und einfach und gilt heute genauso wie damals: Zu allererst sollten – große wie kleine – Staaten nicht die Regeln und Prinzipien der Vereinten Nationen verletzen. Zweitens sollten sie ihre Verpflichtungen gegenüber den Vereinten Nationen jederzeit ernst nehmen und sich auf die friedenserhaltende Rolle der UN nicht nur dann berufen, wenn ihnen die internationale Unterstützung nützlich erscheint. Und drittens sollten sämtliche Nationen, allen voran die stärksten Mitglieder der Weltgesellschaft, zu jeder Zeit gegen den Krieg optieren und sich einseitiger militärischer Aktionen enthalten.

aus dem Engl. von E. Wellershaus

* Lebt in der Schweiz. Er ist Autor von „Reckless Gamble. The Sabotage of the United Nations in the Cuban Conflict and the Missile Crisis of 1962“, New Orleans (University Press of the South) 2000. Alle Zitate in diesem Text sind dem Buch entnommen.

Fußnoten: 1 Der Plan Anadyr sah auch die Stationierung von 80 Marschflugkörpern und 18 weiteren Atomsprengköpfen vor. Siehe Der Spiegel vom 14. Oktober 2002, S. 139. 2 Weder der UN-Botschafter Sorin noch der sowjetische Botschafter in Washington, Dobrynin, war vom Kreml über die Raketen in Kuba informiert worden.

Le Monde diplomatique vom 15.11.2002, von DANIEL GANSER