15.11.2002

Der Wille zur Paralyse

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Der Wille zur Paralyse

IN München stehen die Haffa-Brüder vor Gericht. Vor wenigen Jahren wurden die EM.TV-Gründer als Lichtgestalten der New Economy bejubelt, heute sind sie der Bilanzfälschung und des Kursbetrugs angeklagt. Karrieren wie diese stehen für die Entwicklung des börsengeleiteten Kapitalismus, der inzwischen in die Krise geraten ist. Sie wird von „Analysten“, die noch vor kurzem die Aktienkurse hochpushten, als Resultat vorhersehbarer Exzesse und bedauerlicher, aber vorübergehender Fehlentwicklungen verharmlost. Solche Interpretationen, die nur menschliche Schwächen und technische Mängel kennen, gehen in die Irre. Es handelt sich um eine Systemkrise – was nicht bedeutet, dass das System am Ende ist.

Von RENÉ PASSET *

Eigentlich hat alles ganz gut angefangen. Damals, zu Beginn der Achtzigerjahre, erlebten wir den Anbruch einer neuen Zeit. Ronald Reagan und Margaret Thatcher überbrachten ihren Völkern die Zehn Gebote des „Washington Consensus“1 und führten sie ins Gelobte Land. Die Propheten frohlockten: Für den alten Friedrich Hayek hat die Abdankung des Staats den „Weg zur Knechtschaft“2 ein für allemal versperrt; nach Milton Friedman garantierte die freie Kapitalzirkulation in Verbindung mit flottierenden Wechselkursen die wirtschaftliche Stabilität; und Francis Fukuyama wähnte das Ende der Geschichte gekommen, fortan gehe es nur noch um „die Herrschaft des wirtschaftlichen Kalküls“ und „die unbegrenzte Suche nach technischen Lösungen“3 . Das Zeitalter der Glückseligkeit war ausgebrochen.

Damit kam ein neuer Teufelskreis in Gang: Die Privathaushalte investierten in Aktien, deren Börsenwert sich im gleichen Maße aufpumpte wie die Hoffnung in die Zukunft der neuen Technologien. Der damit ausgelöste „Reichtumseffekt“ sollte die Kaufkraft der privaten Haushalte stimulieren, was die Wirtschaft ankurbeln würde, wodurch die Aktienkurse steigen würden, was wiederum die Nachfrage steigern würde und ewig so weiter. Zum Beispiel übertraf der Börsenwert von Unternehmen wie Amazon oder AOL den von alteingesessenen Unternehmen wie Texaco oder General Motors, noch bevor diese Start-ups ihren ersten Dollar Gewinn eingefahren hatten.

Aber früher oder später platzt jede Blase. Die ersten Risse im Börsengefüge zeigten sich bei den Hightech-Werten: Zwischen März 2000 und März 2001 gab der Nasdaq-Index um 62 Prozent nach. Und dann erfasste der Kursverfall auch die traditionellen Werte. Innerhalb von zwei Jahren (März 2000 bis März 2002) fiel der SP 500, in dem die 500 umsatzstärksten US-Aktien an der Wall Street notiert sind, um 50 Prozent.

Dennoch schien die Realwirtschaft noch nicht groß beeindruckt. Ungeachtet aller Börsenverluste hielten sich Konsumausgaben und Investitionstätigkeit auf hohem Niveau. Und gleich nach den Attentaten vom 11. September erwies sich die US-Wirtschaft als erstaunlich reaktionsfähig. Zur allgemeinen Überraschung stieg das Bruttoinlandsprodukt im letzten Quartal 2001 aufs Jahr gerechnet um 1,4 Prozent, die Arbeitslosigkeit ging ab Januar 2002 zurück, die Löhne begannen zu steigen. Am 7. März dieses Jahres, drei Monate nach der spektakulären Pleite des Energieunternehmens Enron, gab sich US-Zentralbankchef Alan Greenspan noch optimistisch: „Der Aufschwung hat schon wieder begonnen.“

Dass die Wirtschaftsdaten weniger glanzvoll ausfielen, als anfangs behauptet, ist inzwischen bekannt. Nach Angaben des US-Handelsministeriums stieg das amerikanische Bruttoinlandsprodukt im letzten Jahr nicht um 1,2 Prozent, sondern nur um 0,3 Prozent, und auch für das laufende Jahr kann von einer Wiederbelebung keine Rede sein. Denn die Schockwelle griff auf andere Unternehmen über, namentlich auf die für Enron arbeitende Wirtschaftsprüfungsfirma Andersen, den Drucker- und Kopiererhersteller Xerox, die Tyco-Gruppe, den Telekommunikationsriesen WorldCom, die führende Investmentbank Meryll Lynch. Zum Vorschein kamen dabei schmutzige Praktiken wie Bilanzfälschung, geheime Absprachen, aberwitzige Fusionen und unangemessen hohe Managergehälter. Auch stellte sich heraus, dass Topmanager ihre Aktienoptionen rechtzeitig verkauft hatten,4 bevor der Kursverfall die Betriebsrenten der Mitarbeiter verschlang, und dass sie zwielichtige Verbindungen zur Regierung unterhielten, die sich ihren Wahlkampf von Firmen wie Enron finanzieren ließ.

Börse und Realökonomie

SÄMTLICHE Transparenz- und Anstandsregeln, die die Glaubwürdigkeit der Finanzmärkte gewährleisten sollen, waren offensichtlich außer Kraft gesetzt. Als dann US-Präsident George W. Bush und sein Vize Richard Cheney die Öffentlichkeit zu beruhigen suchten, meinten böse Zungen, dass sie doch nur heute verurteilen, was sie gestern noch selbst bei Harken Energy Corporation und Halliburton praktiziert haben.5

Das Vertrauen war beschädigt. Dann gab Zentralbankchef Greenspan eine Erklärung ab, die einen Wendepunkt markierte: „Bilanzfälschung und Steuerhinterziehung zerstören den Kapitalismus und die Handelsfreiheit, und im weiteren Sinne die Grundlagen unserer Gesellschaft.“6 In der Tat sank der vom Konjunkturforschungsinstitut Conference Board publizierte Index des Verbrauchervertrauens bis Juli 2002 um 9,2 Prozent. Und zu den Aktienmärkten meinte ein renommierter Experte: „Es wird Jahre dauern, bis das Vertrauen wiederhergestellt ist.“7

Die Konjunktur kippte. Jetzt erfasste die Krise der Realökonomie wiederum die Börse, wo viele Aktienvermögen vernichtet wurden, was erneut auf die Realwirtschaft wirkte, deren Flaute abermals die Börsenwerte drückte, und so fort in einem fatalen Kreislauf. In den USA wie in Europa werden die Wachstumserwartungen nach unten revidiert, überall kommt es zu Entlassungen, die Aktienkurse rutschen nach jedem kleinen Zwischenhoch noch etwas tiefer in den Abgrund.

Um die Öffentlichkeit und sich selbst zu beruhigen, verweisen die Regierenden auf probate Sündenböcke, die das System und seine innere Logik nicht in Frage stellen. Sündenbock eins: die Zinssätze. Die seien in den USA nach elfmaliger Absenkung auf so niedrigem Niveau, dass der Zentralbank (der Fed) kein Spielraum mehr bleibe; in Europa hingegen seien die Zinsen zu hoch, da die Europäische Zentralbank stur an der Inflationsbekämpfung festhalte und darüber das Wachstum vernachlässige.

Sündenbock zwei: das Fehlverhalten der Firmenschefs. „Wenn wir das Problem mit den Unternehmenschefs beseitigen, verschwinden die anderen Probleme von allein“, behauptet Greenspan.8 Und US-Präsident Bush sprach von einer neuen Ethik, „die das Vertrauen der Anleger stärken, die Beschäftigten stolz auf ihre Unternehmen machen und das Vertrauen des amerikanischen Volks wiederherstellen wird“9 . Nur unverbesserliche Skeptiker lästern über solch noble Absichten.

Sündenbock drei: gewisse Funktionsstörungen im System. Die Finanzmärkte sind nicht transparent genug, die Aufsichtsräte ausgerechnet von dem wirtschaftlichen Tätigkeitsbereich abhängig, den sie überwachen sollen, die Rechnungslegungssysteme zu kompliziert, die großen Wirtschafts- und Buchprüfungsfirmen aufgrund anderweitiger Geschäftsaufträge zu eng mit ihren Kunden verbandelt, die Befugnisse der Börsenaufsicht zu eng gefasst.

So wird mal hier ein schwarzes Schaf aussortiert, mal dort eine Stellschraube justiert – und fertig. Dabei wäre es durchaus angebracht, sich die Dinge etwas genauer anzusehen. Zum Beispiel wirft die beschriebene Entwicklung die Frage auf, ob die vorschnell als Funktionsstörungen qualifizierten Erscheinungen der Korruption und Steuerhinterziehung nicht vielmehr normale Begleiterscheinungen eines aufs Geld fixierten Systems sind. Was verleitet denn ein Unternehmen dazu, „externes Wachstum“ durch gigantische (am Ende nicht selten misslingende) Fusionen zu suchen, wenn nicht die Profitgier der Finanzinstitutionen und ihr Ziel einer 15-prozentigen Eigenkapitalverzinsung? Und Bilanzen werden wohl vor allem deshalb gefälscht, weil die Refinanzierung der Unternehmen von der Entwicklung ihres Börsenwerts abhängt, der wiederum kurzfristige Gewinne voraussetzt. Auch dürfte es vor allem am hohen Anteil von Aktienoptionen am Managergehalt liegen, dass so manche Führungskraft schwach wird und versucht, durch Bilanzfälschung das private Vermögen aufzubessern.

Die beschriebene Entwicklung verweist aber auch auf die innere Widersprüchlichkeit der Expansion selbst, die zweifellos auf dem beträchtlichen Vorsprung der Vereinigten Staaten im Bereich der „Technologien des Immateriellen“ beruht. Doch der aberwitzige Wertzuwachs der IT-Technologie-Aktien resultiert in erster Linie aus der übertriebenen Liberalisierung, die spekulativen Kapitalbewegungen keinerlei Fesseln anlegt. Solange die Spekulationsblase noch anwächst, nehmen die Unternehmen Kredite auf, um zu investieren; platzt sie am Ende, bleiben nur Schulden übrig, die alles andere als virtuell sind.

Es ist kein gutes Zeichen, dass Unternehmen ihre eigenen Aktien aufkaufen müssen, um ihren Kurs zu stützen. Und auch die private Verschuldung, die den Konsum auf hohem Niveau hält, kann sich nicht endlos fortsetzen. Selbst wenn die Verschuldungsquote der US-Privathaushalte von 4 Prozent auf 2,5 Prozent des Jahreseinkommens sinkt, wird der Schuldendienst 2004 etwa 25 Prozent der verfügbaren Einkommen verschlingen.10 Hinzu kommt die Krise der US-Pensionsfonds mit fester Ausschüttungssumme, deren Aktiva infolge der Börsenkrise abschmelzen.

Dass die USA in der Lage sind, ihre Investitionen ohne Einschränkung der Konsumausgaben zu erhöhen, ist nur aufgrund einer Auslandsverschuldung in Höhe von jährlich rund 400 Milliarden Dollar möglich. Sie ziehen also Kapital ins Land, was das Wachstum in anderen Ländern beeinträchtigt, das Schuldnerland aber auch verwundbar macht.

Zudem stellt sich die Frage, ob der Shareholder-Kapitalismus – anders als weithin angenommen – den Sachzwängen des technologischen Wandels überhaupt angemessen ist. Die modernen Kommunikationsmittel schließen die Welt zu einer vielfach vernetzten Großorganisation zusammen, die in Echtzeit agiert und sich durch allseitige Interdependenz auszeichnet. Dabei muss die Wirtschaft in Rechnung stellen, dass die langfristigen Probleme der Biosphäre (erneuerbare Ressourcen, Biodiversität, Treibhauseffekt u. ä.) künftig stärker ins Gewicht fallen und mehr Rücksicht auf die menschlichen Werte genommen wird – und nicht nur auf die Leistung des Produktionsapparats.

Das System reagiert auf diese Herausforderungen mit dem engstirnigen Rückzug auf die Finanzlogik. „Langfristig“ bedeutet für diese „ in den nächsten zehn Minuten“, wie es einmal ein Banker gegenüber James Tobin formulierte.11 Der ökonomische Apparat ist vor allem auf die Produktion von Finanzrenten aus, egal ob dabei ganze Landstriche verwüstet werden, ob die Belastung von Umwelt und Natur zunimmt, ob Vermögen vernichtet werden und immer mehr Menschen in Not geraten.

Joseph E. Stiglitz hat in seinem erfolgreichen Buch „Die Schatten der Globalisierung“12 gezeigt, wie der Internationale Währungsfonds die Probleme, die er bewältigen will, im Grunde selbst schafft, indem er den ärmsten Ländern eine pure Finanzlogik aufzwingt und sich damit als „brandstiftende Feuerwehr“ betätigt. Überall wo eine Krise droht und die Realökonomie Liquidität brauchte, verordnet der IWF Restriktionen, die viele Menschen ins Elend stürzen, den Gläubigern aber zu ihrem Geld verhelfen. Jeder wirtschaftliche Aufschwung braucht Basisinvestitionen (für Infrastrukturen, Bildung, Gesundheit), die sich nur langfristig rentieren. Doch der IWF nimmt diese Einsicht bei weitem nicht so ernst wie die Rückzahlung der Schulden, die ohne Haushaltsüberschüsse nicht zu bewerkstelligen ist. Die dazu notwendigen Strukturanpassungsprogramme schnüren gerade den Menschen die Luft ab, denen sie angeblich Hilfe bringen sollen. Argentinien weiß davon ein Lied zu singen.13

Dieser Grundwiderspruch führt zur Unfähigkeit des Systems, die moderne Wirtschaft zu steuern. So wenig sich in der derzeitigen Krise das große Ende ankündigt, so wenig kann sie als bloßer Betriebsunfall gelten. Die Anschläge vom 11. September spielen in diesem Zusammenhang nur insofern eine Rolle, als sie die Widersprüche verschärft und verdeutlicht haben, die innerhalb des Systems bereits zu Werke sind. Die Krise aber ist eine Krise des Systems.

Beschwörungen, Ausflüchte und Flickschusterei werden daran nichts ändern können. Doch machen wir uns keinen Illusionen: Das Hauptmerkmal des Kapitalismus besteht in seiner Fähigkeit, sich durch Krisen zu erneuern und zu verjüngen. Der Ausweg aus dem „Shareholder-Kapitalismus“ wird nicht vom Himmel fallen. Ein solcher Ausweg setzt jedenfalls voraus, dass den Finanzmächten entschlossen das Heft aus der Hand genommen und die Logik des Systems verändert wird.

dt. Bodo Schulze

* Emeritus der Universität Paris-I, Expräsident des wissenschaftlichen Beirats von Attac, u. a. Autor von „Mondialisation financière et terrorisme“ (mit Jean Liberman), Paris (L‘Atelier) 2002.

Fußnoten: 1 Zu den zehn Empfehlungen des IWF und der Weltbank an die armen Länder, siehe: Moises Naim, „Zwangsrezepte für die armen Länder“, Le Monde diplomatique, März 2000. 2 Friedrich Hayek, „Der Weg zur Knechtschaft“, München (Olzog) 1994. 3 Francis Fukuyama, „Das Ende der Geschichte: Wo stehen wir?“, München (Kindler) 1992. 4 Sonderaktien, die als Gratifikation für die Führungskräfte eines Unternehmens dienen und bei (rechtzeitigem) Verkauf hohe steuerfreie Renditen abwerfen. 5 Die beiden Unternehmen stehen im Verdacht der Bilanzfälschung und zwielichtiger Aktienverkäufe. 6 Erklärung vor dem Bankenausschuss des US-Senats am 16. Juli 2002. 7 Jeff Knight, Leiter der Investitionsabteilung von Putnam Investment, Le Monde, 24. Juli 2002. 8 Rede vor dem Bankenausschuss des US-Senats am 16. Juli 2002. 9 Wallstreet-Rede am 9. Juli 2002. 10 André Gorz, „États-Unis: chronique d‘une crise annoncée“, Transversales 65, Paris, September/Oktober 2000. 11 Ibrahim Warde, „Die Tobin-Steuer – ein wenig Sand im Getriebe“, Le Monde diplomatique, Februar 1997. 12 Berlin (Siedler) 2002. 13 Carlos Gabetta, „Ökonomischer GAU in Argentinien“, Le Monde diplomatique, Januar 2002.

Le Monde diplomatique vom 15.11.2002, von RENÉ PASSET