15.11.2002

Meistbietend abzugeben

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Meistbietend abzugeben

VIEL ist nicht mehr übrig vom staatlichen Tafelsilber, das in EU-Europa auf dem privaten Markt feilgeboten werden kann. Und in den meisten Ländern hat sich – im Nachhinein betrachtet – der Verkauf des öffentlichen Eigentums als letztlich sehr kostspielig erwiesen. Das gilt nicht nur für die Käufer von Telekommunikations- und Postaktien, sondern vor allem für die Dienstleistungskonsumenten – sie sind es, die mehr bezahlen und weniger dafür bekommen. Denn Missmanagement und Organisationschaos sind oft genug die Folgen der bedingungslosen und uneingeschränkten Herrschaft von Markt und Profit. Doch der Kurs der EU-Kommission bleibt stur der gleiche: privatisieren um – fast – jeden Preis.

Von BERNARD CASSEN

Den neoliberalen Fundamentalisten ist bereits die Existenz öffentlicher Dienste und Versorgungseinrichtungen ein permanentes Ärgernis. Diese Leute, die im Internationalen Währungsfonds (IWF) wie bei der Weltbank, in der EU-Kommission wie in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), in den Arbeitgeberorganisationen wie auf den Kommentarseiten der Weltpresse den Ton angeben, lehnen jedwede Produktion von Gütern oder Dienstleistungen ab, die nicht durch Gewinnstreben und die Mechanismen des Marktes gelenkt ist. Nur die polizeiliche Produktion sozialer Ordnung darf laut ihrem Credo in den Händen des Staates bleiben.

Die früheren wie die heutigen EU-Staats- und Regierungschefs haben sich diese extreme Sicht der Dinge bis auf wenige Ausnahmen nicht zu Eigen gemacht. Gewiss, von Anthony Blair über José María Aznar und Silvio Berlusconi bis hin zu Ministern der Regierungen Jospin und Raffarin führen sie alle die „Modernität“ und Effizienz des Markts im Munde, doch sobald die Rede auf den öffentlichen Sektor kommt, riskieren sie nur noch vorsichtige Vokabeln wie „Reformbedarf“ und sanfte Forderungen, etwa nach einer „Öffnung“ der noch staatseigenen Unternehmen für privates Kapital. Und dabei beschränken sie sich auf das Argument, man müsse eben industrielle Allianzen knüpfen oder in Zeiten der Ebbe alles tun, um die Staatskassen wieder aufzufüllen.

Hinter dieser gängigen Sprachregelung steckt die Absicht, potenzielle Wähler nicht zu verschrecken und auch nicht die Öffentlichkeit zu provozieren, die einen der Allgemeinheit verpflichteten öffentlichen Dienst nach wie vor positiv sieht. Im Endeffekt verfolgen die Staatslenker jedoch genau dieselben Ziele wie die Vertreter der harten und reinen Lehre: Es geht ihnen darum, das Interventionsfeld des Finanzkapitals zu erweitern und die Widerstandskraft der Gesellschaft gegen die alles umfassende Kommerzialisierung zu schwächen. Das geschieht auch dadurch, dass sie den Einfluss der durch die Arbeitnehmergesetzgebung geschützten Beschäftigten zurückdrängen – also derjenigen, die im Dezember 1995, vom Rest der Arbeitnehmer mit einer Art „Handlungsvollmacht“ für Streikmaßnahmen ausgestattet, das Rentenreformprojekt der französischen Rechtsregierung unter Alain Juppé1 gekippt haben.

Trotz eines gewissen Widerstands konnte das liberale Projekt in den vergangenen zwanzig Jahren gewaltige Fortschritte machen. Nach OECD-Schätzungen erreichten die Privatisierungen der Jahre 1984–2000 allein im Europa der Fünfzehn ein Volumen von 563 Milliarden Euro, das Doppelte des französischen Staatshaushalts2 .

Dass sich das Tempo der Privatisierungen seit 2000 etwas verlangsamt hat – ihr Volumen ist zwischen 1998 und 2001 von jährlich 110 Milliarden auf 22 Milliarden Euro 2001 gesunken –, liegt einzig daran, dass privatisierbare Vermögensbestände rar geworden sind und dass der Absturz der Börsenkurse, als Folge der geplatzten Internetblase, den Gang zum Aktienmarkt diskreditiert hat. Die gesamte Industrielandschaft Europas wurde durch den Schwindel erregenden Anstieg ausländischer Investitionen und vor allem die Beteiligung angloamerikanischer Pensionsfonds an EU-Konzernen vollständig umgebaut.

Mit Beginn des neuen Jahrhunderts hat sich die Situation jedoch völlig umgekehrt. Die Börsenskandale in den USA, der Einbruch im Telekommunikationssektor, der Kurssturz auf allen Börsenplätzen – dies alles untergräbt nicht nur das Vertrauen der Anleger, sondern auch, mit noch gravierenderen Folgen, den Glauben an den Kapitalismus.

Der Kontext für die Privatisierungen der vergangenen zwei Jahrzehnte hat sich offenbar von Grund auf verändert. Das gilt zunächst einmal für die Summen, um die es geht. Der neue französische Ministerpräsident Jean-Pierre Raffarin hat nicht das Glück, das seinem Vorgänger Lionel Jospin zuteil wurde. Als größter Privatisierer der Fünften Republik hat der Chef der Sozialisten in fünf Jahren diesbezüglich mehr Fakten geschaffen als seine drei rechtsgerichteten Vorgänger – Chirac, Balladur und Juppé – zusammengenommen. Über 30 Milliarden Euro an öffentlichem Vermögen hat Jospin der Börsenspekulation ausgeliefert, während der zu spät gekommene Raffarin nur noch über rund 20 Milliarden Euro an potenziellem Börsenkapital verfügt – vorausgesetzt, die Kurse fallen nicht noch weiter.

Der zweite Negativfaktor: Überall auf der Welt erwiesen sich die Privatisierungen als äußerst nachteilig für die Verbraucher. Einige Beispiele mögen genügen: In Kalifornien musste im Sommer 2000 wegen Stromknappheit infolge der Deregulierung des Strommarkts der Notstand ausgerufen werden.3 In den lateinamerikanischen Ländern, wo die öffentliche Versorgung in die Hände von Vivendi4 , der spanischen Telefónica und der französischen Télécom liegt, stiegen die Wasser- und Telefonkosten drastisch an, wobei sich häufig auch noch die Leistungen verschlechtert haben. In Großbritannien erhöhte sich der Wasserpreis innerhalb der letzten 12 Jahre inflationsbereinigt um 36 Prozent. In Schweden verteuerten sich die Postgebühren um 60 Prozent. Und die Privatisierung von British Rail5 führte zu einem organisatorischen Chaos und einer Unfallserie mit insgesamt sechzig Toten. Diese Liste muss ergänzt werden durch eine Reihe anderer Konsequenzen wie den massiven Stellenabbau, die Streichung von Ausgleichszahlungen und sogar den Quasibankrott, der einige der privatisierten Unternehmen ereilt hat (so paradox dies erscheinen mag). Üppige Dividenden, unverzeihliche Managementfehler, unzureichende Investitionen, großzügige Aktienoptionen und märchenhafte Gehälter fürs Führungspersonal – all dies hat dazu beigetragen, etliche der einstigen Staatsunternehmen an den Rand des Ruins zu bringen. Und wieder soll der Steuerbürger die Zeche zahlen.

Wenn Sicherheit zum Kostenfaktor wird

IN Großbritannien, dem Geburtsland des Wirtschaftsliberalismus, zeigte sich Railtrack, die Gesellschaft, die das britische Eisenbahnnetz seit der Privatisierung 1996 verwaltet, außer Stande, die nötigen Sicherheitsvorkehrungen zu finanzieren – was dutzende Menschen das Leben kostete. Also musste der Staat das marode Unternehmen wieder übernehmen und neues Kapital nachschießen. Auch die britische Luftüberwachungsgesellschaft National Air Traffic Control Services hält neuerdings wieder die Hand auf, und das 1996 privatisierte Energieunternehmen British Energy, das mit seinen acht Atomkraftwerken 20 Prozent des britischen Strombedarfs deckt, steht ebenfalls kurz vor einem Konkurs. Ganz zu schweigen von den japanischen Banken, die um ihre Verstaatlichung bitten.

Die Ankündigung des französischen Ministerpräsidenten Raffarin und seines Wirtschafts- und Finanzministers Mer, die wenigen noch verbliebenen Staatsunternehmen – wie die Fluggesellschaft Air France, den Stromversorger EDF und den Gasversorger GDF – ganz oder teilweise für privates Kapital zu „öffnen“, passt keineswegs in die aktuelle Börsenlandschaft. Da sie also keine großen Worte über die vorgeblichen Vorteile der Privatisierung machen können, bleibt ihnen im Prinzip kein glaubwürdiges Argument, um der Öffentlichkeit die Sache schmackhaft zu machen. Dass sie dennoch tun, was sie nicht lassen können, hat zwei Gründe: Zum einen möchten sie ihren Freunden gefällig sein und noch das kleinste Loch im Staatshaushalt stopfen; zum anderen wollen sie angesichts der Liberalisierungswut der EU-Kommission und der meisten EU-Regierungen nicht beiseite stehen.

Privatisierungen sind in der Tat ein probates Mittel, um die Freunde der jeweils neuen Regierung an der Beute zu beteiligen. An der Spitze der Gewinner stehen selbstverständlich die Banken, die für die „Vorbereitung“ solcher Finanzmanöver Zigmillionen Euro einstreichen. Mer bekommt also ein herzliches Dankeschön von ABN Amro, Rothschild & Co, Clinvest, Morgan Stanley, Crédit Agricole Indosuez, Lazard, BNP Paribas und Société Générale. Unter den privatisierbaren Unternehmen befindet sich ein Exemplar, das besonders schnellen Profit verspricht und für ein Butterbrot zu haben ist: Air France. Das Staatsunternehmen ist 3 Milliarden Euro wert, der Anteil des Staates von 57 Prozent demnach 1,64 Milliarden Euro. Mit einem Reingewinn von 159 Millionen Euro im ersten Quartal 2002 – auf das ganze Jahr hochgerechnet über 600 Millionen Euro oder 20 Prozent der derzeitigen Börsenkapitalisierung – ist die Fluggesellschaft eine der profitabelsten der Welt. Kein Aktionär, der noch bei Sinnen ist, würde seine Anteile an einem derart florierenden Unternehmen verkaufen, doch Mer hat sich vorgenommen, bis Ende 2003 ein Viertel der staatlichen Anteile abzustoßen.

Mittelfristig bedroht ist auch die „Generaldirektion für zivile Luftfahrt“, DGAC, die – durchaus mit Profit – optimale Sicherheitsbedingungen im französischen Luftraum gewährleistet und mit ihren europäischen Partnern im Rahmen von Eurocontrol logistisch kooperiert. Doch die EU-Kommission will den gemeinsamen europäischen Luftraum und das Wettbewerbsprinzip auch in einem Bereich einführen, wo es überhaupt nichts zu suchen hat – ungeachtet des britischen Desasters6 .

Elektrisiert durch die Aussicht auf fantastische Gehälter und großzügige Aktienoptionen fordern als Erste die führenden Manager der einstweilen noch staatlichen Unternehmen die Änderung der Rechtsform. Deshalb haben sie schon einmal die inneren Strukturen ihres Unternehmens, bevor dessen Privatisierung überhaupt begonnen hat, auf Zack gebracht, indem sie in ihrer Arbeitsorganisation bereits die Privatisierung antizipierten.7 Auf personalpolitischer Ebene hat dies bereits ein Opfer gefordert: Der sozialistische Postchef Martin Vial musste seinen Platz für einen Freund der neuen Regierung räumen.

Angetrieben und legitimiert werden diese Privatisierungen aber durch die ultraliberale Programmatik der Europäischen Union – obgleich die EU-Verträge in der Frage der Rechtsform von Unternehmen völlig neutral sind. Dieser Privatisierungsantrieb funktioniert unerbittlich und wirkt in vier Etappen. Zunächst formuliert die Kommission ihre Vorschläge zur „Liberalisierung“ der öffentlichen Monopolbetriebe, zumal der Netzbetreiber des Energie-, Transport-, Post- und Telekommunikationssektors, die vom Rat angenommen werden. Diese Unternehmen verlieren zwangsläufig Marktanteile an ausländische Firmen.

Zweite Etappe: Um ihren Umsatz zu halten, sehen sich die noch öffentlichen Unternehmen gezwungen, durch furchtbar teuer bezahlte Unternehmensakquisitionen zu Global Players zu werden (als Beispiele seien der Erwerb der deutschen Mobilcom durch France Télécom und der argentinischen Edenor durch den Energiekonzern EDF genannt).

Dritte Etappe: Da sie die Akquisitionen nicht allein durch Aktientausch bezahlen können, müssen die Staatsunternehmen Schulden machen, die astronomische Höhen erreichen können (74 Milliarden Euro bei France Télécom, dagegen nur 22 Milliarden Euro bei der EDF, zu denen 6,7 Milliarden Euro „Transaktionskosten“ gehören, die im Fall eines Wiederverkaufs verloren sind).

Vierte Etappe: Die EU-Kommission verbietet unter Berufung auf das sakrosankte Wettbewerbsprinzip Staatsbeihilfen, auch wenn die öffentliche Rechtsform weiter besteht. Während sie zugleich Staatsbeihilfen als Vorspiel zu einer Privatisierung befürwortet, die damit als einziger Ausweg offen steht.

Unterstützt wird die Manipulation bisweilen durch steuerpolitische Maßnahmen auf nationaler Ebene. Etwa in Frankreich: Nachdem Ministerpräsident Raffarin die Besserverdienenden und die Unternehmen mit substanziellen Steuergeschenken bedacht hat, spielt er sich nun als Fürsprecher der „kleinen Leute“ auf, untersagt der EDF Tariferhöhungen und arbeitet so auf eine negative Betriebsbilanz für 2002 hin. Und schon hat er einen weiteren „guten Grund“ für die Privatisierung der französischen Stromversorgung produziert.

Aus all dem folgt, dass man die derzeitige Logik des europäischen Einigungsprozesses schlechthin in Frage stellen muss. Die Gelegenheit hierzu bietet sich 2004. Dann werden die EU-Bürger – wenn man sie lässt – über den Vertrag abzustimmen haben, den die Regierungskonferenz auf der Grundlage der Empfehlungen des „Konvents zur Zukunft Europas“ vorlegen wird.8 Allerdings wurden soziale Fragen und das Thema öffentliche Dienstleistungen bislang noch nicht für würdig befunden, in eine künftige EU-Verfassung aufgenommen zu werden.

dt. Bodo Schulze

Fußnoten: 1 Dazu Bernard Cassen, „Die Gesellschaft sagt nein“, Le Monde diplomatique, Januar 1996. 2 Le Monde, 9. Oktober 2002. 3 Dazu Tom Frank, „Elvis singt hier nicht mehr“, Le Monde diplomatique, Februar 2002. 4 Dazu Franck Poupeau, „A la Paz, les dégâts de la privatisation“, Manière de voir 65, Sept./Okt. 2002, „Die Privatisierung des Wassers“, Le Monde diplomatique, Mai 2002. 5 Dazu Marc Nussbaumer, „Zug nach Nirgendwo“, Le Monde diplomatique, April 2002. 6 Dazu: Interview mit Harold Quesnel von der USAC-CGT, Bastille République Nation 14, September 2002. 7 Dazu Gilles Balbastre, „Bis der Postmann nicht mehr klingelt. Erste Zwischenbilanz eines privatisierten Dienstleisters“, Le Monde diplomatique, Oktober 2002. 8 Dazu Bernard Cassen, „Une Convention européenne conventionnelle“, Le Monde diplomatique, Juli 2002.

Le Monde diplomatique vom 15.11.2002, von BERNARD CASSEN