15.11.2002

Der Klotz von Sanssouci

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Der Klotz von Sanssouci

Von ROLAND-PIERRE PARINGAUX *

DIE Konvention zum Schutz des Welterbes, der bis heute 173 Staaten beigetreten sind, wurde 1972 von der Unesco ratifiziert. Seither hat sich die Vorstellung von dem, was dieses Erbe ausmacht, verändert: Nachdem anfangs nur öffentliche Baudenkmäler und Naturschutzgebiete erfasst wurden, gehören heute Stadtensembles ebenso dazu wie Industriedenkmäler, Naturlandschaften und Biosphärenreservate, einschließlich Unterwasserlandschaften.

Die meisten der über 730 Kulturdenkmäler, die zum Teil des Welterbes erklärt und damit symbolisch der ganzen Menschheit zugesprochen wurden, sind recht gut geschützt. Andere dagegen, darunter recht bedeutende, sind stark gefährdet – etwa die Tempelruinen von Angkor (Kambodscha), die Galapagos-Inseln (Ecuador), das Tal von Kathmandu (Nepal), der Yellowstone-Park (USA) und die Ausgrabungstätten von Peru.

Bedroht sind sie durch Umweltverschmutzung, Plünderung, Kriegshandlungen, Wilderei oder Massentourismus. Manche nehmen Schaden durch Armut und Gewalt, andere durch Umweltbedingungen und vor allem durch die Missachtung des Welterbes und die fehlenden Möglichkeiten, seine Respektierung durchzusetzen.

Das notwendige Bewusstsein lässt sich umso weniger herstellen, als die Politiker im Namen der Fortschritts politische Entscheidungen fällen, die wie etwa der Bau großer Staudämme die Umwelt und das Kulturerbe gleichermaßen gefährden. Offiziell sind etwa zwanzig Stätten akut in Gefahr. Aber weitere, nicht weniger bedrohte Stätten erscheinen aus politischen Gründen gar nicht erst auf der so genannten Roten Liste der Unesco.

Die schlimmste aller Bedrohungen ist natürlich der Krieg. Die Idee einer internationalen Aktion zum Schutz des Welterbes entstand nicht zufällig nach dem Ersten Weltkrieg. Noch im jüngsten Balkankonflikt haben Kleinode wie die Altstadt von Dubrovnik und die Brücke von Mostarl unter Kriegshandlungen gelitten. Auch die Tempelanlage von Angkor in Kambodscha war durch Bürgerkrieg und Plünderungen bedroht. Die Lage dort hat sich inzwischen beruhigt, dafür müssen die Tempel heute den Ansturm des Massentourismus verkraften.

Auch Glaubenskämpfe und religiöse Intoleranz können Kulturdenkmäler von hohem Symbolwert gefährden. Jüngstes Beispiel dafür ist die Sprengung der riesigen Buddhastatuen von Bahmian. Sie waren noch kurz bevor sie von den Taliban im Namen des Islam in die Luft gejagt wurden, auf die Unesco-Liste des Weltkulturerbes gekommen. In Afghanistan wurde praktisch das gesamte nationale Kulturerbe zerstört. Das Museum von Kabul2 , vor der Taliban-Herrschaft eine wichtige kulturelle Institution, wurde geplündert.

Kulturdenkmälern, mit denen sich Geld verdienen lässt, droht Schaden durch den Massentourismus. Das gilt für die Athener Akropolis, die Lagune von Venedig, die Tempelanlage Machu Pichu in Peru, das antike Petra in Jordanien, die Pyramiden, den Grand Canyon, die Chinesische Mauer, die Aztekentempel in Mexiko und sogar für das alte chinesische Dorf Lijiang am Fuß des Himalaja, das gestern noch niemand kannte und das heute von einfliegenden Touristen erobert wird.

Hier und da wurden einschränkende Maßnahmen getroffen. Aber vielerorts fehlt es an Mitteln wie auch am Willen, etwas gegen den Tourismus zu unternehmen.

Auch die Kulturlandschaften sind stark bedroht. Der Yellowstone-Park in den USA ist seit einigen Jahren mit mehreren Millionen Besuchern jährlich bis an seine Grenzen belastet. Auch in drei ostafrikanischen Wildparks, wo Besucher eine unvergleichliche Fauna bestaunen und pittoreske Menschen fotografieren können, ist die Lage höchst besorgniserregend.

Ein gravierender Fall ist der Ngorongoro in Tansania, wo die weltweit größte Wildtierfauna heimisch ist. Immer mehr Menschen steigen in den ausgedehnten Vulkankrater und nach einem Bericht der Internationalen Vereinigung für die Erhaltung der Natur und ihrer Ressourcen (IUCN) ist die Population einiger Tierarten, insbesondere Gazellen und Gnus, um 25 Prozent zurückgegangen.

Als weitere Folge des Tourismus und der sich ausbreitenden Landwirtschaft sind die autochthonen Massai, deren Weideflächen sehr geschrumpft sind, dazu gezwungen, den Boden bis hin zu den Kraterwänden zu nutzen. So wird das ökologische Gleichgewicht gestört, der Lebensraum der Tiere geschmälert, die Lebensweise der nomadischen Hirten verändert.3

Westlich vom Ngorongoro, ebenfalls in Tansania, befindet sich der Serengeti-Park, der für die jährliche Wanderung vieler Zebras und Gnus berühmt ist. Die Zebras, die den durch Regenfälle angeschwollenen Fluss Mara überqueren, sind oft ein dramatischer Anblick. Diese Wanderung ist nun durch eine geplante Talsperre bedroht: Flussaufwärts, auf kenianischem Gebiet, soll der Wasserlauf umgeleitet und die Nebenflüsse sollen ausgetrocknet werden, was das Ökosystem des Parks zerstören würde. Zudem sollen 170 000 Morgen Wald nahe dem Naturschutzgebiet abgeholzt werden, wobei der gesamte Waldbestand Kenias ohnehin nur noch 10 Prozent ausmacht. Die Galapagos-Inseln wiederum sind Ziel einer Offensive der ecuadorianischen Fischereiindustrie, die gegen die gesetzlichen Fangquoten zum Schutz des Meeresparks kämpft. Bestimmte Organe von Haien, Walen und Seehunden werden vor allem von den Chinesen als Aphrodisiakum sehr geschätzt, weshalb die Tiere massenhaft abgeschlachtet werden. Der Regierung von Quito fehlt es an Mitteln, um das 133 000 Quadratkilometer große Gebiet zu kontrollieren.

In Russland ist der riesige Baikalsee (23 000 Quadratkilometer) durch Abwässer und Giftstoffe stark verschmutzt und wird auch durch die wachsende touristische Belastung von ökologisch sensiblen Gebieten, durch illegale Abholzung und Fischwilderei gefährdet. Die Robbenpopulation ist auf 50 000 Exemplare geschrumpft. 1994 waren es noch doppelt so viele. Zudem hat die Regierung innerhalb des Naturschutzgebiets Ölbohrungen für 25 Jahre erlaubt.

Das 1999 verabschiedete Gesetz über den Baikalsee ist mangels Ausführungsbestimmungen immer noch nicht anwendbar, und der für den Baikalsee zuständige Ausschuss wurde im Jahr 2000 aufgelöst. Daher wird derzeit diskutiert, den Baikalsee auf die Rote Liste zu setzen.

Auch das Gebiet der Everglade-Sümpfe in Florida, USA ist durch industrielle und landwirtschaftliche Verschmutzung gefährdet: der Wasserspiegel sinkt, und die Artenvielfalt geht zurück.

Andere Kulturlandschaften sind ganz spezifischen Gefahren ausgesetzt, etwa die Reisterrassen auf der philippinischen Insel Luzon. Nachdem sie jahrhundertelang von Menschen bestellt wurden, sind sie, seit es rationellere landwirtschaftliche Produktionsmethoden gibt, dem Verfall überlassen.

Die Ausgrabungsstätte von Chan Chan in Peru wiederum ist durch die von El Niño bedingten Klimaveränderungen bedroht. Eine Gefährdung können auch einfach Neubauten darstellen. Das gilt für die Akropolis, die Altstadt von Wien und den Palast des Dalai Lama in Lhasa.

Manche Fälle grenzen ans Absurde. So hat die Unesco in Luang Prabang, der am Mekong gelegenen ehemaligen Königshauptstadt von Laos, vor mehreren Jahren mit Hilfe der Europäischen Union und des französischen Entwicklungsinstituts AFA eine Hilfsaktion gestartet, um die historische Stadt samt ihrer natürlichen Umgebung (urbane Gestaltung, traditionelle Architektur, Feuchtgebiete) zu erhalten. Doch jetzt werden diese Arbeit und die Stätte selber durch ein Bauprojekt der asiatischen Entwicklungsbank gefährdet, das auf das kulturelle Erbe der ehemaligen Hauptstadt keine Rücksicht zu nehmen scheint.

In der Mehrzahl dieser Fälle sind dem Komitee zum Schutz des Welterbes die Hände gebunden. Es steht ihm zwar frei, die Kulturdenkmäler in seine Liste aufzunehmen, es kann aber einem souveränen Staat keine Maßnahmen zu deren Erhaltung aufzwingen. Und es kann auf dessen Territorium und ohne dessen Einwilligung auch nichts selbst unternehmen. Manche Staaten fordern sogar, dass vor einer Aufnahme in die Rote Liste ihr Einverständnis eingeholt werden muss.

Mit Hilfe der modernen Kommunikationsmittel gelangen Meldungen von Vereinen oder Privatpersonen über drohende Schäden am Welterbe nunmehr nicht nur direkt in die Unesco-Computer, sondern auch zu den Regierungen, die solche Beschwerden nicht mehr ignorieren können.

Dank solcher Wachsamkeit – und der Konvention von 1972 – ist es in den letzten Jahren immerhin gelungen, potenziell bedrohliche Projekte zu stoppen: zum Beispiel die Pläne, eine Fabrik in Sichtweite des Heiligtums in Delphi zu errichten, oder einen Autobahnzubringer in unmittelbarer Nähe der Pyramiden von Gizeh vorbei zu führen oder einen überdimensionalen Gebäudekomplex bei Schloss Sanssouci in Potsdam zu bauen.

Vor kurzem hat die Regierung von Sri Lanka trotz Bürgerkrieg die Erweiterung eines Militärflughafens aufgegeben, der neben der historischen Stätte Sigiriya gelegen ist. Und in Rumänien wurde das Projekt eines „Dracula-Parks“ in der Nähe der historischen Stadt Sighisoara/Schäßburg in Siebenbürgen gekippt.

Für die internationale Gemeinschaft besteht die große Aufgabe darin, das Welterbe zu schützen und es, ohne den touristischen Nutzen gänzlich zu ignorieren, an künftige Generationen weiterzugeben. Die Kampagne, die von der Unesco im Oktober4 in mehreren Hauptstädten mit einem virtuellen Kongress eröffnet wurde, hat das erklärte Ziel, alle Beteiligten in die Verantwortung zu nehmen.

dt. Linde Birk

* Journalist

Fußnoten: 1 Die Brücke von Mostar wird derzeit wieder aufgebaut. Obwohl neu, gehört sie weiterhin zum Weltkulturerbe. 2 In den neunziger Jahren hatte die UNESCO eine Kampagne zur Erhaltung der für ihre Keramik-Minaretts berühmten afghanischen Stadt Herat eingeleitet. Der Krieg brachte sie zum Scheitern. 3 Vgl. Alain Zecchini „Im Land der Massai schrumpfen die natürlichen Ressourcen“, Le Monde diplomatique. November 2000. 4 Die Kampagne „Partnerschaft für das Welterbe“ entstand aus einer Zusammenarbeit der UNESCO mit Geldinstituten, Entwicklungsagenturen, dem Privatsektor und den Universitäten zum Schutz, Erhalt und zur Erschließung des Welterbes.

(www.virtualworldheritage.org)

Le Monde diplomatique vom 15.11.2002, von ROLAND-PIERRE PARINGAUX