Die Sache mit dem Personalausweis
GRIECHENLAND gehört zu den EU-Mitgliedsländern, in denen die Trennung von Staat und Kirche noch nicht gänzlich vollzogen ist. Die „Östlich-Orthodoxe Kirche Christi“ behauptet ihre Rolle als Nationalkirche bis heute auch in der griechischen Verfassung. Das führte zur Diskriminierung religiöser Minderheiten, die erst durch den Druck der EU-Gerichte gemildert wurde. Seit der ehrgeizige Erzbischof Christodoulos im Amt ist, nervt der Machtanspruch der Kirche auch die orthodoxe Bevölkerungsmehrheit. Doch in dem von Christodoulos betriebenen Kulturkampf, der sich am neuen Personalausweis entzündete, wagt die Regierung Simitis nicht, die Kirche in die Schranken zu weisen. Von VALIA KAIMAKI *
Als Ende September 2002 eine Debatte über den Gesetzentwurf zur „medizinisch unterstützten Fortpflanzung“ im griechischen Parlament stattfand, löste dies eine lebhafte Reaktion der griechisch-orthodoxen Kirche aus: Erzbischof Christodoulos verlangte klipp und klar, dass der Gesetzentwurf zurückgezogen wird. Es ist nicht das erste Mal, dass die Kirche sich in die Staatsgeschäfte einmischt. Doch ihre Stimme ist geschwächt, seit sie im Kampf um die Eintragung der Religionszugehörigkeit in den Personalausweisen eine Niederlage einstecken musste.
Alles begann im Juni 2000. Um sich den europäischen Normen anzupassen, kündigte die Regierung an, in den neuen Personalausweisen die Rubrik „Religionszugehörigkeit“ abzuschaffen. Diese sei künftig als private und nicht als öffentliche Angelegenheit zu behandeln. Die Reaktion der Kirche erfolgte prompt: Der Erzbischof forderte ein Referendum, und als Ministerpräsident Kostas Simitis diese verfassungswidrige Forderung ablehnte, startete er eine Unterschriftensammlung mit dem Ziel, ein Plebiszit zu erzwingen.
Dabei setzte die Kirche auf die Konservative Partei und auf die Unzufriedenheit mit der Pasok-Regierung. Aber ihre Rechnung ging nicht auf: Die Führungsriege der Nea Dimokratia setzte zwar ihre Unterschrift unter die Petition, aber offiziell wollte sie die dann doch nicht unterstützen. Auch die Regierungspartei ließ sich nicht spalten, aus ihrem Lager gab es nur vereinzelte Stimmen für die orthodoxe Initiative.
Am 28. August 2001 meldete der Erzbischof 3 008 901 gesammelte Unterschriften. Damit war die Stimmenzahl übertroffen, mit der Simitis und die Pasok 1996 die Wahl gewonnen hatten.1 Christodoulos fühlte sich legitimiert, zu Staatspräsident Kostis Stefanopoulis zu marschieren und zu verlangen, er solle ein Referendum anordnen oder seinen Hut nehmen. Damit hatte die Kirche überreizt: 52,1 Prozent der Griechen sprachen sich gegen das Referendum aus, nur 26 Prozent dafür.2 Der Staatspräsident teilte dem Erzbischof kurz und knapp mit, die Unterschriftenliste sei rechtlich wertlos und das geforderte Referendum widerspreche der Verfassung.
Ein Sieg des Staates über die Kirche? Wer das glaubt, begreift nichts von der Mentalität einer Gesellschaft, in der die Religion – jedenfalls äußerlich – allgegenwärtig ist. Auch die Nichtgläubigen nehmen in Griechenland am Ostergottesdienst teil, in den Schulen kann sich niemand dem allmorgendlichen Gemeinschaftsgebet entziehen, der Katechismus ist prüfungsfähiges Unterrichtsfach. Bei offiziellen Festakten residiert der Pope stets an der Seite des Bürgermeisters. Die Regierung legt ihren Eid auf die Bibel ab. Und der Erziehungsminister ist auch für religiöse Angelegenheiten zuständig.
Staat und Kirche sind im griechischen Alltag also kaum auseinander zu halten. Selbst die linke Pasok vermeidet es, von „Trennung“ zu sprechen. Sie beruft sich lieber auf die „von der Verfassung vorgesehenen unterschiedlichen Rollen“, von denen Kulturminister Evangelos Venizelos spricht: „Völlige Religionsfreiheit ist garantiert. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern gibt es in Griechenland keine ‚offizielle‘ Religion: Die orthodoxe Kirche genießt lediglich den Status einer vorherrschenden Kirche (epikratoússa eklisía), in dem Sinne, dass sie die Mehrheit der Gläubigen um sich schart. Bestehende Probleme werden von den Gerichten und durch schrittweise Gesetzesänderungen beigelegt.“
In seinem neuen Buch3 beschreibt der Verfassungsrechtler Antonis Manitakis die Genese des modernen griechischen Staates: 1821 aus der Revolution gegen das Osmanische Reich hervorgegangen, rief er bei seiner Gründung die griechisch-orthodoxe Staatskirche ins Leben, die 1850 sogar gegenüber der Kirche von Konstantinopel und dem Patriachen, der dort residierte, für autonom erklärt wurde. Damit war die Kirche dem Staat untergeordnet, die Gesetze des Staates regelten fortan die Angelegenheiten der Kirche.
Dieses Prinzip haben seitdem alle Verfassungen eingehalten, und auch die Kirche hat es akzeptiert. Doch dem Volk wurde der Eindruck vermittelt, die Kirche habe während der gesamten Türkenzeit die griechische Sprache und Kultur bewahrt und somit dem neuen Staat zu kultureller Einheit verholfen. Diese neue Kirche hielt sich von der Politik fern, womit der Staat ihrem Zugriff entzogen war. Der Staat hingegen konnte in die Belange der Kirche eingreifen, vor allem wenn es um die Ernennung von Priestern oder Erzbischöfen ging.
Die neue Verfassung von 1975 beschränkte diese Einflussmöglichkeiten und untersagte im Gegenzug der Kirche, sich in die Angelegenheiten des Staates einzumischen. So schreibt Manitakis: „Der Staat wollte eine nachgeordnete Kirche, die eine Vermittlerrolle zwischen Staatsmacht und Bürger einnimmt. Im Verlauf der griechischen Geschichte kam dann allerdings der Kirche die Aufgabe zu, die Entscheidungen des Staates zu legitimieren.“ Dies zeigt sich am privilegierten Status der Kirche bei offiziellen Festakten. Staat und Parteien benutzen die Kirche aber auch, um die Wählerschaft besser zu erreichen. Seit ihrem ersten Wahlsieg 1981 hat die Pasok sogar versucht, das fortschrittliche Lager und die Orthodoxie zu versöhnen, indem sie die – in Wahrheit nicht sehr rühmliche – Rolle der Kirche unter der Nazi-Okkupation würdigte. Damit sollte vor allem verhindert werden, dass die Rechten mit ihrer traditionell christlichen Wählerschaft die Wahl wieder gewinnen.
Die Bemühungen um neue Wählerschichten waren auch mit dem Versuch verbunden, einen neuen Nationalismus zu definieren. So meint Theoklitos, Metropolit von Ioannina, der sich gern als innerkirchlicher Dissident profiliert: „Alles steht oder fällt damit, ob wir über eine nationale Substanz verfügen. Für mich kommt die Nation an zweiter Stelle, gleich nach der Religion. Ich glaube, dass die Kirche den Griechen, ähnlich wie den Bulgaren oder den Russen, zu einem nationalen Bewusstsein verhelfen muss.“
Diese Vision hat durchaus eine innere Logik. Da die orthodoxe Kirche aus der Gründung des Staates hervorgegangen ist und sich dessen nationale Ziele zu Eigen gemacht hat, liegt es nahe, dass sie sich die nationale Idee aneignet. Und so wundert es nicht, dass sie sich dann durch einen Staat bedroht fühlt, der sich zunehmend weniger „nationalistisch“ gibt.
ALS Christodoulos 1998 zum Erzbischof gewählt wurde, spielte er sich mit seiner jovialen und medienwirksamen Art rasch in den Vordergrund. Wenn er sich „im Namen des Volkes“ oder „im Namen der Nation“ äußert, klingt es tatsächlich so, als spreche er für die Mehrheit der Griechen. So setzt er laut Manitakis „den Christen mit dem Bürger“ gleich und macht sich damit selbst zum politischen Anführer.
Der Einfluss der Kirche ist seit dem Fall der Junta 1974 stärker geworden. Gewiss hat „die systematische Inanspruchnahme der orthodoxen Ideologie durch die Militärmachthaber und die fast vollständige Unterordnung der Kirche unter die Junta einiges dazu beigetragen, dass nach Wiederherstellung der Demokratie weniger Gläubige regelmäßig zur Messe gegangen sind“.4 Aber das ist heute wieder anders. Bischöfe, Priester und kirchliche Sachwalter verstehen es, ihre durch die Öffnung der Gesellschaft bedrohten Besitzstände zu wahren. Und Erzbischof Christodoulos lindert das diffuse Unbehagen, das sich im Zusammenhang mit der Globalisierung oder den Migrantenströmen ausbreitet.
Erzbischof Christodoulos verhehlt nicht, dass er sich für seine Kirche einen wichtigeren Stellenwert wünscht, um direkt mit dem Staat über nationale Fragen verhandeln zu können. Er sieht sich als politischen Akteur, der zu allen Fragen Stellung bezieht, auf alles Einfluss hat. Überdies tut er alles, um die Kirche zu einer schlagkräftigen Lobby zu machen. Doch dieser Versuch ist, das hat die Sache mit den Personalausweisen gezeigt, zum Scheitern verurteilt.
Der Staat möchte seine Bande zur Kirche allerdings nicht kappen. Auch deshalb hat er bei der im September 2001 verabschiedeten Verfassungsreform lieber einen neuen Kompromiss hingenommen. Das Ganze war auch ein parlamentarischer Kompromiss zwischen der Pasok und der konservativen Nea Dimokratia (ND). Bereits ein Jahr zuvor, in der ersten Phase der Reform, waren beide Parteien5 übereingekommen, die Beziehungen zwischen Staat und Kirche aus der politischen Debatte herauszuhalten. So blieben bei dieser Reform denn auch zwei Artikel unangetastet: Artikel 3, der ausdrücklich festlegt, dass das orthodoxe Christentum in Griechenland die „vorherrschende“ Religion ist; und Artikel 13, der die Religionsfreiheit garantiert – aber im Absatz 2 auch den Proselytismus verbietet, das heißt die Missionierung orthodoxer Christen durch andere Konfessionen. Ebenso unberührt blieben der Bezug auf die (orthodoxe Fassung der) Dreifaltigkeit in der Präambel der Verfassung und die staatliche Garantie der Unantastbarkeit des Bibeltextes.
Gewisse konservative Kreise glauben, dass sich die Rolle der Kirche stabilisiert, wenn Ministerpräsident Kostas Simitis die nächsten Wahlen verliert und die oppositionelle ND an die Macht kommt. Das ist freilich Wunschdenken, denn die moderne griechische Gesellschaft wird einen Machtzuwachs der Kirche niemals hinnehmen. Ebenso wenig wird sich die Kirche – trotz aller Reden über Öffnung und Modernisierung – von ihrem konservativen Image befreien können, das sie stets zum Bundesgenossen der ND stempelt.
Der Popularitätseinbruch, den Erzbischof Christodoulos seit der Niederlage im Ausweiskonflikt erlitten hat, wurde auch als Zeichen dafür interpretiert, dass sich die Parteien – mit Ausnahme der Rechten – von ihm abgewendet haben.6 Für den Erzbischof ist dies deshalb so Besorgnis erregend, weil die Verhältnisse im Inneren der Kirche nicht zum Besten stehen. Christodoulos liegt im Dauerkonflikt mit dem weitaus liberaleren Patriarchen Bartholomäus und auch im Zwist mit etlichen Metropoliten, die im Obersten Konsortium vertreten sind.7
Für den Metropoliten Theoklitos von Ioannina ist es der größte Fehler der Kirche, sich aus Angst davor, dass in Griechenland der Glaube auf dem Rückzug ist, mit den Rechten zu identifizieren. „Auf lange Sicht“, meint er, „wird sich das für die Beziehungen zum Staat als desaströs erweisen. Wir müssen unsere Verantwortung wahrnehmen und das verheerende Feuer des Glaubens löschen, das wir selbst entfacht haben. Ich bin Optimist, aber ich fürchte, dass die Kirche am Ende nur noch materielle Lösungen für spirituelle Probleme anzubieten hat. Das hat mit Macht, in welcher Form auch immer, nichts zu tun. Wir dürfen nie vergessen, dass wir Christen aus freiem Willen sind – Bürger dagegen sind wir, ob wir wollen oder nicht.“
Obwohl inzwischen wieder mehr Menschen in den Schoß der Gemeinden zurückkehren,8 bleibt das Verhältnis der Gläubigen zur Kirche gespannt. Der orthodoxe Glaube hat auf das sittliche Leben der Griechen kaum mehr Einfluss. Und selbst praktizierende Gläubige, die mehrere Stunden Schlange stehen, um sich vor einer Wunder wirkenden Ikone auf den Boden zu werfen, verfolgen geradezu mit Inbrunst die Fernsehserien mit Sexszenen und vulgärer Gewalt.
Weshalb aber verspüren die Sozialisten angesichts solcher Zustände noch immer das Bedürfnis, die Krise herunterzuspielen, anstatt sie ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen? 1981 kündigte die erste Regierung von Andreas Papandreou eine völlige Trennung von Staat und Kirche an. Seither haben sowohl der Staat selbst als auch die nachfolgenden Pasok-Regierungen den Rückzug angetreten. Die standesamtliche Heirat ist noch immer nur eine Option und keineswegs obligatorisch, so dass gerade einmal 10 Prozent der Ehen amtlich geschlossen werden. Und auch die Verwaltung des riesigen kirchlichen Vermögens liegt nach wie vor in der Hand des Klerus. Die Zurückhaltung der Pasok erkläre sich aus einer „klientelistischen Politik“, meint Michel Stathopoulos. Der ehemalige Justizminister ist für die Verfechter einer engen Verbindung von Staat und Kirche ein rotes Tuch. Denn er hatte sich nicht nur für die Tilgung der Religionszugehörigkeit aus dem Personalausweis eingesetzt, sondern sich auch für die Einführung der weltlichen Eidesformel und der Möglichkeit eines nichtkirchlichen Begräbnisses ausgesprochen.9
Von allen Ministern der Simitis-Regierung hatte sich der Juraprofessor Stathopoulos am weitesten vorgewagt. Er war in fast allen Ausschüssen vertreten, die Vorschläge zu Ehe- und Verwaltungsreformen erarbeiten sollten. Schon in den 1980er-Jahren gehörte er einem Komitee an, in dem das Verhältnis von Staat und Kirche untersucht werden sollte. Doch meist prallten seine Bemühungen an dem Argument ab, die Pasok dürfe – um Gottes Willen – keine Stimmen verlieren.
Mit der letzten, höchst begrenzten Verfassungsänderung wurde eine Chance vertan. Die Sozialisten haben die von der Kirche ausgelöste Krise nicht genutzt. Als Antwort hätten sie die Trennung von Staat und Kirche vorantreiben können. Vor einem solchen Schritt scheinen die politischen Akteure immer noch Angst zu haben.
dt. Dirk Höfer
* Journalistin bei der Tageszeitung Eleftherotypia, Athen.