13.12.2002

Johannesburg und der Weltgipfel

zurück

Johannesburg und der Weltgipfel

DAS Leben, das unsere Vorfahren hier vor mehreren Millionen Jahren führten, sollte uns eine Lehre sein. Während sie in der Natur kaum Spuren hinterließen, sind die Spuren, die wir hinterlassen, gefährlich deutlich geworden. Der Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung muss der Menschheit einen anderen Weg weisen, einen Weg, der die Sicherheit und das Überleben des Planeten für die künftigen Generationen garantiert.“ Diese Sätze standen auf der Tafel, die UN-Generalsekretär Kofi Annan im Beisein des südafrikanischen Staatspräsidenten Thabo Mbeki am 1. September 2002 in einer der Höhlen von Sterkfontein anbrachte. Der prähistorische Fundort rund 95 Kilometer nördlich von Johannesburg gilt als die Wiege der Menschheit.

Dort wo unweit der Höhlen von Sterkfontein die postmodernen Wolkenkratzer des neuen Geschäftsviertels von Sandton aufragen, fand vom 26. August bis zum 4. September der Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung statt. Auf der Tagesordnung der 20 000 Delegierten stand die Frage, welchem Schicksal die Menschheit zutreibt und wie sich das Überleben auf unserer Erde auch in Zukunft sichern lässt.

Johannesburg steht stellvertretend für die Missstände dieser Welt, die Stadt ist wie ein offenes Buch der nicht nachhaltigen Entwicklung. Unweit der Squattersiedlungen und Townships mit ihren Wellblechhütten, die sich dicht an dicht auf den durch Buschbrände und Trockenheit verdorrten Hügeln drängen, liegen an Privatstraßen, versteckt hinter hohen Mauern, die Bungalows der Wohlhabenden umgeben von großzügig besprengtem Rasen und Schatten spendenden Bäumen. Niemand wundert sich hier über mit Rasierklingen verstärkten Elektro-Stacheldraht. Zahllose Schilder des Sicherheitsunternehmens ADT warnen vor „Armed Response“. Einbrecher sollen also wissen, dass sie mit einer „bewaffneten Reaktion“ zu rechnen haben.

Die Apartheid ist in der von Schnellverkehrsstraßen durchzogenen Stadtlandschaft immer noch sichtbar. Am Steuer der Autos sitzen Weiße, die wenigen schwarzen Fußgänger drücken sich an den Leitplanken entlang. Von den Abraumhalden der Goldminen, die sich in größeren Abständen zu künstlichen Hügeln aufwerfen, weht an windigen Tagen gelber Staub über die benachbarten Armenviertel. Hinter dem Flughafen ragen die acht Schornsteine des Kohlekraftwerks der nationalen Elektrizitätsgesellschaft Eskom auf und erinnern daran, dass Südafrika ähnlich viel Treibhausgas in die Atmosphäre entlässt wie die nördlichen Industrieländer.

Entlang der Schnellstraßen feiern Reklametafeln den Umweltgipfel: Bilder von hell erleuchteten Dörfern, in denen es Strom und fließend Wasser gibt, Nahaufnahmen von dankbar blickenden Männern und Frauen, darunter das Motto „Some, for all, forever“ (Etwas, für alle, für immer), in dem sich das Projekt sozial ausgewogener und nachhaltiger Entwicklung zusammenfasst. Auch Chrysler und BMW zeigen Umweltengagement. Auf zahllosen Reklametafeln werben sie in einer Stadt, die kaum öffentliche Verkehrsmittel hat, für „nachhaltige Mobilität“. Was damit gemeint ist, veranschaulicht der wasserstoffgetriebene BMW, der in der Nähe des Tagungszentrums ausgestellt ist. Auch der Diamantenproduzent De Beers, der seine Unternehmenszentrale nach dem Ende der Apartheid nach Großbritannien verlegte, verkündet großspurig: „Ecology is forever“.

In Johannesburg ging es darum, das herkömmliche Wachstum, das einen zu starken „ökologischen Fußabdruck“1 hinterlässt, durch nachhaltige Entwicklung abzulösen. Der Versuch könnte sich freilich als die Quadratur des Kreises erweisen. Einige Zahlen: Der „ökologische Fußabdruck“ eines Afrikaners oder Asiaten bedeckt im Durchschnitt nur 1,4 Hektar, während ein Westeuropäer 5 Hektar, ein Nordamerikaner 9,6 Hektar verbraucht. Das Schlusslicht der Liste bilden Mosambik, Burundi, Bangladesch und Sierra Leone mit weniger als 0,5 Hektar pro Einwohner. Vom Johannesburger Gipfel hätte man eigentlich Debatten darüber erwartet, wie die Kluft zwischen Arm und Reich durch gerechtere Ressourcenverteilung und eine qualitative Umgestaltung der Produktionsweise zu verringern ist.

Als die Tagung im Beisein der 163 transnationalen Unternehmen2 begann, die sich unter dem Banner der „Business Action for Sustainable Development“3 zusammengeschlossen haben, demonstrierten im waffenstarrenden Weißen-Stadtteil Sandton Zehntausende von landlosen Bauern und Armen aus dem benachbarten Township Alexandra. Auf einer Fläche von 500 Hektar leben dort dicht gedrängt 400 000 Menschen in elenden Behausungen. Voriges Jahr brach eine Cholera-Epidemie aus, die um ein Haar das Trink- und Schwimmbeckenwasser von Sandton verseucht hätte. Nun waren sie gekommen, die Männer und Frauen, die in ihrem eigenen Land wie Immigranten leben, und stellten, umgeben von Stacheldraht und gepanzerten Aufstandsbekämpfungsfahrzeugen aus der Zeit der Apartheid, ihre Forderungen: es müsse Schluss sein mit den Privatisierungen und den Unterbrechungen der Strom- und Wasserversorgung in den Elendsvierteln, und sie riefen Parolen gegen die „Neue Partnerschaft für Afrikas Entwicklung“ (Nepad).4

Die Nepad wurde auf dem G-8-Gipfel in Genua im Juni 2001 von den Staatspräsidenten Thabo Mbeki (Südafrika), Abdelaziz Bouteflika (Algerien) und Olusegun Obasanjo (Nigeria) ins Leben gerufen. Das Projekt genießt die Unterstützung von Weltbank-Chef James Wolfensohn, Großbritanniens Premier Tony Blair und Kanadas Ministerpräsident Jean Chrétien. Die afrikanische „Zivilgesellschaft“ lehnt es jedoch ab, weil sie an der Ausarbeitung nicht beteiligt war und weil sie in ihm eine bloße Fortschreibung der neoliberalen Wirtschaftspolitik sieht.

Als Maßnahme gegen das Kolonialerbe Unterentwicklung will das Entwicklungsprogramm ausländische Investitionen nach Afrika locken und damit ein jährliches Wirtschaftswachstum von 7 Prozent erreichen. Nepad stellt Afrika gegenüber potenziellen Investoren als ehrgeizigen Kontinent dar, der seine Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt ausbauen und ein günstigeres Investitionsklima, etwa durch die Bekämpfung der Korruption, schaffen will.5

Am 1. September hielt Reuel Khoza, Vizepräsident der „Business Action for Sustainable Development“, im Rahmen des „Business Day“ eine weithin beachtete Rede im Hilton-Hotel von Sandton. Der Chef des weltweit viertgrößten, südafrikanischen Stromversorgers Eskom war voll des Lobes für die Nepad, eröffnet sie seinem Unternehmen doch neue Märkte auf dem schwarzen Kontinent. Und doch birgt auch diese „neue Partnerschaft“ die Gefahr, dass Afrika am Rand der Welt und dem altbekannten Schema der Fehlentwicklung verhaftet bleibt.

Ungeachtet der erklärten Absichten, die Produktion zu diversifizieren, werden die Investitionen wohl auch im Rahmen der Nepad bevorzugt in den Rohstoffsektor fließen (Kohle, Gold, Diamanten, Erdöl). Der Wert der Rohstoffe hängt von den Weltmarktpreisen ab. Die schwarzen Arbeiter, die sie fördern, werden wie Knechte gehalten und von Privatmilizen kontrolliert. Gesundheitliche Schäden, die Umsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen, Umweltverschmutzung und Verlust an Biodiversität sind die Folge.

Südafrika ist in dieser Hinsicht eine Paradebeispiel. Mit dem Ende der Apartheid übernahm das Land die Erblast von Unternehmen wie dem britischen Chemiekonzern Cape, der in Südafrika von 1930 bis 1979 Asbest abbaute. Hunderte ehemaliger Cape-Beschäftigter sind seither an Asbestiosis gestorben, und 7 500 Bergleute klagen nun schon seit 1999 vor britischen Gerichten auf Schadenersatz. Gleichwohl sponserte das amerikanisch-britische Unternehmen den Johannesburger Gipfel und präsentierte sich auf seiner Webseite als Fürsprecher der nachhaltigen Entwicklung. Der Asbest-Skandal war indes nicht der einzige, mit dem das Unternehmen von sich reden machte. Als eine Reihe von Bergleuten an Aids erkrankten, weigerte sich das Unternehmen, antiretrovirale Medikamente auszugeben. Und in den Jahren 2000 und 2001 leistete der Konzern durch die Rückführung seiner Vermögensbestände nach Großbritannien einen nicht unerheblichen Beitrag zum Kursverfall des südafrikanischen Rand.

Eskom schloss mit den weißen Besitzern der Kohlegruben zur Zeit des Apartheid-Regimes Abnahmeverträge zu Vorzugskonditionen ab und belieferte die Goldminen mit Strom. In den Achtzigerjahren entwickelte sich das Schlüsselunternehmen des Regimes zu einem Staat im Staate. Es unterhielt eine eigene bewaffnete Miliz, die gegen Apartheidgegner mit blutiger Gewalt vorging und auch im Bürgerkrieg zu Beginn der Neunzigerjahre schlagkräftig mitmischte. Damals produzierte Eskom drei Viertel des südafrikanischen Stroms. Entsprechende Darlehen stellten trotz des internationalen Embargos gegen das Apartheid-Regime die Weltbank sowie Schweizer und internationale Banken zur Verfügung.

Während Eskom die Bergbaukonzerne zu Vorzugspreisen belieferte, stellte das Unternehmen in den Townships wiederholt den Strom ab. 1978 beauftragte Eskom den französischen Atomkonzern Framatome mit dem Bau des Atomkraftwerks Koeberg. Den Zuschlag für die Stromverteileranlage erhielt die schwedisch-schweizerische Firma ABB, die sich heute ebenfalls für die nachhaltige Entwicklung stark macht.

Seit dem Ende der Apartheid hat Eskom über 4 Millionen Haushalte ans Stromnetz angeschlossen. Im selben Zeitraum stellte das Unternehmen 10 Millionen Südafrikanern zeitweilig den Strom ab, weil sie die unangemessen hohen Tarife nicht bezahlen konnten. Die Großabnehmerpreise hingegen, die Eskom dem Bergbau und der Stahlindustrie einräumt, sind die niedrigsten der Welt – zusätzlicher Anreiz zum Bau von Heizkraftwerken mit ihrem hohen Kohlendioxidausstoß. Eskom ist also weit entfernt von einer glaubwürdigen Praxis der nachhaltigen Entwicklung. Das Unternehmen investiert 25 Mal so viel Geld in die Atomenergie wie in erneuerbare Energien und engagiert sich mit dem Segen von Weltbank und Nepad in ganz Afrika in Megaprojekten wie dem Bau gigantischer Wasserkraftwerke, namentlich in Angola, Botswana, Kamerun, Demokratische Republik Kongo, Ghana, Mali, Mosambik, Swasiland, Tansania und Sambia.6

Im Rahmen der Nepad und der von den Vereinten Nationen befürworteten „Public-Private Partnerships“ werden die öffentlichen Subventionen und die internationale Entwicklungshilfe in „nachhaltige“ und „sozial verantwortungsbewusste“ Investitionsprojekte wie den Staudamm von Lesotho in Südafrika fließen. Denn in puncto erneuerbare Energieträger enthält der auf dem Johannesburger Gipfel beschlossene „Aktionsplan“ nur sehr vage Bestimmungen, die weder die Atomenergie noch den Bau von Großstaudämmen mit Wasserkraftwerken ausschließen. Und was die EU-Initiative „Wasser für Leben“ angeht, die EU-Kommissionspräsident Romano Prodi angekündigt hat, so wird sie bestenfalls bedeuten, dass Investoren vom Schlage Suez, Thames und Vivendi zum Zuge kommen.

Johannesburg wird nicht nur als ein Umweltgipfel des kleinsten gemeinsamen Nenners in Erinnerung bleiben. Der „Aktionsplan von Johannesburg zur nachhaltigen Entwicklung“, der am 4. September nach fast zweiwöchigen Verhandlungen vorgestellt wurde, deutet den Nachhaltigkeitsbegriffs in einer Weise um, dass von seinem ursprünglich intendierten Sinn nicht viel übrig geblieben ist und er sich stattdessen als bloßes Anhängsel der neoliberalen Globalisierung zu erkennen gibt.

Als Ergebnis des Umweltgipfels wurde in der Öffentlichkeit vor allem bekannt, dass die Zahl der Menschen, die keinen Zugang zu Trinkwasser haben, bis 2015 halbiert werden soll. Für Unternehmen wie Suez oder Vivendi hat dies den Vorteil, dass damit keine Umgestaltung der Produktionsweise verbunden ist, denn Wasser ist zwar ein Rohstoff, als solcher aber auch privatisierbar. Keine Verpflichtung ging Johannesburg mit Blick auf die erneuerbaren Energien ein, obwohl doch gerade durch sie die Bevölkerung der armen Länder mit Energie versorgt werden könnte, ohne den Treibhauseffekt zu verstärken und die Gefahr eines Klimawandels zu erhöhen. Angenommen es würde eine Weltsteuer für nachhaltige Entwicklung erhoben, dann könnten kleine Wasserkraftwerke oder -solaranlagen durch Kleinstkredite finanziert und die Township-Bevölkerung von Soweto und Alexandra fast kostenlos und nachhaltig mit Strom versorgt werden. Vorerst hat Eskom von dieser Seite wohl keine Konkurrenz zu befürchten.

dt. Bodo Schulze

* Mitglied der „Französischen Kommission für nachhaltige Entwicklung“. Agnès Sinai drehte den Dokumentarfilm „Planète en otage“, der ab Anfang 2003 über den Verleih „Films du Village“ zu beziehen ist.

Fußnoten: 1 Das „Ecological-Footprint“-Konzept bietet eine neue Methode zur Messung der Folgen nicht nachhaltiger Entwicklung. Die Maßeinheit des „ökologischen Fußabdrucks“ besteht in der Landfläche, die für die Produktion von Verbrauchsgütern – Nahrungsmittel, Wohnraum, Verkehr, dauerhafte Konsumgüter, Dienstleistungen – und die Beseitigung des entstehenden Abfalls erforderlich ist. Anhand einer Bestandsaufnahme der verfügbaren Ressourcen lässt sich der maximal vertretbare „ökologische Fußabdruck“ berechnen. Er liegt bei 1,9 Hektar pro Erdbewohner. Der derzeitige Durchschnittsverbrauch beläuft sich auf 2,3 Hektar. 2 Darunter Areva, Michelin, Suez, Texaco, DuPont, AOL Time Warner und Rio Tinto. 3 Die „Business Action for Sustainable Development“ ging aus dem Zusammenschluss des Verbands „World Business for Sustainable Development“ mit der Welthandelskammer hervor. 4 Dazu Sanou Mbayé, „Aktionsplan für Schwarzafrika“, Le Monde diplomatique, Juli 2002. 5 Dabei ist bekannt, dass die Korruption auch und gerade von ausländischen Investoren gefördert wird. Nach neueren Informationen ist die Weltbank in Schmiergeldzahlungen an die Provinzregierung von Lesotho verwickelt, wo ein gigantisches Wasserkraftwerk entstehen soll. 6 Dazu Patrick Bond, „Unsustainable South Africa“, London (The Merlin Press) 2002, S. 378ff.

Le Monde diplomatique vom 13.12.2002, von AGNÈS SINAI