Wer im Treibhaus sitzt
ALS Anfang September der UN-Nachhaltigkeitsgipfel in Johannesburg zu Ende ging, war die Enttäuschung bei Umweltaktivisten groß: Es gab keine verbindlichen Abmachungen über die Förderung regenerativer Energien, die Kohlendioxidemissionen werden nicht zurückgehen, sondern insgesamt weiter steigen. Dabei birgt schon der gern gebrauchte Begriff der „nachhaltigen Entwicklung“ einen unlösbaren Widerspruch in sich (Jean-Marie Harrybey). Und in der Stadt Johannesburg kann man lernen, dass Energiepolitik keine sozial neutrale Sache ist: Bis heute bezahlen die Menschen in den Townships für elektrischen Strom höhere Preise als die im Besitz von Weißen befindlichen Großunternehmen (Agnès Sinai). Von FRÉDÉRIC DURAND *
Die ersten Eiskernbohrungen in der Antarktis haben Ende der Achtzigerjahre bestätigt, was bis dahin nur Vermutung war: Die Welt wird wärmer. Wichtigste Ursache ist der steigende Ausstoß von Kohlendioxid durch Industrie und Privathaushalte in den reichen sowie die Rodung weiter Waldgebiete in den ärmsten Ländern. Sollten sich die Vorhersagen bestätigen, werden wir im kommenden Jahrhundert regional stark differenzierte Klimaveränderungen erleben. Dadurch könnte zum Beispiel der Golfstrom versiegen, oder es könnten vermehrt Wirbelstürme und klimatische „Anomalien“ vom Typ El Niño auftreten. Da ist zudem das „Risiko“, dass der Meeresspiegel infolge der Polkappenschmelze bis zu einem Meter ansteigen könnte, was in fruchtbaren und dicht besiedelten Küstengebieten zu starken Überschwemmungen führen würde. Und in der Folge zu „Risiken“ wie unkontrollierbaren Migrationsbewegungen und der Ausbreitung tropischer Krankheiten auch auf der Nordhalbkugel.
Die Schwachstelle dieser Argumentationskette war natürlich das Wort „Risiko“. Mangels gesicherter Erkenntnisse beauftragten die größeren Staaten das eigens eingerichtete „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (IPCC) mit weiteren Untersuchungen. Der erste IPCC-Sachstandsbericht von 1990 sorgte, ohne über das Ausmaß der Erwärmung genaue Angaben zu machen, immerhin für so viel Unruhe, dass im Mai 1992 in New York die UN-Klimarahmenkonvention verabschiedet und kurz danach auf dem Umweltgipfel von Rio von 154 Staaten unterzeichnet wurde.
In Rio verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten, „die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre auf einem Niveau zu stabilisieren, das jede gefährliche anthropogene Störung des Klimahaushalts vermeidet“. Das ehrgeizige Vorhaben hatte nur einen Schönheitsfehler: das Emissionsniveau wurde nicht quantifiziert. Immerhin hieß es in Artikel 3: „Wenn ein Risiko gravierender oder irreversibler Störungen besteht, darf das Fehlen absoluter wissenschaftlicher Gewissheit nicht als Vorwand dienen, den Beschluss von Vorsorgemaßnahmen […] zu vertagen.“
Im April 1996 erschien der zweite IPCC-Bericht, an dem 2 000 Experten mitgewirkt hatten, die aber ihre Besorgnisse relativ vorsichtig ausdrückten: „Eine Reihe von Phänomenen weist darauf hin, dass der Mensch das Klima beeinflusst.“ Entscheidend wurde erst die Verhandlungsrunde vom Dezember 1997 in Kioto. Die Vereinigten Staaten, die mit 4 Prozent der Weltbevölkerung 22 Prozent der CO2-Emissionen verursachen, wollten ihren Ausstoß bis zum Jahr 2012 allenfalls auf dem Niveau von 1990 stabilisieren und zudem einen Markt für „Verschmutzungsrechte“ einführen. Reiche Länder, die ihre Emissionsgrenzen überschreiten, sollen zusätzliche Emissionsrechte von ärmeren oder ökologisch leistungsfähigeren Ländern erwerben können. Ehrgeiziger zeigten sich die Europäer: Sie wollten eine globale Reduzierung der Treibhausgase um 15 Prozent (gegenüber 1990), die „Entwicklungsländer“ sollten von dieser Vorgabe ausgenommen sein.
Das Ergebnis fiel nicht berauschend aus: Die Industrieländer sollten ihre Emissionen bis 2012 um durchschnittlich 5,2 Prozent gegenüber dem Basisjahr 1990 verringern. Für die USA und Japan bedeutete dies eine Reduktion von 18 bzw. 16 Prozent; für die Länder der EU war das Ziel wegen des stagnierenden Wirtschaftswachstums leichter zu erreichen: 5 Prozent weniger europaweit, Frankreich (wegen des hohen Atomstromanteils) sogar nur 1 Prozent. Die Frage der Entwicklungsländer wurde nicht geregelt. Angesichts der Maxime „Entwicklung für alle“ konnte man ihnen kaum Beschränkungen auferlegen. Dabei steigen die Emissionen gerade in Ländern wie Nordkorea, China und Indien gegenwärtig stark an.
Insgesamt sind die Zielvorgaben des Kioto-Protokolls geradezu lächerlich. Nach Auffassung mancher Experten entsprechen sie einer Temperatursenkung von 0,06 Grad Celsius – bei einem bis 2050 erwarteten Anstieg von 2 Grad Celsius.1 Dennoch klammern sich die Umweltschutzorganisationen an diesen Text, den sie zunächst kritisiert hatten, wie an einen Strohhalm. Das Kioto-Protokoll mag „ein erster Schritt in die richtige Richtung“ sein – aber es ist wahrlich nur ein winzig kleiner Schritt.
Im November 2000 wollten sich die „fortschrittlichen“ Länder in Den Haag unter Leitung des Umweltbeauftragten des UN-Generalsekretärs, des niederländischen Umweltministers Jan Pronk, gegen die Einführung von Verschmutzungsrechten und gegen Emissionsrabatte – als Ausgleich für Kohlenstoffsenken2 und -lagerstätten – stark machen. Die Konferenz scheiterte schmählich, weil die so genannten Umbrella-Staaten, zu denen unter anderen die USA, Australien, Kanada und Japan gehören, den Verhandlungstisch verließen.
In ihrem dritten Bericht von 2001 unterstrichen die IPCC-Klimaexperten, dass „mit großer Wahrscheinlichkeit“ die höchste CO2-Konzentration seit zwanzig Millionen Jahren erreicht sei, dasselbe gelte für andere Treibhausgase wie Methan, Schwefeldioxid und Stickstoffoxide.3 Infolgedessen sei die durchschnittliche Welttemperatur im 20. Jahrhundert um 0,6 Grad Celsius angestiegen, und zwar beschleunigt seit Ende der Sechzigerjahre und besonders stark seit etwa 1990.
Der Bericht endete mit der Bemerkung, die schlimmsten Auswirkungen seien „sicherlich“ in den tropischen Ländern zu erwarten. Diese Vorhersage bestärkte die Industrieländer, allen voran die USA, in ihrer Laisser-faire-Attitüde. Als in den Neunzigerjahren ein Loch in der Ozonschicht entdeckt worden war, das vornehmlich die Menschen in der nördlichen Hemisphäre bedroht, hatte man noch prompt mit der Unterzeichnung des Protokolls von Montreal reagiert.
BEI der Bonner Klimakonferenz im Juli 2001 sahen sich die Gastgeber genötigt, vor allem Japan, Kanada und Russland weitere Zugeständnisse in puncto Verschmutzungsrechte und Kohlenstoffsenken zu machen, um das Protokoll von Kioto zu „retten“. Während 1997 noch eine Senkung der Emissionen um 5,2 Prozent gegenüber 1990 angestrebt wurde, war jetzt nur noch von Stabilisierung die Rede. Ebenfalls im Juli 2001 befanden Forscher des Massachusetts Institute of Technology (MIT) anhand eines Simulationsmodells, die Wahrscheinlichkeit einer globalen Klimaerwärmung liege bei 90 Prozent.4 Am 10. November 2001 konnten die Europäer nach beispiellosem Tauziehen 167 Länder zur Unterzeichnung des Marrakesch-Abkommens bewegen, das die Umsetzungsbestimmungen des Protokolls von Kioto festschreibt.
Im April 2002 wurden zwei weitere UN-Studien veröffentlicht, die eine noch stärkere Klimaveränderung voraussagen, nämlich bis 2100 einen Temperaturanstieg von 5,8 bis 6,9 Grad Celsius.5 Da aber die US-Regierung ihrer Bevölkerung keine Änderung ihrer Lebensweise zumuten will, beschränkt sie sich auf Selbstregulierungsappelle an die Industrie und auf die verräterische Aussage, man werde alles tun, um den USA und dem Rest der Welt zu helfen, „ihre Verwundbarkeit zu reduzieren und sich an den Klimawandel anzupassen“6 . Im Übrigen wittert auch die Atomlobby wieder Morgenluft und nimmt das Kioto-Protokoll zum Anlass, die Kernkraft als Inbegriff der „sauberen“ Energiegewinnung zu preisen, weil sie kein CO2 freisetze.
Auch die Lobby der Forstwirtschaft präsentiert schlagende Argumente. Seit den 1970er-Jahren wurde das Abholzen tropischer Regenwälder von der Presse und den Umweltschutzorganisationen scharf kritisiert. Doch das Kioto-Protokoll und die Zusatztexte von Bonn und Marrakesch boten die Chance, den Industrieländern als Alternative zur Reduzierung ihrer Emissionen die Anlage so genannter Kohlenstoffsenken zu offerieren. Das heißt, Wiederaufforstungsprojekte in tropischen Breitengraden werden als Maßnahme gegen den Treibhauseffekt verkauft. Nun befinden sich dichte Wälder jedoch meist im Kohlendioxidgleichgewicht und geben eher sogar mehr Kohlendioxid ab, als sie absorbieren.
Die industriellen Holzverwerter tun also nichts anderes, als die noch verbliebenen Wälder abzuholzen und – mit Umweltprämien finanziert – durch schnell wachsende, viel CO2 verbrauchende Arten wie Akazien und Eukalyptus zu ersetzen. Gegen die Klimaerwärmung wird das Kioto-Protokoll nichts ausrichten, doch als Vorwand zum Ausbau der Atomindustrie und zur Abholzung tropischer Regenwälder taugt es vorzüglich.
Unterdessen arbeiten die Technokraten an immer neuen Möglichkeiten, das überschüssige Kohlendioxid zu binden. Die Politiker wollen Ersatzlösungen sehen, etwa die Aufforstung des hohen Nordens in Kanada und Europa. Aber die Bilanz wäre sogar negativ, denn dort würde die zusätzliche Vegetation mehr Sonnenstrahlen absorbieren, als von den heutigen Schneeflächen reflektiert werden. Man könnte das Kohlendioxid auch in den Tiefen des Ozeans einlagern, doch das würde den Meereshaushalt belasten, der schon jetzt einen Teil des anthropogenen Kohlendioxids aufnimmt. Man könnte das Plankton in den arktischen Gewässern mit hohen CO2-Dosen anreichern, doch wer weiß, ob die Meeresumwelt diese Behandlung überleben würde. Man könnte bestimmte Pflanzen genetisch so manipulieren, dass sie mehr Kohlendioxid absorbieren – eine schöne Vorlage für die Gentech-Lobby.
Einige Forscher arbeiten sogar an Antiblähmitteln für Rinder, die mit ihren Darmwinden Methan freisetzen. Einige wollen spezielle Aeorosole in die Atmosphäre sprühen, andere Schutzschilde oder gigantische Spiegel in den Weltraum schießen, um die Sonneneinstrahlung zu reduzieren.
Unterdessen mehren sich die Anzeichen, dass der Klimawandel längst begonnen hat. Voriges Jahr veröffentlichte Nature eine Studie, die besagt, dass der Golfstrom seit 1950 um 20 Prozent weniger Wassermassen heranschafft.7 Im März dieses Jahres zerbrach in der Antarktis ein 12 000 Jahre altes Stück Packeis von 3 250 Quadratkilometern in tausende von Eisbergen.
Doch all diese Anzeichen zählen nichts. Im Namen „strenger“ Wissenschaftlichkeit warten Forscher und Politiker auf hypothetische „Gewissheiten“, statt dem Vorsorgeprinzip zu folgen. Doch so unerlässlich weitere Untersuchungen sein mögen: Welche Klimastudie wird je den „unwiderlegbaren Beweis“ erbringen können, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern? Letztlich sollen diese Studien vor allem zeigen, dass überhaupt etwas geschieht. Und gegenüber konkreten, notwendigerweise radikalen Maßnahmen haben sie den unschätzbaren Vorteil, wenig zu kosten.
Um einen Vergleich zu wagen: Die Experten, die „Kioto“ aus der Taufe gehoben haben, räumen ein, dass die Menschheit möglicherweise verrückt geworden ist. Sie nehmen zur Kenntnis, dass wir mit 100 Stundenkilometern auf eine Mauer zurasen und empfehlen uns, die Geschwindigkeit auf 97 zu reduzieren! Aber kein Politiker, keine Regierung eines Industrielandes würde zugeben, dass es unsere Lebens- und Konsumweise ist, die den Fortbestand eines großen Teils der menschlichen Gattung und vielleicht auch unserer Zivilisation bedroht.
dt. Bodo Schulze
* Geografiedozent an der Universität Toulouse II – Le Mirail, Autor von „La jungle, la nation et le marché. Chronique indonésienne“, Nantes (L’Atalante) 2001, „Timor Lorosa’e, pays au carrefour de l’Asie et du Pacifique. Un atlas géohistorique“ (Presse universitaires de Marne-la-Vallée/Irasec) 2002.