Der Ordre public und die Marktgesetze
DIE Weltgesellschaft ist in eine Phase des Imperialismus eingetreten, dessen Motor nicht eine Regierung ist, sondern das System eines multinationalen und staatenübergreifenden Kapitalismus. Widerstand gegen die so geschaffene Ordnung wird nicht geduldet. Nach dem 11. September setzte sich niemand gegen den Krieg in Afghanistan zur Wehr, in Sachen Tschetschenien herrscht Grabesstille, niemand erhebt mehr das Wort für Palästina, gegen einen Irakkrieg gibt es kaum Opposition, denn man will ja nicht als Sympathisant des Regimes in Bagdad erscheinen. So sehen die jüngsten Siege der imperialen Ordnung aus, welche die ganze Menschheit als Geisel nimmt und gestörte Individuen in die düstere Sackgasse des Terrorismus stößt.
Müssen wir die Dinge laufen lassen? Müssten wir uns nicht darum bemühen, dass Europa als einzige politische Gemeinschaft, die noch ihre Stimme erheben kann, den militärischen Wettbewerb annimmt, um eine neue bipolare Konstellation herbeizuführen? Nein, denn wir haben eine weitere, viel zu selten genutzte Waffe: die Ideen und die Werte, die sie ausdrücken. Das vietnamesische Volk, das algerische Volk und die von Portugal kolonisierten Völker Afrikas haben ihre Befreiungskriege gegen den Westen nicht gewonnen, weil das Kräfteverhältnis für sie günstig gewesen wäre – im Gegenteil. Sie haben sie gewonnen mit der Idee der Emanzipation, der Berufung auf eine neue juristische Norm: das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das dem kolonialistischen Menschenbild den Garaus machte.
Diese Mittel müssen, in anderer Form, auch für den Widerstand gegen die globale Herrschaft tauglich sein. Leider ist das Völkerrecht durch den UN-Sicherheitsrat und sein Völkerrechtsverständnis in Misskredit geraten. Die beachtlichen Fortschritte, die bei der Formulierung von Rechten im internationalen Rahmen erzielt worden sind, bleiben folgenlos, weil die Instrumente fehlen, ihnen Geltung zu verschaffen. Dabei könnte sich die Zivilgesellschaft mit Hilfe des Rechts und der ihm zugrunde liegenden Werte wirksam für das Völkerrecht engagieren und seine Umsetzung kontrollieren mit dem Ziel, die Prinzipien einer demokratischen Weltgemeinschaft umzusetzen.
Nachdem der Kapitalismus die Voraussetzungen für seine grenzenlose Ausbreitung erzeugt hat, duldet er nicht mehr, dass irgendeine Ecke der Welt dem Gesetz des Marktes entzogen ist. Wo die Ausbeuter sich wichtige Bodenschätze erschließen wollen wie im Nahen Osten oder dem Kaukasus, nehmen sie das Leiden der Bevölkerung billigend in Kauf. Alles wird zur Ware, selbst das Denken, die Kreativität, die Umwelt, die Gesundheit, das Bildungswesen, der Mensch und sein Körper. Alles muss vermarktet werden.
Wenn es stimmt, dass ein Vertrag als Instrument der Freiheit unter Rechtssubjekten anzusehen ist, existiert dieser Vorzug jedoch nur für Partner, die sich auf gleicher Augenhöhe begegnen. Wird er zwischen ungleichen Parteien ausgehandelt, begünstigt er die Ausbeutung nur noch mehr. Dem kann man nur mittels der unantastbaren Prinzipien entgegenwirken, die das Wertsystem einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft verkörpern. Insofern gilt es deutlich zu machen, dass es materiell rechtliche Werte gibt, die gegenüber anderen, insbesondere vertraglichen Regelungen Vorrang haben. Nur auf solcher Basis vermag sich ein Gemeinwesen einen „ordre public“ zu geben – eine vereinbarte Ordnung der eigenen Gesellschaft.
Ordre public ist ein auf staatsrechtlicher Ebene eingeführter Begriff. Er ist in Europa vor allem bei transnationalen Verträgen relevant, weil vertragliche Regelungen nicht gegen den Ordre public der einzelnen Länder verstoßen dürfen. Im Allgemeinen unterscheidet man zwischen dem „ordre public de direction“ und dem „ordre public de protection“. Ersterer will eine bestimmte Vorstellung von öffentlichem Interesse und Allgemeinwohl durchsetzen, Letzterer soll Vertragspartner schützen, die zu schwach sind, ihre Interessen selbst zu vertreten.1 Um aber einen Ordre public begründen zu können, muss der Gruppe erstens bewusst sein, dass sie einer sich konstituierenden politischen Gemeinschaft angehört. Zweitens geht es darum, mit welchen Mitteln das geschieht. Diese können in den für den Ordre public maßgeblichen Gesetzen niedergelegt sein. Es kann sich jedoch auch um Grundsätze handeln, die nicht unbedingt schriftlich fixiert sein müssen, sondern im kollektiven Bewusstsein verankert sind. Daraus ergibt sich ein schwieriges Problem im Hinblick auf das Prinzip der Demokratie.
Zum Beispiel kann das Konzept des Ordre public von repressiven Kräften vereinnahmt werden, die es auf die öffentliche Sicherheit oder auf bestimmte Moralvorstellungen reduzieren (wie es in manchen europäischen Demokratien derzeit verstärkt geschieht). Insofern müssen wir sehr genau auf den Inhalt des Ordre public achten, damit er nicht etwa regressive Wertvorstellungen befördert. Dabei ist die Qualität eines Rechtssystems ebenso entscheidend wie die tatsächliche Informationsfreiheit, also die Möglichkeit aller, an der Debatte über die unverrückbaren Prinzipien teilzuhaben.
In dieser Hinsicht erleben wir gegenwärtig eine fatale Fehlentwicklung. Die unverzichtbare soziale Strukturierung auf der Ebene der nationalen Gesellschaften ist in Auflösung begriffen oder außer Kraft gesetzt. Und die zaghaften Ansätze, die es dazu nach 1945 weltweit gegeben hat, sind erstorben.
Die nationalen Gesellschaften stehen unter dem ideologischen Druck der Deregulierung. Für den Markt oder die Vertragsfreiheit als dessen Hebel darf es keine prinzipielle Einschränkung geben. Die europäischen Linken haben immer mehr an Boden verloren, weil sie es nicht vermochten, dieser Entwicklung überzeugend entgegenzuwirken. Die Länder der Dritten Welt schaffen es nicht mehr, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu bewahren. Obwohl sie wegen ihrer schwachen Ausgangsposition zum Untergang auf Raten verurteilt sind, haben sie die Öffnung ihrer Märkte gestattet. Was vom öffentlichen Dienst noch übrig ist, wird überall weiter abgebaut. Der Begriff des öffentlichen Interesses, der eine lebendige, tätige Demokratie voraussetzt, wird im Namen fragwürdiger Transaktionen ad acta gelegt.
Ein Beispiel: Die unersättlichen französischen Banken verlangen im Kleingedruckten eine Extrazahlung dafür, dass sie die Echtheit der von ihren Kunden ausgestellten Schecks überprüfen. Dazu aber sind sie gesetzlich ohnehin verpflichtet.2 Sich dafür bezahlen zu lassen, dass man die gesetzlichen Bestimmungen auch erfüllt, bedeutet eine Aushöhlung des Begriffs des Ordre public. Nach diesem Motto könnten Dozenten ihren Studenten Geld dafür abknöpfen, dass sie ihnen garantieren, bei den Prüfungen die Regeln einzuhalten. Und jeder könnte seinen Nachbarn für das Versprechen, ihm keine Gewalt anzutun, zur Kasse bitten.
Während der Ordre public sich in den nationalen Gesellschaften zunehmend auflöst, etabliert er sich deswegen keineswegs in der globalisierten Gesellschaft. Hier herrscht das Prinzip „Vertrag ist Vertrag“, das für zwischenstaatliche Abkommen, bei denen die schwächeren Länder keinerlei Verhandlungsspielraum haben, ebenso gilt wie für Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen Unternehmen und Staaten. Dabei ist der Begriff eines dem Vertrag übergeordneten Rechts nicht unbekannt. Es ist kodifiziert im allgemeinen zwingenden Recht.3 Da dieses über allen anderen rechtlichen Regeln steht, müssten eigentlich alle Verträge, die ihm widersprechen, unwirksam werden. Die Praxis sieht anders aus. Kein Vertrag, der den Großmächten finanzielle, territoriale, militärische oder polizeiliche Vorteile auf dem Gebiet kleiner Staaten einräumt, drohte jemals annulliert zu werden, egal welche Folgen er für die Menschen hatte. Das bedeutet, dass der Widerspruch zwischen den Verträgen und den ehernen Gesetzen zum Schutz der Grundrechte nicht anerkannt wird. So bleibt das Recht im Kern intersubjektiv, Ergebnis von Beziehungen zwischen Staaten, in denen die Schwächsten schutzlos sind, weil die objektiven, universal gültigen Bestimmungen, die der globalen Gesellschaft einen Sinn verleihen könnten, ohnmächtig sind.
Die Charta der Vereinten Nationen wurde 1945 als Blaupause für ein globales Rechtssystem entworfen. Trotz ihres Vertragscharakters hatte sie einen universalen Geltungsanspruch, der durch die breite Anerkennung der Staaten bekräftigt wurde. Die Charta selbst betont ihren grundlegenden Charakter, insofern die sich aus ihr ergebenden Verpflichtungen Vorrang vor jeder anderen internationalen Vereinbarung haben (Artikel 103). Leider hat der Sicherheitsrat sich von der Respektierung der Charta supendiert und die Herausbildung einer UN-legitimierten „ordre public mondial“ gestoppt. Das Tauziehen um die Irak-Resolution 1441 vom 8. November hat das deutlich gezeigt. Denn keine Interpretation dieser Resolution kann aus dem angekündigten Krieg eine rechtlich zulässige Mission kollektiver Sicherheitspolitik machen. Das Recht auf Kriegsführung steht Einzelstaaten unter keinen Umständen zu. Bei einer autorisierten Militäroperation ist für die kollektive Sicherheit von Anfang bis Ende allein der Sicherheitsrat verantwortlich (Art. 46 UN-Charta). Wenn sich ein Staat die Durchführung militärischer Operationen mit Hinweis auf seine eigene und die Sicherheit seiner Alliierten anmaßt, äußert sich darin erneut die imperial verfasste Ordnung.
Die Idee eines weltweit gültigen Ordre public ist auch mit der Vorstellung von Straffreiheit nicht vereinbar. In den Verhandlungen über das Gründungsdokument einer Internationalen Strafgerichtsbarkeit wurde das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (ISGH) abgeschwächt. Und ausgerechnet Staaten, die dem ISGH nicht beigetreten sind, versuchen nun, dessen Spielräume weiter einzuschränken. So wollen die USA von möglichst vielen Ländern die Zusage bekommen, dass ihre Staatsangehörigen unter allen Umständen Straffreiheit genießen. Dadurch wird das Strafrecht als Bestandteil des Ordre public denaturiert, seine Anwendung behindert.
Schließlich macht sich das Fehlen eines Ordre public, der die für transnationale Beziehungen geltenden Regeln hierarchisieren würde, überall dort nachteilig bemerkbar, wo es um Menschenrechte geht. Obwohl diesen Rechten allenthalben eine übergeordnete Geltung beigemessen wird, reichen die juristischen Mechanismen nicht aus, um Entscheidungen zu annullieren, die direkt oder indirekt Menschenrechte verletzen. Der von der WTO gepflegte Neoliberalismus weitet seinen Einfluss in rasantem Tempo aus. Und es gibt keine Möglichkeit, die Widersprüche zwischen wirtschaftlichen Erfordernissen und Menschenrechten einvernehmlich auszugleichen. Hier helfen weder allgemeine Sonntagsreden noch empörtes Geschrei.
Wir müssen der Grundregel des universalen öffentlichen Interesses zum Durchbruch verhelfen. Und wir müssen dafür sorgen, dass sie zum obersten Maßstab für den Einsatz von Gewalt wie für die Grenzen des Marktes wird. Dafür braucht es zwei Voraussetzungen: Wir brauchen erstens eine theoretische Studie über den Begriff des universalen öffentlichen Interesses, der im Zentrum des Projekts globaler Demokratie stehen muss und von einem demokratisch nicht legitimierten Organ wie dem UN-Sicherheitsrat nicht vereinnahmt werden darf. Die zweite betrifft die Stärkung der internationalen Gerichtsbarkeit. Ihr wären alle Fälle zu unterbreiten, in denen der Verdacht besteht, dass die hochgerüsteten Nationen ihre Machtposition ohne Rücksicht auf den Schutz der betroffenen Bevölkerung ausnutzen. Und solche Fälle, in denen die Mechanismen des Marktes in Verdacht stehen, gravierende Menschenrechtsverletzungen zu verursachen. Das heißt, wir müssen den Sicherheitsrat bis zu seiner unabdingbaren Reformierung unter demokratische Kuratel stellen. Und wir müssen verlangen, dass die Befugnis der internationalen Zivilgerichte oder Strafgerichtshöfe allgemein anerkannt wird. Das wären erste Schritte auf dem Weg zu einem internationalen Ordre public, hin zu einer öffentlichen Ordnung, die in der Lage wäre, der imperialen Ordnung Einhalt zu gebieten.
dt. Christian Hansen
* Professorin an der Universität Paris-VII, Denis-Diderot.