13.12.2002

Nein zur Assimilation

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Nein zur Assimilation

KAMERUN, traditionell zum frankophonen Afrika gehörend, ist reich an Bodenschätzen und galt bis vor einigen Jahren noch als potenzielles Schwellenland. Heute steckt das Land in einer wirtschaftlichen Dauerkrise, die Eliten sind korrupt oder völlig ohne Einfluss. Präsident Paul Biya hat zwar erst vor kurzem sein zwanzigjähriges Jubiläum als Staatsoberhaupt gefeiert, aber seine Autorität schwindet. Für Unruhe im erstarrten politischen System des Landes, in dem sich – neben einer chancenlosen Opposition – zunehmend auch Umweltschützer zu Wort melden, sorgt immer wieder die „anglophone Frage“. Sie rührt daher, dass die englischsprachige Bevölkerung im Westen des Landes seit der Unabhängigkeit von der Macht ausgeschlossen ist. Von ABOYA ENDONG MANASSE *

Am 1. Oktober 2000, dem Jahrestag der Wiedervereinigung Kameruns (1961), kam es vor allem in Bamenda und in Kumbo zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Armee und den anglophonen Sezessionisten im Nordwesten des Landes. Obwohl die Regierung die Kundgebung verboten hatte, waren die Demonstranten auf die Straßen geströmt, um die Unabhängigkeit einer hypothetischen „Federal and Democratic Republic of Southern Cameroon“ zu feiern. Dabei fielen Schüsse, zahlreiche Personen wurden festgenommen. Schon am 30. Dezember 1999 hatten Unbekannte, die sich als Mitglieder des Southern Cameroon’s National Council (SCNC) ausgaben,1 für kurze Zeit die Räume des nationalen Fernsehens in Buea (nördlich von Douala) besetzt und über den Sender die Unabhängigkeit ihrer Region ausgerufen. Am 8. Januar 2000 wurde in der Küstenstadt Limbe symbolisch die Unabhängigkeitsfahne gehisst. Der Druck der englischsprachigen Separatisten wuchs, und im Mai 2000 sah sich UN-Generalsekretär Kofi Annan bei seinem Besuch in Jaunde zu der Klarstellung genötigt, dass die Vereinten Nationen am Prinzip der Unantastbarkeit der Landesgrenzen festhalten.

Mehr denn je empfinden sich die Anglophonen im ehemaligen britisch-französischen Kondominium als Bürger zweiter Klasse, obwohl diese Marginalisierung in keinem offiziellen Text festgeschrieben ist. Am 20. Juli 1922 hatte der Völkerbund Kamerun in zwei Mandatsgebiete aufgeteilt, ein französisches und ein britisches. Die beiden Kolonialmächte hatten den gemeinsamen Auftrag, die Kameruner auf die Autonomie vorzubereiten, aber auch zur Festigung der internationalen Sicherheit und zur Wahrung der persönlichen Freiheitsrechte beizutragen. In Erfüllung dieses Auftrags entließ Frankreich den frankophonen Teil am 1. Januar 1960 in die Unabhängigkeit. Parallel dazu hatte die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 13. März 1959 in ihrer Resolution 1350 empfohlen, getrennte Volksabstimmungen in den britisch verwalteten Zonen des nördlichen und südlichen Westkamerun zu organisieren, um festzustellen, wie die Einwohner sich ihre Zukunft vorstellten.

Die Frage, über die in beiden Zonen abgestimmt wurde, lautete: Unabhängigkeit durch Anschluss an Nigeria oder durch Anschluss an die Republik Kamerun. Mit dieser eng gefassten Alternative kam ein Element des zähen Streits um die Rechte der Anglophonen in die Welt: Die Betroffenen hatten keine Möglichkeit, sich für volle Autonomie zu entscheiden. Trotz der Ziele, auf die sich die UN in den Mandatsverträgen verpflichtet hatte, wurde dem britisch verwalteten Westkamerun kein Weg zur völkerrechtlichen Souveränität eröffnet.

Das Doppelreferendum vom 11. und 12. Februar 1961 brachte unterschiedliche Resultate. Der Norden entschied sich für den Anschluss an Nigeria, der Süden für den an Kamerun. Der wurde dann im Zuge einer bundesstaatlichen Verfassung vollzogen, die am 1. September 1961 in Kraft trat und ausgesprochen zentralistische Züge trug. Im Rahmen dieses Verfassungssystems wurde die Autonomie der anglophonen Bundesstaaten langsam abgebaut, bis sie durch die Annexion ganz aufgehoben wurde. Im Februar 1972 löste sich das ehemalige „Southern Cameroon“ im neu geschaffenen zentralistischen Einheitsstaat auf. Diese institutionelle Dynamik hat im Lauf der Zeit viele Probleme erzeugt, die nur durch eine Einschränkung der Demokratie- und Freiheitsrechte unter Kontrolle zu bringen waren.

Unter dem zentralistischen Regime von Präsident Ahmadou Ahidjo verschwanden auch die letzten Reste der schwachen Autonomie, die den Provinzen laut Verfassung zustanden. Ahidjo war aufs Engste mit den französischen Interessen und dem Ölkonzern Elf verbandelt. Er sorgte für die Einführung des CFA (des afrikanischen Franc) als nationale Währung, was zu Lasten des britischen Pfundes ging.2 Mit der Erschließung der großen Off-shore-Erdgasvorkommen vor der Halbinsel Bakassi im Golf von Guinea wurde die „Zwangsfrankophonisierung“, gegen die sich die Separatisten so sträubten, entscheidend beschleunigt. 1977 begann dann die Erdölförderung am Rio del Rey, betrieben von dem französischen Unternehmen Elf, das seit 1978 auch die Ölquellen von Lokele und Mundi ausbeutete. Die ökonomische Entwicklung spielte sich also weitgehend außerhalb der früheren anglophonen Bundesstaaten ab.

Das Prinzip der Mitbestimmung galt nicht mehr, Westkamerun wurde bei den wesentlichen ökonomischen Entscheidungen einfach übergangen. Präsident Ahidjo hatte bei allem das letzte Wort und ließ sich kein bedeutendes Geschäft aus der Hand nehmen. Sobald eine Sache ins Rollen gebracht war, traf er seine direkten Abmachungen mit den ausländischen Partnern und konnte so dem anglophonen Teil die letzten ökonomischen Schalthebel entwinden. Die im anglophonen Limbe ansässige staatliche Ölraffineriegesellschaft Sonara etwa führte einen hohen Prozentsatz ihrer Steuern merkwürdigerweise weiterhin in die frankophone Stadt Douala ab. Diese Politik der ökonomischen Ausblutung wurde in der Folge durch eine Strategie der politischen Entfremdung noch verstärkt.

Im Februar 1984 ließ der Nachfolger Ahidjos, Präsident Paul Biya, das mit dem Ländernamen verbundene Adjektiv „vereinigt“ per Dekret streichen, seitdem heißt der Staat nur noch „Republik Kamerun“. Für die Vertreter der anglophonen Bewegungen war dies das letzte Kapitel im Prozess der Vernichtung ihrer spezifischen Identität. Der Schlag traf sie umso härter, als die Regierung eine breit angelegte Verfassungsdebatte angekündigt und dadurch gerade bei der englischsprachigen Bevölkerung große Hoffnungen geweckt hatte. In dieser politischen Aufbruchsstimmung hatten sich die Menschen, die einst unter britischer Verwaltung gestanden hatten, ihre besondere Geschichte in Form einfacher Legenden vor Augen geführt. Die verstärkte Beschäftigung mit ihrer Geschichte führte schließlich zu der Forderung nach verfassungsmäßiger Anerkennung der anglophonen Identität und insbesondere nach Rückkehr zur Föderation.3

Die Zuspitzung der Ereignisse kam nicht aus heiterem Himmel. Immer häufiger, dringlicher und beharrlicher waren unterschiedliche Forderungen laut geworden. Hinzu kam eine allgemeine Verfassungsdiskussion, die zunehmend im Zeichen geopolitischer, geokultureller und soziolinguistischer Partikularismen stand. Im Mai 1993 boykottierten die Mitglieder des anglophonen Nationalrats SCNC die Arbeiten des Komitees zur Ausarbeitung der Verfassungsreform mit der Begründung, ihre Vorschläge zur bundesstaatlichen Ordnung seien von den frankophonen Führern nicht berücksichtigt worden. Tatsächlich blieb der Präsident der Republik – und somit die Regierung – Herr des Verfahrens, indem er die Vertreter der anglophonen Interessen aus dem Gremium warf, sobald sie seinen Plänen in die Quere kamen.

Bei den Verfassungsdebatten der Neunzigerjahre hatte sich der Staatschef das Recht vorbehalten, die „anglophonen Repräsentanten“ persönlich zu ernennen. Bezeichnenderweise stand das mit der Verfassungsreform beauftragte Komitee unter dem Vorsitz des frankophonen Joseph Owona, damals Generalsekretär des Präsidenten der Republik. Das veranlasste die anglophonen Vertreter der Autonomiebewegung des SCNC zu Beratungen im April und Mai 1995 in London, Washington und New York, wo sie den Kampf für ihre Interessen organisierten und, als Minimalforderung, die Rückkehr zu einem Bundesstaat Kamerun verlangten.

Die Symbolfigur dieses Kampfes ist Justice Frederick Ebong Alobwede, selbst ernannter Präsident der virtuellen „Federal and Democratic Republic of Southern Cameroon“.4 Gegenüber der SCNC-Zeitung Today warf er Biya vor, seit 1984 „den ganzen Kuchen allein aufzuessen“. In demselben Interview vom 29. Juni 2001 erklärte Alobwede, nach der Unabhängigkeitserklärung vom 31. Dezember 1999 und der Bildung seiner Übergangsregierung am 5. Juni 2001 bleibe ihm nur noch der Weg der Gewalt, um von Biya die Anerkennung des Grundsatzes aus der UN-Resolution 224 vom 18. November 1948 zu erzwingen: „Kein Nachbarstaat darf das südliche Kamerun annektieren.“

Zu dieser rein politischen Auseinandersetzung kamen Konflikte über Fragen des Bildungswesens und der geistigen Freiheit hinzu. Seit 1983 lösten wiederholte Anläufe zu einer Schulreform soziale Spannungen aus, die den Forderungen nach Sezession neuen Zündstoff lieferten.5 Im Dezember 1983 unternahmen die Behörden einen ersten Vorstoß, das General Certificate of Education (GCE) im O- und im A-Level (Primar- und Sekundarstufe) zu „kamerunisieren“, weil die in englischer Sprache verfassten Klausuren in London korrigiert und bewertet wurden, also der Kontrolle durch die Behörden Kameruns entzogen waren. Durch die Einführung bestimmter Pflichtfächer sollten die Schulabschlüsse vereinheitlicht werden. Die anglophonen Eliten, insbesondere Politiker, Intellektuelle und Stammesoberhäupter, hatten die Reform zunächst pro forma befürwortet, um erst einmal Zeit zu gewinnen. Doch parallel dazu brachten dieselben Eliten – insbesondere Universitätsangehörige und Journalisten – die anglophone Bevölkerung dazu, einen Gesetzentwurf abzulehnen, der die Umwandlung des englischen GCE in ein französisches Baccalauréat vorsah.6 Bei Kundgebungen auf dem Campus der Universität und auf den Straßen von Jaoundé, Bamenda und Buea sah man Plakate mit der Aufschrift: „Kamerun hat zwei Kulturen: Nein zur Assimilation!“ Die Gesetzentwürfe verschwanden in den Schubladen, aber die Ruhe im Einheitsstaat war dahin.

Die Regierung versuchte 1988 wieder, das GCE im O-Level zu reformieren. Diesmal begann sie mit einer Namensänderung, überdies sollte der Zyklus nach dem Vorbild des französischen Brevet d’études der Primarstufe von fünf auf vier Jahre verkürzt werden. Doch obwohl der zuständige Minister Georges Ngango mit äußerster Vorsicht alle politischen Klippen zu umgehen versuchte, wurde der Druck der anglophonen Bevölkerung groß. Unterstützt von der lokalen Presse und auswärtigen Rundfunksendern, riefen ihre Vertreter zum zivilen Ungehorsam auf – und brachten auch dieses Vorhaben zum Scheitern.

Mit dem Streik der GCE-Prüfer im Jahr 1991 brach der Konflikt mit erneuter Heftigkeit wieder auf. Die Streikbewegung, die von Bamenda im Zentrum der anglophonen Zone ausging und das ganze Land erfasste, gehört zu den längsten und am besten organisierten Protestaktionen, die das Bildungswesen Kameruns je erlebt hat. Dabei ging es um die Abrechnung der Prüfungsgebühren für mehrere Jahre und um die Bewahrung bestimmter Privilegien, die ein anglophones Abschlusszeugnis mit sich brachte. Die Prüfer weigerten sich, überhaupt noch irgendwelche Arbeiten zu korrigieren, solange ihre Forderungen nicht erfüllt würden. Am Ende musste die Staatsgewalt den Streikenden nachgeben, die Korrekturen wurden nachgeholt. Den schleichenden Zentralisierungsprozess vermochte dieser sezessionistische Gegendruck jedoch nicht aufzuhalten.

Was die anglophonen Provinzen einigt, ist eine gewissermaßen strukturelle Opposition gegen eine Zentralmacht, die als Werkzeug des frankophonen Hegemonialanspruchs in Afrika gilt und ihnen das Recht auf territoriale Selbstverwaltung bestreitet. Angeführt wird diese Opposition von John Fru Ndi, dem Vorsitzenden der Social Democratic Front (SDF), die aber trotz ihres starken Engagements in der politischen Auseinandersetzung die Forderungen nach Sezession nicht unterstützt.7 Die SDF wirft der Regierung vor, das „anglophone Problem“ zu verschärfen, und hat die Vereinten Nationen wiederholt gebeten, sich um „ein Problem zu kümmern, das sich weiter verschärfen könnte“8 .

Strategisch geschickt hat Präsident Biya am 19. September 1996 einen Ministerpräsidenten eingesetzt, der nicht aus der nördlichen, sondern aus der südlichen Provinz des anglophonen Westens stammt. Damit hat er einen unterschwelligen Konflikt ganz anderer Natur heraufbeschworen: Das Wiederaufleben der jahrhundertealten Rivalität zwischen den Bewohnern der südlichen Küstenregion und denen des nach Westen orientierten Nordens. Auch die sozialpolitische Rivalität zwischen den Bantu-Völkern in der Küstenregion des Südwestens und den fremdstämmigen Völkern im Nordwesten lässt die Solidarität zwischen den beiden Gemeinschaften brüchiger werden.

Bei seinem Besuch in Douala, der Wirtschaftsmetropole des Landes, hielt Premierminister Peter Mafany Musonge 1997 eine Rede, die er wie zum Zeichen der Abgrenzung gegen die Anglophonen des Nordwestens in der lokalen Duala-Sprache begann und anschließend auf Englisch fortführte. Solche Divergenzen lassen die Perspektive einer Neuordnung der Landkarte von Kamerun eher unwahrscheinlich erscheinen. Aber trotz der Mahnungen der UNO, die auf der Unantastbarkeit der Grenzen besteht, verlangt der SCNC ein Referendum. Damit schließ er sich auch der dringenden Forderung der Opposition nach freien Wahlen an.

Die Sezessionisten entwickeln eine ungeheure Fantasie und setzen auf Katastrophenszenarien, um sich Gehör zu verschaffen. Ständige Gewaltandrohungen sind zu ihrer bevorzugten Waffe geworden. Damit bedienen sie sich einer Art politischer Erpressung, insbesondere gegenüber der „internationalen Gemeinschaft“, die eine Demokratisierung des Landes wünscht und in einem Anfang 2000 erschienenen UN-Bericht die Menschenrechtsverletzungen durch das Regime von Präsident Biya angeprangert hat.9 Vielleicht ist diese Entwicklung aber nur der Preis, der für die Fehler der Vergangenheit, also die erzwungene Entwicklung Kameruns zum Einheitsstaat, letzten Endes zu entrichten ist.

dt. Grete Osterwald

* Gastdozent an der Fakultät für Rechts- und Politikwissenschaften der Universität von Douala (Kamerun); Vorsitzender der Grepda (Groupe de recherches sur le parlementarisme et la démocratie en Afrique).

Fußnoten: 1 Die unter dem Namen SCNC bekannte Bewegung hieß ursprünglich SCPC, Southern Cameroon People’s Conference. Diese Organisation entstand aus der Enttäuschung über das Ergebnis der Wiedervereinigung des anglophonen und des frankophonen Kamerun. 2 Siehe Thierry Michalon, „Au Cameroun, la descente aux enfers des intellectuels“, Manière de Voir 51, Juni 2000. 3 Vgl. Louis-Marie Nkoum-Me-Ntseny, „Les anglophones et le processus d’élaboration de la Constitution du 18 janvier 1996“, in: „La Réforme Constitutionelle du 18 janvier 1996. Aspects juridiques et politiques“, Jaunde (Friedrich-Ebert-Stiftung/AASP/GRAP) 1996. 4 Alobwede war nicht immer ein Rebell, sondern ist ein erfahrener Staatsbeamter, der in der kamerunischen Verwaltung zahlreiche hohe Ämter innehatte, zuletzt in der Stadt Limbe. Dort wurde er bei den blutigen Zusammenstößen zwischen Sezessionisten und der Armee im März 1997 verhaftet. Nach seiner Freilassung acht Monate später ging er ins Exil nach Nigeria, wo er bis heute lebt. 5 Siehe Camille Ekomo Engolo, „L’impact sociologique du bilinguisme d’Etat sur l’enseignement supérieur au Cameroun“, Doktorarbeit, Lille 1994. 6 Siehe Fußnote 5. 7 Der SDF hat sich beispielsweise offiziell von den blutigen Straßenschlachten distanziert, die zwischen dem 26. und 31. März 1996 in Oku, Kumbo und Jakiri in Nordwestkamerun stattfanden. 8 Siehe dazu die Resolutionen des Exekutivkomitees des SDF, insbesondere vom Kongress, der im Oktober 2001 in Bamenda stattfand, La Nouvelle expression, Douala, 7. Oktober 2001. 9 Die Extremisten der Union national pour la démocratie et le progrès (UNDP) gehen ebenfalls zu dieser Strategie über, indem sie Gewaltaktionen im Norden des Landes begrüßen, die das von der Weltbank finanzierte Projekt der Tschad-Kamerun-Pipeline gefährden könnten.

Le Monde diplomatique vom 13.12.2002, von ABOYA ENDONG MANASSE