Der Fall Leonard Peltier
SEIT 1977 ist Leonard Peltier, Angehöriger eines Sioux-Stammes, im Bundesgefängnis von Leavenworth in Kansas inhaftiert. Er ist 58 Jahre alt und verbüßt eine Strafe von zweimal lebenslänglich, verurteilt wegen Mordes an zwei FBI-Agenten. Seit 25 Jahren beteuert er seine Unschuld. Peltiers Verteidiger versichern, dass er Opfer eines politischen Prozesses ist, dass an ihm ein Exempel statuiert werden sollte, obwohl es keinen Beweis für seine Schuld gibt. Trotz der internationalen Proteste von Menschenrechtsorganisationen und von Freunden der nordamerikanischen Indianer sitzt Leonard Peltier immer noch in Haft, und sein Fall ist einer breiteren Öffentlichkeit wenig bekannt.
Wenn die Rede von den Indianern Nordamerikas ist, fallen einem häufig zuerst einmal Stereotype ein wie Federschmuck, Büffel, Tipis usw. Im Jahr 2002 leben in den USA etwa drei Millionen Indianer, Überlebende des im 19. Jahrhundert von der amerikanischen Armee und von Siedlern begangenen Völkermords. Ihre alltägliche Lebenswirklichkeit ist von solchen folkloristischen Klischees jedoch sehr weit entfernt. Die Mehrheit dieser Völker hat mit großen wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten zu kämpfen, die mit dem Verlust identitätsstiftender Orientierungen zusammenhängen. So ist in vielen Stämmen Alkoholismus weit verbreitet. Trotz dieser negativen Voraussetzungen ist es in den letzten dreißig Jahren in den verschiedenen Stämmen und Reservaten zu einer kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Erneuerung gekommen. Mit anhaltendem Kampf haben diese Vergessenen Amerikas eine gewisse Verbesserung ihrer Lage erreicht.
Im Alltag finden ihre Kämpfe in den Gemeindezentren der Großstädte oder innerhalb der Reservate statt, fernab von den Scheinwerfern der Aktualität, was dazu beiträgt, dass ihre Sache in Vergessenheit geraten ist. Sie kämpfen für die Anerkennung ihrer Kulturen, ihrer Sprachen, ihrer Identität. Diese Kämpfe haben mehrfach gewaltsame Formen angenommen. Zuerst natürlich im 19. Jahrhundert, als sie ihre Gebiete zu bewahren versuchten. Dabei taten sich die Sioux hervor, eines der mächtigsten Völker Nordamerikas, das schon 1760 über französische Fallensteller in Berührung mit den Europäern gekommen war. Zahlreiche Trapper sorgten für gemeinsame Nachkommen, was die große Anzahl französischer Familiennamen wie Peltier erklärt.
Ab 1854 kommt es zu Zusammenstößen zwischen den Sioux und der amerikanischen Armee, als die Indianer versuchen, das weitere Vorrücken der Siedler aufzuhalten. Fünfundzwanzig Jahre lang werden sie unter der Führung so legendärer Häuptlinge wie Sitting Bull, Red Cloud und Crazy Horse der Armee erbittert Widerstand leisten und ihr 1876 die berühmte Niederlage am Little Big Horn beibringen, bei der General Custer getötet wird. Nach dem Tod von Crazy Horse im Jahr 1877, der endgültigen Unterwerfung von Red Cloud und der Ermordung von Sitting Bull im Jahr 1890 setzt schließlich im Dezember desselben Jahres das Massaker am Wounded Knee dem Widerstand der Sioux ein Ende.
In Reservate in North und South Dakota eingepfercht, lernten die Sioux Erniedrigung, Elend, kulturelle und wirtschaftliche Enteignung kennen. Aber ihr Widerstandsgeist lebte weiter. 1934 schuf ein neues Gesetz, das ihnen angeblich Vorteile bringen sollte, von den Indianern gewählte „Stammesregierungen“. Tatsächlich aber entsprachen diese „Regierungen“ nicht den wirklichen Bestrebungen der Sioux. In den Fünfzigerjahren waren viele Indianer gezwungen, in die Städte zu gehen. Darunter waren viele junge Menschen, die sich von den politischen Protestbewegungen jener Zeit anstecken ließen (Black Panther, militante Puertoricaner und Latinos, Vietnamkriegsgegner); 1968 gründeten sie ihre eigene Bewegung, um ihre Forderungen geltend zu machen, das American Indian Movement (AIM). Nach dem Muster der Bürgerbewegung der Afroamerikaner organisiert, erlebte das AIM sehr schnell einen immensen Zulauf.
Leonard Peltier schließt sich sehr früh der Bewegung an.1 Er nimmt an Aktionen teil, beteiligt sich am Kampf gegen Alkoholismus, an der Verteilung von Essen und Spenden, an der Schaffung von Selbsthilfeprogrammen, dem Wiederaufbau der traditionellen religiösen Aktivitäten und unterstützt die Renaissance der indianischen Ursprachen.
Das AIM beabsichtigt, durch spektakuläre, aber nicht gewalttätige Aktionen die Aufmerksamkeit auf die dramatisch schlechten Lebensbedingungen der Indianer zu lenken. Peltier ist 1970 bei der Besetzung von Fort Lawton dabei, wo er die wichtigsten Führer der Bewegung kennen lernt: Dennis Banks und Russell Means. 1972 organisiert er den Marsch der gebrochenen Verträge, der mit der Besetzung des Büros für Indianerangelegenheiten in Washington endet und ein enormes Echo in den Medien findet. Von ist das AIM in den Augen des FBI eine „subversive“ Organisation, und seine Führer sind „Feinde“.
Die Regierung von Präsident Richard Nixon lanciert ein Programm für Gegenspionage im Inland, Cointelpro, das die so genannten subversiven Organisationen, darunter das AIM, infiltrieren und destabilisieren soll. Im November 1972 wird Leonard Peltier des Angriffs auf FBI-Agenten beschuldigt und fünf Monate inhaftiert, ehe er freigesprochen wird, da die ganze Sache abgekartet war, um ihn zu kompromittieren. Schon damals.
Parallel dazu begünstigt das FBI bei der Wahl zum Vorsitzenden des Stammesrats von Pine Ridge (das Sinnbild eines Sioux-Reservates) den Kandidaten Richard „Dick“ Wilson, einen mit weniger als 20 Prozent der Wahlberechtigten gewählten „Kollaborateur“ Er soll die Ordnung in diesem als Hort der „Aufrührer“ geltenden Reservat wiederherstellen. Mit Finanzmitteln unbekannter Herkunft schafft Wilson eine Miliz, die Goon Squads (Guardians Of Oglala Nation). Um gegen die brutalen Übergriffe der Goon Squads zu protestieren, besetzen die Sioux, unterstützt von Mitgliedern des AIM, im Februar 1973 das historische Dorf Wounded Knee. Leonard Peltier ist mit dabei. Das Dorf wird von den Ordnungskräften drei Monate lang belagert; sie scheuen sich, den Befehl zum Stürmen zu geben. Zwei Sioux werden getötet. Im Mai 1973 ergeben sich die Belagerten, nachdem sie Verhandlungen über die gebrochenen Verträge und die Lebensbedingungen der Indianer verlangt haben.
In den folgenden Monaten haben Dick Wilson und seine Goons freie Hand, gegen ihre Opponenten vorzugehen. Eine Welle willkürlicher Gewalt bricht über Pine Ridge herein: Achtzig Kämpfer werden zwischen November 1973 und Ende 1975 ermordet. Angesichts der Verbrechen der Miliz rufen die Stammesältesten das AIM zu Hilfe. Dessen Mitglieder, u. a. Leonard Peltier, greifen ein und erreichen ein erhebliches Nachlassen der Unterdrückung durch die Goons. Sie errichten ein Camp auf dem Grundstück einer befreundeten Familie im Pine Ridge Reservat nahe dem Dorf Oglala.
An einem Morgen im Juni 1975 wird das Grundstück von den Goons, von FBI- Agenten und einer großen Zahl Polizisten umzingelt. Gegen 11 Uhr 30 dringen zwei Bundesbeamte, Ronald Williams und Jack Coler, auf das Gelände der Jumping Bull Ranch vor, um einen jungen Sioux namens Jimmy Eagle festzunehmen. Von diesem Moment an gehen die Aussagen auseinander. Es scheint, dass die Agenten auf das von Eagle gesteuerte Fahrzeug geschossen haben. Die Mitglieder des AIM glauben an einen Angriff der Goons und erwidern das Feuer. Die Polizeikräfte und die Goons gehen zum Angriff über, und es kommt zu anhaltenden Schusswechseln. Zwei Mann vom AIM versuchen, sich Williams und Coler zu nähern, um sie zu entwaffnen. Doch sie sind bereits tot.
Den Mitgliedern des AIM gelingt wider Erwarten die Flucht. Nur Joe Stuntz Killsright, ein junger Sioux, wird erschossen. Leonard Peltier hat immer versichert, er sei in der Nähe des Hauses geblieben, und gab zu, geschossen, aber nie auf Williams und Coler gezielt zu haben.
NACH dieser Schießerei wird mit einer gewaltigen Medienkampagne versucht, die Indianerbewegung zu kriminalisieren. In allen Reservaten ist die Repression spürbar. Gegen Jimmy Eagle, Dino Butler, Bob Robideau und Leonard Peltier werden Haftbefehle erlassen. Die Festnahme von Butler und Robideau erfolgt schnell. Peltier, der um sein Leben fürchtet, flieht nach Kanada. Butler und Robideau werden im Bundesstaat Iowa angeklagt. Ein Geschworenengericht spricht sie frei und erregt damit den Zorn der Justizbehörden, die daraufhin alle ihre Anstrengungen auf Leonard Peltier konzentrieren, der des zweifachen Mordes beschuldigt wird. Dem FBI gelingt es, seine Auslieferung aus Kanada zu erreichen.
Sein Verfahren findet in Fargo, North Dakota, statt, einer vorwiegend von indianerfeindlichen Viehzüchtern bewohnten Region. Sämtliche Geschworene gehören dieser Berufsgruppe an. Falschinformationen werden in Umlauf gebracht, in denen von Attentatsdrohungen oder bewaffneten Angriffen des AIM zu Peltiers Befreiung die Rede ist. Die Geschworenen, gefangen in dieser allgemeinen Paranoia, werden in Panzerfahrzeugen transportiert und an gesicherten Orten isoliert.
Der Richter entscheidet, dass Zeugenaussagen der Verteidigung zur Schreckensatmosphäre jener Zeit und solche, die das FBI oder die Goons in Frage stellen könnten, nicht zugelassen werden. Keiner der Beweise, die zum Freispruch von Butler und Robideau geführt haben, darf vorgebracht werden.
Die Aussagen bestimmter Agenten, die behaupten, Peltier mit einem AR15-Gewehr auf Williams und Coler schießen gesehen zu haben, lehnt er dagegen nicht ab. Ein anderer Agent behauptet, Peltier mit Hilfe des Zielfernrohrs auf seinem Gewehr identifiziert zu haben. Peltiers Anwälte können nachweisen, dass es unmöglich ist, von der Stelle, wo sich dieser Agent befand, irgendjemanden zu erkennen. Der Richter lässt keinen Einwand der Verteidigung gelten und verurteilt Leonard Peltier zu zweimal lebenslänglicher Haft. Peltier legt Berufung ein, aber das Gericht bestätigt das Urteil.
1981 ermöglichen dann neue Dokumente, mehrere Anträge auf Wiederaufnahme zu stellen. Ein Waffenexperte bestätigt vor Gericht, dass das AR15-Gewehr Peltiers gar nicht die Tatwaffe sein kann, da die Patronenhülsen nicht daraus stammen. In seinem Urteil vom 22. September 1986 befindet das Berufungsgericht, das ballistische Gutachten im Prozess sei „fragwürdig“ gewesen, und erklärt, somit sei nur die „Möglichkeit“, nicht aber die „Wahrscheinlichkeit“ gegeben, dass Peltier die Agenten getötet habe; es gibt zu, dass aufgrund dieser Tatsache „das Urteil im ersten Prozess hätte anders ausfallen können“. Es lehnt eine Wiederaufnahme des Verfahrens jedoch ab! Der Oberste Gerichtshof schließt sich der Entscheidung im Jahr darauf an. 1993 lehnt der Bewährungsausschuss einen Antrag auf Freilassung ab. Bei einer neuerlichen Anhörung im Jahr 1995 wird Peltier vom ehemaligen Justizminister Ramsey Clark vertreten, und der Staatsanwalt Lynn Crook gibt zu, dass „gegen Leonard Peltier kein Beweis existiert“. Er fügt hinzu, dass er „nie wirklich wegen Mordes angeklagt“ gewesen sei und dass er im Fall einer Wiederaufnahme „nicht noch einmal verurteilt werden könne“. Gleichwohl hält der Bewährungsausschuss eine Freilassung für ausgeschlossen, da Peltier weiterhin an seinen Unschuldsbeteuerungen festhält, was „mit der Entscheidung der Geschworenen unvereinbar“ sei.
Bleibt die Hoffnung auf einen Gnadenerlass des Präsidenten. 1996 beteuert Bill Clinton: „Ich werde Leonard nicht vergessen“, aber Ende 2000, nach der Wahl von George Bush, tut er nichts. Da Präsident Bush nicht gerade ein Freund der indianischen Minderheiten ist, schwindet die Hoffnung auf Freilassung von Leonard Peltier. Die öffentliche Meinung, unterstützt vom Nationalkongress der Indianer Nordamerikas, dem Nationalrat der Kirchen, amnesty international und Persönlichkeiten wie dem Subcomandante Marcos, Nelson Mandela, Erzbischof Desmond Tutu, Rigoberta Menchu, dem Dalai Lama sowie zehntausenden Bürgern überall auf der Welt kämpfen für eine Wiederaufnahme.2 Es wird immer offenkundiger, dass das wahre Verbrechen von Leonard Peltier – „United States Prisoner 89637-132“ – darin besteht, den Fehler begangen zu haben, die Grundrechte der Ureinwohner zu verteidigen, mit denen die USA ihre historische Schuld noch nicht geregelt haben.3 Zahlreiche Ethnologen und Freunde der Indianer schließen sich diesem Kampf an4 , der ein Kampf ist um die Würde eines Menschen, die ihm wegen seines politischen Engagements und seiner ethnischen Herkunft geraubt wurde.
dt. Uli Aumüller
* Ethnologe, Spezialist für die Kultur der Sioux Lakota, Ecole des Hautes études en sciences sociales, Paris.