Wer ist Caliban?
WARUM hat der Terrorismus nichts mit der Globalisierungskritik zu tun?, fragte der französische Philosoph Jean Baudrillard in unserer Novemberausgabe. Jan Philipp Reemtsma hat auf dem diesjährigen Soziologentag den Wilden Caliban aus Shakespeares „Sturm“ zum Anlass genommen, über die Natur des Terrorismus nachzudenken. Von JAN PHILIPP REEMTSMA *
Obwohl ich Philologe bin, werde ich die Frage, wer Caliban sei, hier nicht philologisch traktieren. Es soll auch nicht darum gehen, eine literarische Figur in irgendeiner Weise allegorisch oder analogisch mit der politischen Wirklichkeit zusammenzubringen – jedenfalls nicht ohne Vorbereitung. Wohl aber geht es mir darum, die Schwierigkeiten, die der inszenierende oder auch nur lesend-verstehende Umgang mit dieser Figur mit sich bringt, zu verstehen, weil es auch außerliterarisch bezeichnende sind. Provoziert werden sie durch das offensichtlich Geheimnislose, das dieser Figur anhaftet. Wir kennen keinen Caliban und wüssten nicht zu sagen, wo eine Spur wäre, die uns hinter die Kulisse seiner angstwütenden Tiraden führte. Da ist nichts als das: Angst, Wut und Begehren – und zu Recht behauptete Rolf Vollmann, dass „Caliban falsch verstanden würde, reihte man ihn in die Gruppe derer ein, die zu verstehen man genötigt ist“1 .
Verführt durch den Topos der Landnahme – der vertriebene mailändische Fürst Prospero nimmt eine Insel in Besitz – und durch die Worte, die Shakespeare seinen Caliban sprechen lässt, hat man das Verhältnis Prospero-Caliban als das eines Kolonisators zu einem Kolonisierten gedeutet.2 Caliban als Wilder, als bösartig undankbarer, der die Hand beißt, die ihn füttert, und den Kopf einschlagen will, der ihn gelehrt hat (was eine gewisse Stütze im Text findet3 ), als seiner Rechte und seines Eigentums beraubter Wilder (was ebenfalls im Text steht4 ). Schließlich hat man gemeint, Shakespeare habe beim Entwurf seines Caliban an Montaignes „Von den Menschenfressern“ gedacht. Dann wäre Caliban nun zwar noch kein edler Wilder, aber doch einer, den wir an Grausamkeit übertreffen – das nämlich war der Sinn von Montaignes Aufsatz: die Grausamkeit seiner Zeit anzuklagen. Jeder nenne, so Montaigne, das barbarisch, was nicht Sitte seiner Heimat sei, und über dem Abscheu über die Grausamkeiten derer, die wir Barbaren nennen, vergäßen wir die – größeren – eigenen, denn was sei schlimmer: einen Menschen nach seinem Tode zu verspeisen oder ihn bei lebendigem Leibe in Stücke zu hauen oder zu verbrennen? Diese Anbindung an Montaigne hat dazu geführt, in einigen Inszenierungen Caliban als antikolonialen Revolutionär darzustellen, inklusive seines Versuchs, Prosperos Tochter Miranda zu vergewaltigen.5 Das ist – philologischer und inszenatorischer – Unsinn und jedenfalls nicht Shakespeare, aber insofern interessant, als es jedenfalls doch nicht aus purer Lust am Unsinn so gekommen ist.
Caliban will nichts – außer Prospero ermorden. In dieser Phantasie schwelgt er, nicht in der Idee irgendeiner Freiheit, bietet er sich doch dem ersten Besten als Sklave an, wenn der nur hilft beim Mord.6 Dass der koloniale wie der antikoloniale Diskurs die Figur Caliban nicht erreichen, ist nicht das, was uns kümmern soll, vielmehr der Umstand, dass die rätsellose Fremdheit Calibans uns dazu provoziert, uns mit unserem zivilisatorischen Selbstbild herumzuschlagen. Dieses Selbstbild ist untrennbar verbunden mit der Frage nach der Legitimierbarkeit von Gewalt, und es kennzeichnet sich als modernes dadurch, dass die Legitimierung von Gewalt stets prekär ist. Es war der moderne Zivilisierungsschub, der traditionellerweise die Umwidmung eines Raubzugs zum Kreuzzug legitimierte, wenn das Vorkommen „barbarischer Grausamkeiten“ offenbar wurde – ob nun in den Black Hills, in Kanton oder irgendwo in Afrika. Doch solche Gewaltlegitimationen haben das dem modernen Selbstbild, zivilisiert zu sein, inhärente selbstkritische Potenzial immer nur sporadisch zum Verstummen bringen können. Die Bilder verstümmelter Sklaven im belgischen Kongo sind ebenso öffentlich geworden wie die verbrannter Kinder in Vietnam. Der Schock, den diese Bilder ausgelöst haben, ist unter anderem eine narzisstische Kränkung gewesen – eine masochistisch gewendete. Die Einsicht, dass nichts die kolonialen Greuel legitimieren konnte, kippte in eine autoaggressive Scham, die ihren Ausdruck in der Ansicht fand, dass nichts die antikolonialen Greuel delegitimieren konnte.
Sie sehen die Analogie: Wie die kolonialistische Deutung Calibans als grausamen Wilden die antikolonialistische, er sei ein edler, aufbegehrender Wilder, provozierte, provoziert die kolonialistische Deutung des 11. September – George Bushs Rede vom Kreuzzug – die antikolonialistische: Das sei Gegengewalt gewesen, die wir uns auf den Hals gezogen hätten. Da die kolonialistische Deutung sich die Affekte angesichts der unleugbaren Grausamkeit der Taten zunutze machen und dann zur Feinderklärung übergehen kann, erspart sie sich eine Menge Verstehens- und Erklärungsaufwand. Feindverstehen ist ja nur so weit nötig, als ich meine, es für eine erfolgreiche Kriegführung nötig zu haben. Anders die antikolonialistische Deutung: da hier „Verstehen“ und „Verständnis-haben-für“ nahe beieinander sind, müssen Gegenaffekte aufgebaut, Geschichten erzählt und Theorien über Gewalt und Gegengewalt ge- oder erfunden werden.
Im kolonialistischen Deutungsmuster hat die Gewalttat eine Evidenz als Feinderklärung, die nicht befragt zu werden braucht, sie hat in diesem Deutungsmuster eine Sinnzuschreibung erfahren, die nicht in Frage gestellt werden kann und nicht nach weiteren verlangt. Im antikolonialistischen Deutungsmuster muss eine Sinnzuschreibung gefunden werden, die in der Lage ist, sich gegen jene durchzusetzen, es muss gewissermaßen eine Absicht, ein Zweck, ein Handlungsziel gefunden werden, groß genug, wenn nicht die Tat zu legitimieren, so doch, eine Legitimation anderswo vorstellbar zu machen – wobei „vorstellbar“ heißt: dass unsere Weltdeutung so viel an Gemeinsamkeiten hat, dass sinnvoll über die Wahl der Mittel debattiert werden kann. Auf diese Weise lobt sich die antikolonialistische Deutung als politische gegenüber der kolonialistisch-militärischen aus. Kennt diese nur den Sieg, so will jene den Frieden und behauptet zu wissen, welche Zwecksetzungen auf andere Weise befriedigt werden können – und müssen, um uns Sicherheit zu verschaffen.
Nun gerät die antikolonialistische Deutung seit Ende der Kolonialkriege und ihrer Nachfolger an ein Problem: sie kann eben nichts vorweisen, das groß genug wäre, um in Proportion mit extremen Gewalttaten zu sein, es sei denn der globale Kapitalismus selbst. Es gibt zwei Möglichkeiten: sich auf die Seite der Nachfolger der internationalen Linken, der Globalisierungskritiker, zu stellen, und dies so radikal, dass man nicht in Verlegenheit kommt, die Plausibilität dieser Position diskutieren zu müssen – oder die sich einstellende Hilflosigkeit durch Empathie zu kompensieren. Jeder, der jemals einen Vortrag gehalten hat, in dem er sich solchen Empathien verweigert hat, kennt jenen Menschen im Auditorium, der sich spätestens als Dritter meldet und sagt, er könne schon verstehen, wie der Anblick von so viel Leid auf der Welt und die Erfahrung von Ohnmacht eine Wut auslösen könne, die … – Diese Position verfügt über einen erstaunlichen Variantenreichtum. So zitierte die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift „Rache statt Religion. Die Motive palästinensischer Extremisten haben sich geändert“7 den Sprecher einer palästinensischen Behörde, ohne die Plausibilität seiner Angaben irgend in Zweifel zu ziehen: der Zulauf, den die Hamas heute an selbstmordbereiten Attentätern habe, erkläre sich aus den permanenten Erniedrigungen, denen die Palästinenser generell und speziell an den israelischen Kontrollpunkten ausgesetzt seien. Die Tatsache der Erniedrigung soll nicht in Zweifel gezogen werden. Kontrolle und Schikane sind – zumal dort, wo es um Leben und Tod geht – schwer auseinander zu halten. Um die Plausibilität, dass das israelische Kontrollsystem Massen von Erniedrigten und Hasserfüllten produziert, geht es nicht; wohl aber um die Frage, ob man Folgendes als evident plausibel präsentieren kann: „Ich sprach mit einer jungen Akademikerin. Sie war sehr liberal eingestellt. Sie wollte ein Selbstmordattentat ausführen, weil sie an einem Kontrollposten erniedrigt worden war. Sie war besessen von der Idee der Rache.“
Absichten, Motive, Zwecksetzungen sind keine Ursachen für Handlungen, sondern Zuschreibungen (durch andere oder Selbstzuschreibungen), die dem Handlungsverstehen dienen.8 Sie sind nicht Handlungsbestandteile, sondern Bestandteile von Legitimationsdiskursen. Das gilt auch dort, wo es nicht in erster Linie um Legitimationen geht – eine Handlungserklärung ist immer auch eine (wenn auch meist implizite) Auskunft über Kontexte, in denen die in Frage stehende Handlung als legitim angesehen wird. Der Artikel der Süddeutschen Zeitung erklärt uns nicht, wie es zu Selbstmordattentaten kommt, sondern in welcher Weise in einem bestimmten Kontext Selbstmordattentate als nicht primär selbst verantwortete Taten, sondern als psychologisch verständliche Reaktionen dargestellt werden. Hier hätte das Fragen zu beginnen und nicht mit der Attitüde, es werde eine Antwort gegeben, abzubrechen. Was außerhalb des antikolonialistischen Deutungsschemas als Lücke wahrgenommen würde, wird innerhalb seiner durch die Mobilisierung emphatischer Empathie geschlossen. Die Krone der Absurdität gebührt in diesem Zusammenhang der Nachricht, Mohammed Atta habe während seines Harburger Studiums seinen Abscheu angesichts der modernen und weltweit monotonen Hochhausarchitektur zum Ausdruck gebracht: der 11. September, auch verstanden als ästhetische Kritik an der Unwirtlichkeit unserer Städte.
Wer sich aus den Scheinplausibilitäten des antikolonialistischen Deutungsmusters befreien will, gerät leicht in den Verdacht, einfach zur anderen Seite übergewechselt zu sein, sich aus der Pflicht der Sozialwissenschaften, auch Fremdes zu verstehen, zu verabschieden und die Ferienwonnen unterkomplexen Denkens und simpler Feinderklärungen zu genießen. Das ist vermutlich nicht zu ändern, denn es ist so, dass die kolonialistische Deutung – wenn auch nicht aus Einsicht, sondern aus Ignoranz – einer Dimension der Gewalt vom Typus 11. September näher kommt als die antikolonialistische: dass es dabei nicht viel zu verstehen gibt. Das muss erläutert werden; selbstverständlich.
Wenn, wie gesagt, Motive, Absichten und Zwecke keine Handlungsbestandteile, sondern Zuschreibungen sind, die zu unserer Praxis des Handlungsverstehens gehören, so heißt das unter anderem, dass einer Handlung mehr als eine Absicht zugeschrieben werden kann (ohne dass über wahr oder falsch entschieden werden muss), dass jemand retrospektiv sagen kann, er habe sich über seine eigenen Absichten getäuscht (was ihm im einen Gesprächskontext als plausible Selbstzuschreibung vorgekommen ist, mag ihm im anderen nicht mehr so erscheinen), scheint es aber unmöglich zu machen, bestimmte Zuschreibungen ganz auszuschließen. Das wäre indes ein konstruktivistisches Missverständnis. Nicht zuletzt die Gerichtspraxis zeigt, dass Selbstzuschreibungen („Ich habe doch nur das-und-das gewollt …“) als „unglaubwürdig“ abgetan werden können. Zu verstehen sind solche Urteile nicht als Behauptungen, man habe einem anderen in die Seele geschaut, sondern als Unterstellung, der Angeklagte würde in einem anderen Kontext als dem des Gerichts über seine Tat anders Auskunft geben. Und entsprechend ist es von Belang, ob eine bestimmte Zuschreibung von Absichten auch im Diskurs einer Gruppe, die Handlungen vorbereitet oder legitimiert, eine Rolle spielen oder nicht.
NUN spricht alles, was wir über die Gruppen wissen, aus denen die schlagzeilenträchtigen Terrorhandlungen kommen, dafür, dass jene Legitimationsdiskurse, die über ihre Aktivitäten geführt werden und aus denen sich u. a. unsere antikolonialistischen Deutungen bedienen, für die Akteure selbst keine Rolle spielen. Aus den Interviews, die Mark Juergensmeyer mit Vertretern terroristischer Gruppen im Nahen Osten, in Indien, den USA und Japan geführt hat,9 geht hervor, dass diese Gruppen im Wesentlichen dasselbe Weltbild haben: Sie sehen sich alle in einem apokalyptischen Kampf zwischen den durch sie selbst repräsentierten Kräften des Guten und den Kräften des Bösen – welcher Art die sind, wird noch genauer anzusehen sein. Auf einen knappen Nenner gebracht, werden diese Gruppen durch ein paranoides Weltbild zusammengehalten – die Welt gegen uns –, das ihnen zu einer extremen narzisstischen Aufwertung verhilft. Das Selbstmordattentat ist die extremste Form, in die diese Befindlichkeit sich steigern und eine infantile Komplementärerregung hervorrufen kann: Allmacht in der maximalen Destruktion des Anderen. Die terroristischen Akte solcher Gruppen sind keine Handlungen, bei denen wir uns darüber verständigen könnten, wie ihre Komponenten nach Absichten, Zwecken und Mitteln sortiert und so nach unseren Konventionen verständlich gemacht werden könnten. Sie sind Ausdrucksweisen einer Lebensform.
Das klingt ungewohnter als es ist. Tatsächlich scheint es sich dabei um das Ergebnis einer Transformation zu handeln, die manche Gruppierungen, die einmal den Kampf als einzige Lebensform, die zählt, gewählt haben, durchmachen. Das uns geografisch und kulturell nächste Beispiel ist die „Rote Armee Fraktion“ gewesen. Wie aus den veröffentlichten Kassibern aus der Haftanstalt Stuttgart-Stammheim zu ersehen ist, ist der wichtigste Gegenstand der Korrespondenz die Thematisierung dieser Transformation selbst. – Ich zitiere aus Kassibern von Jan-Carl Raspe, Holger Meins und Gudrun Ensslin: „für die erste entscheidung [hat] nicht die erfahrung den ausschlag gegeben, sondern dann doch eher erkenntnis/notwendigkeit, mit der die erfahrung eben erst im prozess der proletarisierung in übereinstimmung kommt. Wenn du auf der ebene der sinnlichen erfahrung eher angreifbar bist […] verlierst du auch den prozess aus dem auge, der nicht stoppt, sondern im gegenteil in seiner entwicklung ne neue ebene erreicht: auf der es eben keine alternative mehr gibt – wie das vielleicht noch am anfang der fall war und wo dann ne entscheidung stand. Es ist da nirgends mehr ne frage der entscheidung; denn die ‚alternative‘ ist die völlige selbstaufgabe/vernichtung (der person gegenüber sich selbst) bzw gegenüber dem kollektiv: der verrat.10 – entweder mensch oder schwein / entweder überleben um jeden preis oder / kampf bis zum tod / entweder problem oder lösung / dazwischen gibt es nichts11 – der körper, der die waffe ist, ist das kollektiv, einheit. sonst nix. […] DAS MUSS JEDER TICKEN12 “ – „Sonst nix“ ist die Formel, auf die die Litanei geht. Dort, wo ein psychischer Zustand hergestellt ist, der das Denken (und Empfinden) in Alternativen nicht mehr kennt, wird die Frage nach dem Warum sinnlos. Die Dimension der Entscheidung, der Wahl, der Zwecksetzungen, kurz: des Auch-anders-Könnens ist abgeschafft.
Womit wir wieder bei Caliban wären und dessen Charakterisierung durch Rolf Vollmann, der behauptete, dass „Caliban falsch verstanden würde, reihte man ihn in die Gruppe derer ein, die zu verstehen man genötigt ist.“ Das eben ist das Irritierende, das spezifisch Fremde an Caliban. Das eben erlaubt auch nicht, ihn in einer Weise zu inszenieren, die ihn politisch kontextualisiert. Caliban kann nur verstanden werden, wenn man seine Destruktivität als seine Lebensform versteht. Von den mir bekannten Deutungen Calibans ist die von Leo Löwenthal dem am nächsten gekommen. Er hat ihn in Analogie zu den Modernisierungsverlierern des 18. Jahrhunderts, die Webstühle zerschlugen13 , aber mehr noch zu den „modernen, entwurzelten und haltlosen Halbwüchsigen“ verstanden, die „auf der Suche nach einem Führer“ sind – „Sei mein Gott!“ sagt Caliban zu einem der Schiffbrüchigen – „und als notwendige Kompensation für“ ihre „Unterwerfung unter die Autorität sinnlose Grausamkeiten“ begehen14 . An anderem Ort versteht ihn Löwenthal explizit transhistorisch, als Verkörperung eines Destruktionspotenzials, mit dem allenthalben zu rechnen sei.15 Die Charakterisierung Calibans als Bücherverbrenner – „burn but his books!“ – hätte genauso auf die Taliban Anwendung finden können – aber eben auch auf „RAF“ oder die Aum-Sekte.
Denn gemeinsam ist allen diesen Vereinigungen von Terrorkriegern – schon aus Gründen des Selbsterhalts als paranoider Gruppe – der Hass auf alles, was Differenzierung bedeutet, und damit auf die viel beschrieene Moderne. Was sie an der Globalisierung hassen, ist nicht die von den Vertretern des antikolonialistischen Deutungsmusters beklagte Uniformierung der Welt (Stichwort: „McWorld“), sondern im Gegenteil: ihre zunehmende Vielfalt. Dass Kulturen zu kulturellen Angeboten werden, dass kollektive Verbindlichkeiten zu individuellen Lebensstilen werden (oder auch nicht), ist es, was ihren Hass auf sich zieht. Dass diese Gruppen (manche ihrer Mitglieder, wohl kaum je die Chefs) sich zuweilen aus sozialen Verlierern oder sich selbst chancenlos Wähnenden rekrutieren,16 heißt noch nicht, dass darin die Pointe ihres Zusammenhalts und Ressentiments besteht. Es dürfte vielmehr in der Entscheidung für eine andere Lebensform liegen. So, wie Sebastian Haffner erkannte, dass Kameradschaft etwas ist für solche, die vom bürgerlichen Leben und dessen Individualisierungsanforderungen überfordert sind, wie Hannah Arendt die „Menschlichkeit der Erniedrigten und Beleidigten“, anderswo „Solidarität“ genannt, als Tugend für den Ausnahmezustand definierte, die diesen nicht überlebt – oder, wie hinzuzufügen wäre, diesen, um sich zu erhalten, real oder in der Phantasie immer wieder herstellen muss, so zeigt, was wir von solchen Gruppen wissen, immer wieder das eine: ihre Wahrnehmung der Welt schrumpft ein auf das, was in ihr reale oder vermeintliche Bedrohung der Undifferenziertheit einer Lebensform ist, die ersehnt und die nicht als Wahl verstanden wird, sondern als moralisch aufgeladene Alternative: das wahre Leben im falschen. Auf solche Bedrohung kann die Gruppe mit dem Versuch reagieren, das letzte Gefecht durch einen Giftgasangriff in der U-Bahn von Tokio oder die Zerstörung der Twin Towers herbeizuführen, und/oder sich im Tode, der finalen Undifferenziertheit, wiederzufinden: als Selbstmordattentäter oder Selbstmörder in Stuttgart-Stammheim oder dem Urwald von Guayana. – Das ist mit dem Satz gemeint, es gebe im Falle dieser Terrorkrieger „nicht viel zu verstehen“ – insofern eben „verstehen“ bedeutet, mit ihnen in einen potenziellen Dialog über ihre Handlungen einzutreten. Da es aber nicht um Handlungen in diesem Sinne, sondern um das aggressive Herstellen und Verteidigen von Befindlichkeiten geht, ist das eben nicht möglich.
Solche Gruppen von Terrorkriegern sind nicht an ein kulturelles Umfeld gebunden. Allerdings findet man sie in unterschiedlichen Umfeldern. Die Jones-Sekte bestand aus einem charismatischen Wahnsinnigen und einer begrenzten Gefolgschaft von Wahnsinnigen, und die Chance bestand nie, dass sie in den USA ein politischer Faktor wurden. Das lag nicht an ihnen – in einem anderen Umfeld mit einem anderen Krisenprofil hätte Jones vermutlich das Zeug zu einem Knipperdollinck gehabt. Anders ist es, wie wir wissen, in Ländern, die zunehmend von einem radikalen Islam geprägt sind. Dieser bildet für Gruppen von Terrorkriegern, ähnlich wie die extreme Linke der Bundesrepublik der Siebzigerjahre, ein Umfeld, das zweierlei leistet: erstens Rekrutierungen, zweitens Legitimationen. Beides läuft, so meine nicht mehr überraschende These, nicht über das Werben für bestimmte politische Ziele. Die Rekrutierungen werden über die Mobilisierung von Vergemeinschaftungswünschen erreicht, die peu à peu durch Verengung der Umweltwahrnehmung befriedigt werden – auch hier ist das Beispiel der „RAF“ lehrreich: die Anti-Folter-Komitees waren schon der größere Familienverband, in dem – auch bei öffentlichen Veranstaltungen – penetrant nicht von Baader und Ensslin, sondern von „Andreas“ und „Gudrun“ die Rede war; („Holger, der Kampf geht weiter!“). Die Legitimierungen erfolgen durch die Situierung der Terrorakte in Kontexten, mit denen sie – im oben ausgeführten Sinne – nichts zu tun haben, die ihnen manchmal geradezu entgegengesetzt sind, wie etwa der „Friedensprozess im Nahen Osten“. Ich habe solche Legitimierungskontexte „Familiarisierungsstrategien“ genannt, d. h. kommunikative Strategien, die dazu da sind, Menschen dazu zu bringen, anzunehmen, die Terrorkrieger würden irgendwelche Ziele verfolgen, die man selber auch – bloß mit anderen Mitteln – verfolge. Erfolgreiche Familiarisierungsstrategien haben sowohl profunde Realitätsverkennungen zur Konsequenz als auch – und das möchte noch gravierender sein – eine Desensibilisierung für den Zusammenhang von Zweck und Mitteln. Dialektik, hat Adorno einmal geschrieben, bedeute unter anderem, dass Zwecke nicht unempfindlich gegen die Mittel seien. Wenn ich erst mal dazu komme, zu meinen, ein Vortrag über den Problemzusammenhang von nationaler Arbeitslosenversicherung und internationalen Kapitalmärkten sei ebenso unter dem Rubrum der Globalisierungskritik zu verbuchen wie der Anschlag auf das World Trade Center, habe sich nur eben anderer Mittel bedient, dann habe ich nicht nur Tatsachen verkannt, sondern meine Fähigkeit zur Orientierung in der Welt gründlich lädiert. – Und hier liegt der eigentlich problematische Punkt. So besehen, ist der Vorwurf, der von Seiten der Vertreter der kolonialistischen den Vertretern der antikolonialistischen Deutung gemacht wird: ihre Erklärungsversuche seien doch eigentlich Rechtfertigungen, nicht ganz verkehrt. Das antikolonialistische Deutungsmodell ist das Resultat einer erfolgreichen Familiarisierungsstrategie.
Das macht natürlich das kolonialistische Deutungsmodell nicht richtig. Man muss sich von beiden frei machen. Sonst ergeht es einem wie denjenigen, die die Anschläge auf die Twin Towers „feige“ nannten und sich von Susan Sontag anhören mussten: „Feige waren sie nicht.“ Derjenige, der sich in einer Diskothek in die Luft sprengt, ist weder feige noch nicht feige. Er lebt und stirbt nur so, wie er es möchte.
Dieser Text erscheintnur in der deutschsprachigen Ausgabe.
* Gründer und Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Literaturwissenschaftler, Essayist. Zuletzt erschien: „Die Gewalt spricht nicht“, Stuttgart 2002. Die vollständige Fassung der Rede erscheint in: Jutta Allmendinger (Hg.): „Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig“, Leske & Budrich 2003.