13.12.2002

Kuschen, schwitzen, Punkte sammeln

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Kuschen, schwitzen, Punkte sammeln

DIE irakische Baath-Partei ist Vollzugsinstrument der Macht von Präsident Saddam Hussein. Ob Universitätsprofessor oder Ladenbesitzer – an der Partei kommt im Irak niemand vorbei. Ihre Mittel sind subtile Manipulation, ein fein austariertes System aus Karrierehilfen, sozialer Repression und Belohnung für gefügiges Verhalten. Mitglied zu werden ist nicht einfach, doch es zahlt sich aus. Die Iraker mögen diese Einheitspartei nicht, aber sie sträuben sich auch nicht lange, wenn eifrige Parteimitglieder für die Aufmärsche der „Jerusalem-Armee“ Leute rekrutieren. Wer aufgestiegen ist, darf sich in der Öffentlichkeit mit einer Waffe sehen lassen. Von DAVID BARAN *

Die Baath-Partei? Eine „Fassade“, ein „Nichts“, würden die meisten Iraker antworten. Sie ist im ganzen Land allgegenwärtig, doch der Mann auf der Straße mag sie nicht, auch wenn er kein Regimegegner ist. Unter anderem sorgt die Partei dafür, dass in jeder Amtsstube und noch im winzigsten Laden ein Porträt von Saddam Hussein hängt. Im Oktober 2000 brauchte sie nur anderthalb Monate, um eine Volksmiliz von sieben Millionen „Freiwilligen“ auf die Beine zu stellen. Tatsächlich aber war diese gewaltige Mobilisierung einer so genannten Befreiungsarmee für Jerusalem eher ein Zeichen für die wachsende Kluft zwischen Parolen und Realität – in der es kaum um Jerusalem gehen dürfte.

An der Geschichte der „Jerusalem-Armee“ lassen sich die immanenten Paradoxien der Baath-Partei leicht aufzeigen. Beschlossen wurde das Projekt auf allerhöchster Ebene: Präsident Saddam Hussein verfügte die Einrichtung militärischer Ausbildungslager für alle Iraker, die sich der palästinensischen Sache verschreiben wollten. Natürlich ging es nie darum, dass diese Leute in den Kampf ziehen sollten. Aber der Wunsch des gefürchteten und umschmeichelten Führers war Grund genug, etwas auf die Beine zu stellen, was dieser Vision Gestalt zu geben schien. Schon fünf Tage nach dem Treffen meldete die Partei mit der üblichen Präzision, dass sich in den Lagern 421 522 Männer und 127 179 Frauen eingefunden hätten. Zum Beweis wurden in den folgenden Monaten überall im Irak gewaltige Aufmärsche von „Freiwilligen“ inszeniert. In Bagdad dauerte die Parade, die an der Präsidententribüne vorbeizog, 13 Stunden.

Angesichts der endlosen Marschreihen frisch rekrutierter Bürger stellt sich die Frage, wie die Gleichschaltung solcher Massen funktioniert. Viel subtiler und lange nicht so brutal, wie es die Verfechter moderner Theorien der „orientalischen Despotie“ gern sehen. In Rahmen eines Zwangssystems, das mehr auf Einschüchterung denn auf direkter Gewalt beruht, fungiert die Baath-Partei als das wichtigste Lenkungsinstrument. Mit ihrer Hilfe kann das Regime tagtäglich einen mäßigen, aber konstanten Druck ausüben, der die in Gleichgültigkeit und Lethargie versunkene Bevölkerung auf Linie hält.

Für die Ausbildung der „Freiwilligen“ der Jerusalem-Armee wurden pensionierte Militärs angeheuert, denen die Gelegenheit, ihre mageren Bezüge aufzubessern, gerade recht kam. Schließlich hat das internationale Embargo gegen den Irak zur Verarmung aller Schichten geführt. Für die Baath-Aktivisten, die für die Rekrutierung der Jerusalem-Armee verantwortlich sind, bietet dies die Chance, auf der innerparteilichen Karriereleiter schneller voranzukommen. Allerdings müssen sie sich mächtig anstrengen, um die vorgegebenen Quoten zu erfüllen, weshalb sie zuweilen auch Leute einschreiben, die sie gar nicht gefragt haben.

Den Rekrutierten entstehen zunächst nur Nachteile. Der Dienst in der Jerusalem-Armee ist körperlich anstrengend, und Sold wird nicht gezahlt. Vor allem die Bauernfamilien trifft es hart, wenn sie jeden Sommer einen „Freiwilligen“ für zwei Monate zur Ausbildung schicken müssen, dessen Arbeitskraft zu Hause dringend gebraucht würde. Doch unmenschliche Rekrutierungsmethoden sind gar nicht nötig. Die Bauern wollen es sich ja mit der Partei nicht verderben, schließlich sind sie auf eine Reihe staatlicher Leistungen, wie etwa auf die Zuteilung von Saatgut, angewiesen. Kein Universitätslehrer braucht sich hier Hoffnungen auf einen Auslandsaufenthalt zu machen, wenn er nicht in der Jerusalem-Armee gedient hat. Und für die Studenten geht es um die Zulassung zu bestimmten Fächern oder darum, sich einen Bonus für die Prüfungen zu verschaffen. Zuweilen wird auch unmittelbar Druck ausgeübt. In den Wohnvierteln der Städte führen die Baathisten genau Buch über die Gemusterten, und wer sich nicht willig zeigt, kann die Werber als selbst ernannte Vollstrecker von Saddam Husseins Willen kennen lernen. Bei der Rekrutierung durch Mitglieder der lokalen Partei sind Verhaftungen, Folter oder Hinrichtungen gänzlich unnötig. Es genügt ein Katalog von differenzierten Maßnahmen, wie leise Drohungen, dosierte Sanktionen und kleine Privilegien.

Wenn nötig, kann die Baath-Partei auch zu härteren Mitteln greifen. Sie unterhält eine eigene Miliz für Bestrafungsaktionen. Doch in der Regel scheren sich die Aktivisten nicht um die besonders hartnäckigen Verweigerer unter ihren Nachbarn und Arbeitskollegen; die gelten als „Kurdenspinner“, aber es sind wenige, und sie machen weiter keinen Ärger. Nur wer seine Ablehnung besonders provokativ kundtut, muss mit Konsequenzen rechnen. Weil öffentlichen Angelegenheiten grundsätzlich den Segen der Partei benötigen, droht diese mit einer Art Exkommunikation: Wer in Ungnade gefallen ist, kann keine Wohnung mieten, kein Bankkonto führen und keine Lebensmittelrationen beziehen. Und im Nu wird er sich auf der Straße wiederfinden, ganz ohne dass irgendwer, geschweige denn die Partei, offen Gewalt angewandt hätte. Denn als Strafe droht – endgültiger und grausamer als jede Polizeiaktion – der soziale Tod.

Offensichtlich ist die Jerusalem-Armee eine Zirkustruppe, ihren Zwangsrekruten steht keineswegs der Sinn danach, gegen den „zionistischen Feind“ ins Feld zu ziehen und bestimmt auch nicht gegen die Amerikaner. Also auch bloß eine „Fassade“, ein „Nichts“, wie manche Iraker meinen? Immerhin sind in den Ausbildungscamps einige hunderttausend Menschen versammelt – sie müssen rennen und schwitzen, ganz real. Was immer sie dabei denken, sie haben nicht gegen die Unterdrückung aufbegehrt. Der Baath-Partei geht es nicht um eine tatsächliche ideologische Mobilmachung. Sie begnügt sich mit dem pragmatischen und passiven Einverständnis einer ernüchterten, stark eingeschüchterten Bevölkerung.

Demselben Zweck dient auch die innere Struktur der Partei mit ihrer weit verzweigten Hierarchie. An der Basis treffen sich einmal wöchentlich die Aktivisten, vielleicht ein Dutzend Leute aus derselben Straße oder demselben Betrieb, die eine Zelle oder einen Zirkel bilden. Man diskutiert über Tagesereignisse oder betet die gängigen Parolen der Partei und des Regimes herunter oder nimmt allgemeine Instruktionen entgegen. Der Leiter der Zelle erkundigt sich, welche besonderen Vorkommnisse es unter der Woche gab, und notiert sie für die regelmäßigen Berichte. Mehrere Zellen der Partei – auf der Ebene eines Viertels, einer Kommunalverwaltung oder eines Betriebs – bilden eine Abteilung; über der Abteilungsebene gibt es die Sektionen und darüber die lokalen Sparten, die eine Großstadt oder ein Gouvernement umfassen.1

IM Unterschied zu den Zellen besitzen die Sektionen und Sparten einige wichtige Vollmachten. Sie können etwa unter Umgehung der Justiz Verdächtige verhaften. Vor allem außerhalb von Bagdad nehmen sie auch typische Polizeiaufgaben wahr und unterhalten verschiedene Spezialabteilungen, etwa für Landwirtschaft oder für kulturelle Angelegenheiten. In jedem Gouvernement gibt es ein „Oberkommando der Organisationen“, dem alle Parteieinrichtungen unterstehen und das sogar der klassischen staatlichen Verwaltung übergeordnet ist. Die Baath-Partei ist damit eine Konkurrenzorganisation zum Staatsapparat, dessen Struktur sie spiegelt und den sie zugleich infiltriert.

An der Spitze dieser Herrschaftspyramide steht das „Regionalkommando“2 , das auf den Parteitagen formal demokratisch gewählt wird. Doch praktisch wird dabei nur eine von Saddam Hussein verfügte Kandidatenliste abgesegnet. Exekutivorgane des Regionalkommandos sind die „Büros“, die ähnliche Kompetenzen wie Ministerien haben und für militärische und kulturelle Angelegenheiten zuständig sind. Insgesamt entscheidet die Parteiführung über die Angelegenheiten großer Teile der Bevölkerung.

Innerhalb der Armee, die ausschließlich Baathisten in ihren Reihen duldet, sorgt ein Netzwerk von Zellen unter Aufsicht des Büros für Militärangelegenheiten dafür, dass keine abweichenden Meinungen aufkommen. Auch in der Partei selbst wachen Geheimdienste über die Loyalität und Linientreue der Mitglieder.

Während die politische Polizei einen Überwachungsapparat unterhält, verlässt sich die Partei ganz auf die Mitwirkung der Bevölkerung. Wer ihr beitreten will, durchläuft ein langwieriges Stufenprogramm. Als einfacher Sympathisant muss man nur alle zwei Wochen an einer ideologischen Unterweisung teilnehmen. Die nächsthöheren Ränge „Anhänger“ und „fortgeschrittener Anhänger“ schließen bereits die symbolische Verpflichtung ein, für die Ziele der Partei mit Waffengewalt einzutreten. Um von einem Rang in den nächsten aufzurücken, muss man eine Prüfung in Parteiideologie durchlaufen, zudem sind Wartefristen vorgesehen. Streng genommen dauert es fast sechs Jahre, vom Sympathisanten zum Kandidatenstatus und schließlich zur Vollmitgliedschaft aufzusteigen.

Der Baathist erlangt im Verlauf seines Aufstiegs in der Hierarchie gewisse Vorrechte und Vergünstigungen. Als Mitglied einer Sektion stehen ihm etwa 250 Dollar im Monat zu. Das ist unter den Bedingungen des Embargos eine stolze Summe, die angesichts der wachsenden Ungleichheit in der Gesellschaft auch ein gehobenes Sozialprestige bedeutet. Die Generalsekretäre der Sparten verdienen 750 Dollar monatlich, im Jahr 2002 bekam jeder von ihnen ein Luxusauto. Dagegen sind die Aktivisten der unteren Ränge gehalten, die Dreckarbeit für die Partei zu machen. Sie haben Abweichler aufzuspüren und sich an Strafaktionen der Sicherheitskräfte zu beteiligen, was natürlich Neid, Verachtung und Hass zur Folge hat.

Der Leiter einer Parteizelle hat kein materielles Interesse daran, seine kleinen Genossen zu schurigeln. Aber er kann durchaus, um schneller aufzusteigen, ab und an ein neues Mitglied einkaufen: Für Dollar oder ein paar CDs ist mancher Gymnasiast bereit, sich zum Sympathisanten küren zu lassen. Wer Sympathisant ist, verpflichtet sich, alle zwei Wochen an einer Sitzung teilzunehmen, von der man sich allerdings mit einer kleinen Zuwendung an den Zellenleiter auch freikaufen kann.

Auf solche Methoden lassen sich unter dem Druck der schwierigen Lebensbedingungen viele Menschen ein. Weit verbreitet ist insbesondere die Praxis, durch den Parteieintritt fünf Bonuspunkte für das Abitur der Kinder zu sichern. Wie viele Punkte ein Gymnasiast bei der Abschlussprüfung erzielt, entscheidet darüber, welches Studienfach er wählen kann. Um einen der besonders begehrten Studienplätze an der medizinischen Fakultät in Bagdad zu erhalten, braucht man so viele Punkte, dass sich Schüler aus Familien, die nicht der Partei angehören, gar keine Hoffnungen zu machen brauchen.

Auch viele Bewohner des traditionell sehr regimefeindlichen schiitischen Südens sind inzwischen aus pragmatischen Erwägungen in die Partei eingetreten. Wenn es so weit ist, werden sie die Parteibüros niederbrennen, aber bis dahin werden sie sich arrangieren. Für gute Taten wie etwa den Eintritt in die Jerusalem-Armee erhält man eine Auszeichnung, und wer zwei davon besitzt, darf der Vereinigung der Freunde des Präsidenten beitreten. Damit kommt man wiederum zu finanziellen Beihilfen und zu den besagten fünf Extrapunkten für die Kinder beim Abitur. Dieses Prinzip kumulativer Begünstigungen setzt sich fort bei der Aufnahme in andere Einrichtungen der Partei wie etwa in den Studentenverband oder in den Nationalen Frauenverband.

Wer ein bisschen Macht erhaschen will, kommt an der Baath-Partei nicht vorbei. Mit ihrer Hilfe kann man Nachbarn, Lehrern oder Kollegen Angst einjagen, vielleicht sogar dem Vorgesetzten, falls er in der Parteihierarchie weiter unten steht. Oder man kann einen Ladenbesitzer einschüchtern, der es versäumt hat, ein Saddam-Hussein-Porträt aufzuhängen, und wer ein wenig aufgestiegen ist, darf sich in der Öffentlichkeit mit einer Waffe sehen lassen.Aus derart kleinen Schwächen und Gemeinheiten, aus dem billigen Kalkül zum eigenen Vorteil bezieht die Baath-Partei ihre eigentliche Stärke. Auf dieser Basis hat sie einen Machtapparat von scheußlicher Wirksamkeit errichtet, die auf einem veritablen Paradox beruht: Mittels einer erzwungenen und zugleich oberflächlichen Rekrutierung ist es gelungen, die Bevölkerung zu beschwichtigen und zu entpolitisieren – was wohl genau so angestrebt war.

Im Irak trat die Baath-Partei erstmals 1950 in Erscheinung, als eine militante politische Bewegung von Anhängern des panarabischen Nationalismus. Ihr fortschrittliches und laizistisches Programm fand zunehmend Anhänger unter Studenten und kleinen Gewerbetreibenden und in der Armee. Beim Staatsstreich am 17. Juli 1968, der die bis heute herrschenden Machtstrukturen etablierte, spielte sie eine entscheidende Rolle. Unter dem gegenwärtigen Regime verkam sie zu einem beliebig einsetzbaren und formbaren Machtinstrument.

Präsident Saddam Hussein hat aus der Baath-Partei eine Art zweiter Exekutive gemacht, eine staatliche Parallelstruktur, die häufig die Schwächen des Staatsapparats kompensiert. Trotz all seiner Wandlungen hält das Regime zynisch an einer völlig abgenutzten Ideologie fest, an hohlen Parolen, die niemand mehr ernst nimmt, die aber allen gestatten, das Gesicht zu wahren.

Die geheiligten Grundsätze können in der Praxis ohne weiteres verletzt werden. Obwohl die Partei offiziell im Geiste des Sozialismus gegen allen religiösen Obskurantismus antritt, begeht das Regime den Geburtstag des Propheten mit offiziellen Feierlichkeiten. Der Gipfel der Ironie: Die laizistische Baath-Partei hat ihren Gründervater Michel Aflak, einen Syrer aus christlich-orthodoxer Familie, bei seinem Ableben in „Ahmed“ umgetauft und ihm ein muslimisches Staatsbegräbnis bereitet.

Was also ist die Baath-Partei? Ein riesiges Geflecht aus Überheblichkeit, Heuchelei, Selbstverleugnung und Furcht. Sie hat es geschafft, Millionen von „Freiwilligen“ aufzubieten, um eine Art gekonnte Parodie der Befreiung Palästinas zu inszenieren. Aber sie dürfte Mühe haben, unter den 20 Millionen Einwohnern auch nur 10 000 Leute zusammenbringen, die sich der US-Armee wirklich entgegenstellen wollen.

dt. Edgar Peinelt

* Journalist, Ottawa.

Fußnoten: 1 Der Irak gliedert sich in 18 Gouvernements, von denen drei – mit überwiegend kurdischer Bevölkerung – derzeit autonomen Status besitzen. 2 Die panarabische baathistische Ideologie sieht den Irak als eine „Region“ der arabischen Nation.

Le Monde diplomatique vom 13.12.2002, von DAVID BARAN