Blogbeitrag: Griechische Wutbürger

Brand im Flüchtlingslager Moria, Lesbos, 19. September 2016. © ap/Michael Schwarz  

Wutbürger in Lesbos und anderswo

Aus Anlass der Ereignisse um das Auffanglager Moria

Die Situation der Geflüchteten in Griechenland wird immer prekärer, zumal der Winter naht. Das liegt zum einen an dem Versagen der EU-Staaten, die keine der vor einem Jahr beschlossenen Maßnahmen auch nur ansatzweise umgesetzt haben, zum anderen an den gesellschaftlichen Spannungen und politischen Konflikten in Griechenland, die sich seit dem Sommer verschärft haben. Und das nicht nur in den Gebieten, in denen die meisten Migranten hängen geblieben sind, sondern im ganzen Land.

In Lesbos offenbar sich das Versagen der EU

Beide Entwicklungen hängen natürlich zusammen. Hintergrund für meine Darstellung der griechischen Verhältnisse ist deshalb das – absehbare oder gar beabsichtigte – Scheitern des „Rückführungskonzepts“, das die EU mit der Türkei abgeschlossen hat. Dieses Programm sollte zum einen dafür sorgen, den Stau von Flüchtlingen auf den ostägäischen Inseln aufzulösen. Und es sollte zum anderen die vielen Tausend Syrer, Iraker und Afghanen, die es bis zur türkischen Küste geschafft haben, vor der gefährlichen Überfahrt nach Kos, Samos, Leros und Chios, vor allem aber noch Lesbos abschrecken.

Von diesen beiden Zielen wurde nur das zweite „erfolgreich“ umgesetzt. Tatsächlich ist die Zahl der auf griechisches Territorium übergesetzten Flüchtlinge in den Sommermonaten drastisch gesunken. Das liegt allerdings in erster Linie daran, dass die Totalsperrung der „Balkanroute“  sich auch an der türkischen Küste herumgesprochen hat. Nicht erfüllt wurde das zweite Ziel: die Insassen der überfüllten Lager auf den ostägäischen Inseln in die Türkei zurückzuschicken oder innerhalb der EU weiterzuleiten. Das scheiterte zum einen an der Weigerung fast aller EU-Länder, auch nur einen Bruchteil der Flüchtlingskontingente aufzunehmen, die sie ursprünglich zugesagt hatten.(1) Zum anderen aber auch an der schleppenden Behandlung der Asylgesuche in den griechischen Hotspots, die mit EU-Hilfe errichtet und funktionsfähig gemacht werden sollten.

Auf Grund der Zusagen aus Brüssel und Berlin hatte Griechenland im März ein Gesetz verabschiedet, das den Geflüchteten die Bearbeitung ihrer Asylanträge binnen 20 Tagen garantierte. Heute warten die Insassen der Lager in Moria und anderswo wochenlang auf einen Termin für die Abgabe ihrer Anträge. Und bis über ihr Ersuchen entschieden wird, kann es Monate dauern. Nach den neuesten Zahlen haben allein auf den ostägäischen Inseln rund 8500 Flüchtlinge einen Asylantrag eingereicht. Das dort eingesetzte Personal kann aber pro Tag lediglich 60 bis 70 Anträge bearbeiten. „Um die Aufgaben zu bewältigen, hätte man mehrere hundert Leute gebraucht“, sagt Christina Kalogirou, die Gouverneurin für die Region Nordägäis, „es sind aber weit weniger gekommen.“(Kathimerini, 18. September 2016).

Versagen als erfolgreiche Abschreckungsstrategie

Die EU-Partnerländer haben tatsächlich nur einen Bruchteil der 600 zugesagten Fachkräfte für die Bearbeitung der Asylsanträge abgestellt. Das mag auch an der Schwierigkeit liegen, die ausländischen Experten in die Abläufe zu integrieren, wie Gerhard Knaus, der „Erfinder“ des gesamten Konzepts behauptet.(2) Aber das mangelnde Engagement der EU-Partner enthüllt vor allem die unausgesprochene Logik, die dem ganzen Unternehmen zugrunde liegt. Knaus hat diese Logik in einem Interview mit der ZEIT auf den Punkt gebracht: „Manche in der EU hoffen wohl, dass die Menschen in Griechenland so schlechte Bedingungen vorfinden, dass das als Abschreckung reicht.“

Man kann es auch so formulieren: Bei der Einrichtung und Finanzierung von Hot-spots auf den griechischen Inseln handelt  es sich im Kern um eine Abschreckungsstrategie, die EU-Europa auf Kosten seines schwächsten Mitgliedsstaates betreibt.(3) Das sprechen allerdings nur wenige Politiker so klar aus, wie es Österreichs Außenminister Kurz schon im Juni getan hat: „Wer auf einer Insel wie Lesbos bleiben muss und keine Chance auf Asyl hat, wird eher bereit sein, freiwillig zurückzukehren, als jemand, der schon eine Wohnung in Wien oder Berlin bezogen hat.“

Zu Recht kritisiert Gerald Knaus: „Eine vermeintliche Lösung auf Kosten der Griechen käme einem mentalen Ausschluss Griechenlands aus der EU gleich und wäre der Todesstoß für die europäische Solidarität.“

So sieht man das auch in Griechenland. Deshalb wird es in Athen als handfeste Drohung empfunden, wenn  der deutsche Innenminister vorschlägt,  getreu der Dublin-II-Regeln die Flüchtlinge, die es über die Ägäis nach Mitteleuropa geschafft haben, wieder nach Griechenland zurückzuschicken.

Flüchtlings- und Touristenzahlen

Dies ist der Hintergrund, vor dem die Zuspitzung der Flüchtlingskrise in Chios, Lesbos, aber auch auf dem griechischen Festland zu interpretieren ist. Heute befinden sich auf griechischem Boden mehr als 60.000 Flüchtlinge, die derzeit keinerlei Chance haben, auf legalem Weg in andere EU-Länder zu gelangen. Für die Inseln bedeutet dies, dass die Überfüllung der Hotspots zum Dauerzustand wird. In diesen „Auffang- und Antragslagern“ in der Ostägäis befinden sich derzeit mehr als 10.000 Flüchtlinge, obwohl die Kapazität für maximal 5.450 Personen ausgelegt ist.

Im Sommer war die Zahl zeitweise auf 3000 gesunken, aber in manchen Lagern waren die Zustände dennoch katastrophal. So haben viele Insassen im Hotspot von Chios ihre Asylanträge wieder zurückgezogen, um aus dem überfüllten und desorganisierten Camp zu entkommen. Speziell in Chios eskalierten auch die Proteste der lokalen Bevölkerung. Vor dem Lager Souda behinderten „empörte Bürger“ zeitweise sogar die Belieferung mit Lebensmitteln.

In Lesbos dagegen blieben solche Proteste lange aus, was auch an der besonnenen Haltung des Bürgermeisters Spyros Galinos lag. Aber auch auf dieser traditionell „fremdenfreundlichen“ Insel (4) hat sich im Lauf des Sommers eine Wut aufgestaut. Der Hauptgrund ist in dem dramatischen Rückgang der Touristenzahlen zu sehen. Insbesondere die Absage vieler Charterflüge hat unmittelbar damit zu tun, dass Lesbos über die internationalen Medien als Hotspot der Flüchtlingskrise bekannt wurde.

Bis Ende August sind auf der Insel 61 Prozent weniger ausländische Charter-Urlauber gelandet als im Vorjahr. Die Besitzer von Ferienanlagen beklagen eine um bis zu 80 Prozent verringerte Auslastung und sprechen von einem „schwarzen Sommer“. Hinzu kamen im Sommer weniger türkische Kurzurlauber, für die Lesbos ein beliebtes Ziel geworden ist.(5)

Die Tourismusindustrie von Lesbos rechnet für das ganze Jahr mit dem Verlust von knapp einer halben Million Übernachtungen, womit auch viele saisonale Arbeitsplätze verloren gehen. Die Lokalzeitung Lesbos News vom 5. August machte mit dem Titel auf: „Die Flüchtlingskrise ist die Grabplatte für den Tourismus – 70 Prozent weniger Touristen.“  Sechs Wochen später stand das Lager von Moria in Flammen. Aber die Zusammenhänge sind komplizierter. Welche Rolle lokale rechtsradikale Kräfte (unter Beteiligung der Neonazi-Partei Chrysi Avgi) bei der Eskalation gespielt haben, macht eine Reportage der Athener Tageszeitung Efimerida ton Syntakton (Zeitung der Redakteure) vom 20. September deutlich. Der Bericht von Giorgos Pagoudis wird im folgenden leicht gekürzt dokumentiert (die Erläuterungen in Klammern stammen von mir). Der Autor war Augenzeuge der Demonstrationen in der Stadt und in Moria, nicht aber der Ereignisse im Flüchtlingslager von Moria. Sein Text hat den Titel:

Das graue Schlangenei von Lesbos

Ein Gespenst geht um in Mytilene – früher oft als die „rote Insel“ bezeichnet. (Der Name der Hauptstadt ist als Bezeichnung für die ganze Insel Lesbos üblich). Das lange bebrütete Schlangenei hat kleine Monster hervorgebracht, die sich immer mehr ausbreiten.

Am letzten Sonntag und Montag hat ein eng verknüpftes Bündnis von Rechtsradikalen und Chrysi Avgi-Leuten die Spannungen angeheizt und Zusammenstöße provoziert, wobei sie  nach dem bewährten Muster von Chios im Gewand von „wütenden Bürgern“ auftraten. Sie attackierten Journalisten und Leute, die für ihre solidarische Haltung gegenüber Flüchtlingen bekannt sind. Und natürlich griffen sie auch den Bürgermeister Spyros Galinos an, den sie in der übelsten Gossensprache beschimpften.

Um ihr Ziel zu erreichen, setzten sie auf die altbekannte Taktik der Desinformation. Sie verbreiteten die Nachricht über eine angebliche Behinderung einer Zeremonie, die traditionell jeden Sonntag an der Platia Sapfous (Platz der Sappho) stattfindet, wo jeweils bei Sonnenuntergang die (griechische) Fahne eingeholt wird.

Unter Hinweis auf die Anordnung der Hafenbehörde, die diese Zeremonie am 11. September aus bislang unbekannten Gründen untersagt hatte, brachten sie die „Information“ in Umlauf, der Grund für die Absage sei eine Kundgebung von Flüchtlingen gewesen, die sich zur selben Stunde abgespielt habe.

Dies war eine offenkundige Lüge: Die einzige Ansammlung von Flüchtlingen in der Stadt hatte es tags zuvor, also am 10. September, gegeben, als eine kleine Gruppe in den Straßen aufgetaucht war, sich aber friedlich und innerhalb kürzester Zeit wieder aufgelöst hatte.

Aber das hinderte einige Leute nicht, die falsche Information über einschlägige Websites und soziale Netze zu verbreiten. Dieselben Kreise riefen dazu auf, sich am darauffolgenden Sonntag zur Zeremonie der Flaggeneinholung auf dem Sappho-Platz einzufinden. An diesem 18. September kam es zu Rangeleien und kleinen Zwischenfällen, weil sich auf dem Platz auch etwa 30 Personen eingefunden hatten, die entweder in der Flüchtlingssolidarität engagiert sind oder zum linksradikalen Lager gehören (auf griechisch: anti-exousiastiko, also gegen die Staatsmacht opponierend).

Der Marsch von Moria und die Rechtsradikalen

Größere Zusammenstöße wurden nur durch das Eingreifen der MAT (die paramilitärische Bereitschaftspolizei) verhindert, der es gelang, die beiden gegnerischen Kundgebungen auf Abstand zu halten. Wie nachträglich bekannt wurde, bedrohten die Chrysi Avgi-Leute dabei den Journalisten Stratis Balaskas, der als Korrespondent für die APE (die staatliche Nachrichtenagentur) arbeitet.
Die Rechtsradikalen schafften es auch, sich gestern (am 19. September) in den Protestmarsch der Einwohner von Moria einzuschleichen. Am Rande dieses Dorfes liegt bekanntlich der sogenannte Hotspot, wo mehr als 3.000 Flüchtlinge unter schlimmen Bedingungen „Gastfreundschaft genießen“.

Die Einwohner hatten, einer Resolution des Gemeinderats folgend, einen Protestmarsch beschlossen, um mehrere Forderungen zu unterstreichen: die „Entlastung“ (sprich Verkleinerung, NK) des Zentrums, den Schutz der Agrarproduktion und des Tierbestands des Dorfes, sowie die Instandsetzung des sehr mangelhaften Abwassernetzes des alten Kasernengeländes, das eine Gefahr für die Gesundheit und die Umwelt darstellt, weil die Abwässer über einen Fluss bei dem Touristendorf Panayiouda ins Meer gelangen.

Der Präsident des Gemeinderats Nikos Trakelis versuchte vergeblich, die Balance zu wahren, indem er vor dem Abmarsch in Richtung Hauptstadt auf die friedlichen Absichten der Dorfbewohner verwies und auch die antirassistische Einstellung der etwa 400 Teilnehmer betonte, die mit schwarzen Fahnen gekommen waren.

Die Chrysi Avgi-Leute hatten sich schon früh am Ende des Zuges eingereiht, versuchten aber von Anfang an, zusammen mit einer weiteren rechtsradikalen Gruppe, die Stimmung anzuheizen. Die allgemeine Empörung ausnutzend begannen sie ihre bekannten Hassparolen zu rufen: „Griechenland den Griechen – Orthodoxie“(gemeint ist die griechisch-orthodoxe Religion), oder „Schafft sie weg von Moria - auf die Schiffe“. Zudem gab es extreme Verunglimpfungen des Bürgermeisters (der Hauptstadt Mytilene): „Galinos, Verräter, nimm deinen Abschied.“

Vor dem Rathaus kam es dann zu Handgreiflichkeiten, als eine Gruppe von Chrysi-Avgi-Leuten und andere rechtsradikale Elemente vier Frauen angriffen, die einer von ihnen als „Solidaritätsweiber“ identifizierte. Eine der Frauen landete im Krankenhaus, nachdem sie von hinten einen Fusstritt abbekommen hatte. Bemerkenswert ist, dass die Attacke in Anwesenheit von Polizisten und der Hafenpolizei erfolgte, die nichts unternahmen, um sie zu verhindern.

Der Marsch ging weiter zur Provinzverwaltung, wo die Dorfbewohner ihre Resolution abgaben und endete – mit noch etwa 50 Leuten - vor dem Gebäude des Generalsekretariats für die Ägäis, wo Vertreter der Demonstranten ein Gespräch mit dem Amtsleiter führten.

Die „wahren Griechen“ von der Nea Dimokratia

Die propagandistische Arbeit hatte schon vor dem Marsch begonnen. Ein stadtbekannter Rechtsradikaler, der auch am Vortag an den Rangeleien wegen der Fahnenzeremonie beteiligt gewesen war, hatte seit dem frühen Morgen rund um den Hafen von Mytilene zur Beteiligung an dem Marsch (der Bewohner von Moria) aufgerufen. Dieser Mann war einer von denen, die später die vier Frauen attackiert haben.

Um dieselbe Zeit war es auf dem Lagergelände von Moria zu den ersten Zusammenstößen zwischen afghanischen und afrikanischen Flüchtlinge gekommen. Die Handgreiflichkeiten setzten sich bald auch außerhalb des Kasernengeländes fort, wobei einige der rebellierenden Flüchtlinge  an verschiedenen Punkten außerhalb des Hotspots Feuer legten. Die Feuerwehr musste mit vier Löschfahrzeugen eingreifen, um die Gefahr für die umliegende Gegend – mit ihren vielen Olivenbäumen – möglichst einzudämmen.

In dem Lager waren mittlerweile drei Züge der Bereitschaftspolizei eingetroffen, die unter Einsatz von Tränengas für Ordnung sorgen wollten. Zuvor hatte ein älterer Einwohner von Moria die Journalistin Anthi Pazianou von der lokalen Tageszeitung „Embros“ (Vorwärts) attackiert, als diese versuchte, drei Flüchtlingsfrauen und vier Kinder zu beschützen, die von demselben Mann angegriffen worden waren.
Bemerkenswert ist, dass inzwischen ein prominenter Politiker der Nea Dimokratia die Aktionen von Moria mit extrem nationalistischen Sprüchen gerechtfertigt hat. Charalambos Athanassiou, ND-Abgeordneter für Lesbos (und ehemaliger Justizminister in der Regierung Samaras), grüßte die Demonstranten mit folgenden Worten: „ …Ich unterstütze euren reinen Kampf zur Rettung von unserem Lesbos… Alle vereint im Kampf mit dem Ziel: Keine weiteren Hotspots in Lesbos, und sofortige Entlastung unserer Insel von den Migranten.“

Ähnliche Töne schlug auch die örtliche Parteiorganisation der Nea Dimokratia an, die sich die rechtsradikale Falschinformation über die Fahnen-Affäre zu eigen machte, indem sie erklärte: „Zum Glück haben sich Hunderte empörter Bürger von Mytilene, die seit vielen Jahren unsere Grenzen (zur Türkei, NK) bewachen, aus eigenem Antrieb am Kai versammelt, um die Zeremonie der Einholung unserer Fahne zu beschützen.

Eine notwendige Anmerkung: Was in dieser Reportage fehlt, ist der Ablauf der Ereignisse, die zu den Bränden innerhalb des Hotspots von Moria führten. Der Autor hat diese Tragödie nicht erlebt, aber in einem zweiten Text aufgeschrieben, was er in Erfahrung bringen konnte:


Der große Brand brach etwa um acht Uhr abends aus, als sich – nach ersten Informationen -  in dem Lager das Gerücht verbreitete, aufgrund der vorangegangenen Zwischenfälle werde es zu massenhaften Ausweisungen (der Flüchtlinge in die Türkei) kommen. Dieses Gerücht veranlasste eine Gruppe von Flüchtlingen, zu einem Protestmarsch in die Stadt aufzubrechen, was die Polizei ihnen aber verwehrte. Daraufhin gingen die Flüchtlinge zum Lagergelände zurück und zündeten einige Unterkünfte an. Dass diese Darstellung den Tatsachen entspricht, geht auch aus dem Augenzeugenbericht der Anwältin Ariel Ricker hervor, der auf ZEIT-online veröffentlicht wurde (http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-09/lesbos-feuer-moria-fluechtlingslager-ariel-ricker-augenzeuge).

Schulterschluss zwischen Rassisten und Patrioten

Der Bericht aus Lesbos macht auf anschauliche Weise klar, wie die Ängste von Dorfbewohnern, die sich von einem völlig überfüllten und schlecht organisierten Flüchtlingslager überfordert fühlen, durch politische Kräften manipuliert und ausgebeutet werden, deren Motive die ganze Bandbreite von konservativ bis rassistisch abdecken. Besonders bemerkenswert ist dabei der geschilderte Schulterschluss zwischen bekennenden Rechtsextremisten – etwa der Neonazi-Partei Chrysi Avgi – und dem nationalistischen Flügel der „gutbürgerlichen“ Nea Dimokratia.

Hier ist im Griechenland der Flüchtlingskrise eine „rechte Grauzone“ entstanden (auf die auch der Titel der Reportage anspielt). Dass sich solche Szenen, die in Kos schon seit letztem Jahr und in Chios seit diesem Sommer üblich geworden sind, nun auch auf der „roten Insel“ Lesbos abspielen, ist ein Alarmzeichen. Und das nicht nur für die griechische Regierung sondern auch für die Oppositionspartei Nea Dimokratia.

Der ND- Vorsitzende Kyriakos Mitsotakis, der sich als jugendlich-dynamischer Gegenspieler des „linken“ Tsipras inszeniert, will sich als „moderner“ Vertreter der konservativen Mitte beweisen, der rechtsradikale Tendenzen immer und überall bekämpft. Vor wenigen Tagen erklärte er vor der Presse, er werde Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der eigenen Partei nicht dulden (6) In Lesbos dagegen agieren örtliche ND-Größen, die nicht nur mit den Neonazis zusammenarbeiten, sondern selbst auf der rassistischen Klaviatur spielen.

In Mytilene ruft neuerdings Alexandros Koutsantonis, Ex-ND-Vorsitzender auf der Insel und enger Mitarbeiter des (oben zitierten) Ex-Justizministers Athanassiou, zur Gründung einer „Bürgerbewegung“ auf, die sich gegen „die Politik der Muselmanisierung von Lesbos“ wehren soll. Unter der Parole „Lesbos ist griechisch!“ heißt es in dem Aufruf wörtlich: „Wir sagen OCHI (Nein) zur dauerhaften Niederlassung von fünftausend Muslimen auf der Grenzinsel Lesbos; dies tun wir aus ausschließlich nationalen Gründen.“ (7)

Keine „Willkommensklassen“für Flüchtlingskinder

Wo immer sich in Griechenland aggressiver Widerstand gegen unerwünschte Flüchtlinge regt, ist ein ähnliches politisches Amalgam zu beobachten. Das lässt sich an zwei Beispielen aufzeigen, die in der letzten Woche landesweit Aufsehen erregt haben.

Der erste Fall ist der Konflikt um das Schulprogramm für Flüchtlingskinder in einem Vorort von Thessaloniki. In der 5. Grundschule von  Oreokastro wurde in einer außerordentlichen Elternversammlung eine Resolution verabschiedet, die einen offenen Widerstand gegen „Willkommensklassen“ für Flüchtlingskinder ankündigten. Der Unterricht für die Kinder – unter anderem Griechischstunden - soll am Nachmittag stattfinden, wenn die Klassenräume nicht anderweitig genutzt werden. Obwohl also der normale Schulbetrieb in keiner Weise beeinträchtigt wäre, kündigten die Eltern eine „Besetzung“ der Schule an, falls dort Flüchtlingskinder auftauchen sollten.

Die „Wuteltern“ versicherten vorsorglich, dass sie keinerlei rassistische Motive, sondern einzig und allein die Gesundheit ihrer Sprösslinge im Sinn haben: Die Flüchtlingskinder seien unerwünscht, weil es in ihrem Lager Malaria- und Hepathitis-Fälle gebe und die Kinder nicht geimpft seien. Dass Malaria keine ansteckende Krankheit ist, war für die Eltern ebenso unerheblich wie die Klarstellung des Erziehungsministers, dass die meisten Kinder bereits im Lager geimpft worden seien und vor dem Schulbesuch dasselbe Impfprogramm durchlaufen wie die griechischen Schüler.

Der Bürgermeister als Anstifter

Die Resolution von Oreokastro wurde von den meisten Medien heftig kritisiert, nach dem Motto: „Wehret den Anfängen“. Die Staatsanwaltschaft eröffnete inzwischen Ermittlungen gegen die Eltern und den Bürgermeister der Gemeinde, der die Resolution engagiert verteidigt hatte. Der Mann ist, wie sich herausgestellt hat, selbst der Urheber der Initiative. Eine „Dissidentin“ der Eltern von Oreokastro erklärte gegenüber der Kathimerini (vom 15. September): „Alles begann in einer Gemeinderatssitzung, als der Bürgermeister alle Elternvereinigungen aufforderte, Widerstand zu mobilisieren, weil die Flüchtlinge kommen. Und da er selbst Arzt ist und von Hepathitis und Tuberkulose sprach, und dass sie uns anstecken werden, bekamen die Leute Angst.“

Innerhalb von zwei Tagen berief der Vorsitzende der Elternvereinigung eine Versammlung ein, bei der er einen Text verteilte, in dem es hieß, die Flüchtlingskinder hätten ansteckende Krankheiten. Die Abstimmung endete mit 77 zu 5 Stimmen, aber die Zeugin glaubt, dass sie heute anders ausgehen würde: „Viele Eltern sagen mir, dass sie sich getäuscht fühlen. Wenn die Flüchtlingskinder geimpft sind, hätten sie keine Bedenken.“

Obwohl der Fall Oreokastro landesweit Aufsehen erregt hatte, brauchte die ND-Spitze mehrere Tage, um die Position der Elternvereinigung und des Bürgermeisters zu kritisieren. Mittlerweile kam es zu einem ähnlichen Fall in Westgriechenland. Auch in der Kleinstadt Philippiada (im Süden der Provinz Epirus) wehrt sich die Elternvertretung an einer der drei örtlichen Grundschulen gegen die Zumutung, dass Flüchtlingskinder am Nachmittag dieselben Klassenräume benutzen sollen wie vormittags die griechischen Kinder.

Vier Gefahren für die Kinder von Philippiada

Allerdings haben die Eltern von Philippiada eine längere Gefahrenliste aufgestellt. Ihre Argumente sind im Vergleich zu den Protesten von Oreokastro differenzierter, aber zugleich offenbaren sie ihre originäre Fremdenfeindlichkeit auch viel klarer: Im Bemühen, einen systematischen Katalog ihrer Vorbehalte vorzulegen, bekennen sie sich viel eindeutiger zu jenem traditionellen Nationalismus, der noch immer der ideologische Nährboden der griechischen Rechten ist.

Die Eltern von Philippiada gliedern ihren Einspruch in vier Kategorien (Originaltext in: Kathimerini vom 20. September 2016)

1. Gesundheitliche Bedenken: Die beschränken sich nicht auf die Impfproblematik; die Eltern verweisen darauf, dass die Kinder von „anderen Kontinenten“ mit ganz anderen Krankheitsmustern kommen und deshalb Epidemien einschleppen können, gegen die es in Griechenland keine Abwehrkräfte gibt. Zudem seien viele Kinder so schwer traumatisiert, dass es bei ihrer Integration große Probleme geben könnte. Angesichts all dessen wird gefragt: „Wer kann uns garantieren, dass die optimalen hygienischen Bedingungen gewahrt werden können, die für jede Schule erforderlich sind.“

2. Pädagogische Bedenken: Eine gemeinsame Erziehung mit griechischen Kindern sei nicht möglich, weil die fremden Wesen ganz andere Vorstellungen über Familie, die Rolle der Frauen und die Religion haben. Auch müsse man Angst haben, dass die größeren Migrantenkinder die kleineren griechischen Kinder einschüchtern und verprügeln. Der Hof und das Gelände der Schule werde am Nachmittag für sportliche und kulturelle Zwecke genutzt, etwa zum Üben traditioneller Volkstänze.

3. Religiöse Bedenken: Sie werden (in wörtlicher Übersetzung) wie folgt begründet: „100 Prozent unserer Schüler sind orthodoxe Christen. Wir begehen alle unsere religiösen Feiertage, wie es sich für jede griechische Schule gehört, die die Geschichte, die Kämpfe und die Opfer ihrer Nation achtet, aber auch die Geschichte und die Glaubensbekenntnisse anderer Völker. Wir werden keinen religiösen Fanatismus zulassen, der darauf aus ist – wie die fanatischen Angriffe in anderen europäischen Staaten zeigen –, unsere Religion nicht zu respektieren, sondern zu schwächen. Die Ikonen von Christus, der Muttergottes und unserer Heiligen, aber auch unserer (nationalen) Helden werden auch weiterhin unsere Klassenräume schmücken, und wir erwarten von allen Schülern, sie zu verehren.“

4. Kulturelle Bedenken:  Ein „ gewaltsames Verbringen“ von Migranten nach Philippiada werde (wiederum wörtlich) „wahrscheinlich Aspekte unserer Kultur verändern, etwa unserer Nationalen und Religiösen Identität, und das über ein suspektes Verfahren der Degradierung des Lebens- und Bildungsniveaus unserer Kinder, das wir unter vielen Entbehrungen erreicht haben. Kein Gefühl der Solidarität und Humanität kann es rechtfertigen, eine solche Demütigung hinzunehmen.“Die Formulierungen insbesondere unter Punkt 3 und 4 sprechen für sich. Sie dokumentieren in aller Reinheit und Naivität das traditionelle Bewusstein eines stolzen „Griechentums“, in dem religiöse und nationale Identität untrennbar verschmolzen sind. Es ist deshalb kein Zufall, dass der zitierte Gefahrenkatalog, der wie in Oreokastra vom Gemeindevorsteher formuliert wurde, den Eltern erstmals bei der „Weihung“ (Aiyasmos) der Schule vorgelegt wurde. Das ist eine religiöse Zeremonie im „staatlichen Raum“ des staatlichen Erziehungswesens, die obligatorisch zu Beginn des Schuljahrs vom örtlichen Popen vorgenommen wird.

Das von der konservativen Rechten jahrzehntelange gepflegte Idealbild des „echten“, weil orthodoxen und patriotischen Griechen ist in der griechischen Gesellschaft noch weit verbreitet und in weiten Teilen der Provinz nach wie vor dominant. In diesem kulturellen Milieu ist „das Fremde“ so unwillkommen wie in einer schwäbischen Kleinstadt vor 70 Jahren oder in einem mecklenburgischen Dorf bis heute.

Dieses Milieu ist zugleich das politische Feld, auf dem die traditionelle griechische Rechte mit der extremen, offen rassistischen Rechten konkurriert. Es ist aber zugleich eine Grauzone, in der Nea Dimokratia und Chrysi Avgi an einem Strang ziehen - wie eben an einigen Hotspots der Flüchtlingskrise.

Andere Reaktionen in Philippiada

Regionen wie Epiros sind allerdings heute nicht mehr nur „finstere Provinz“ wie vor fünfzig Jahren. Auch in Phillipiada gibt es Solidarität mit den Flüchtlingen, die in der Nähe der Gemeinde gestrandet sind. Ein Kreis von Philologen und Pädagogen der nahen Universität von Ioannina hat bereits jetzt ein Programm von Griechisch-Stunden für die schulpflichtigen Kinder des Flüchtlingslagers organisiert. Ein orthodoxer Priester, der selbst zehn Jahre als Migrant in Deutschland gelebt hat, tritt öffentlich dafür ein, dass alle Flüchtlingskinder eine Schulausbildung bekommen. Und er ermahnt seine Glaubensbrüder, sich bei religiösen Fragen „sensibel und klug“ zu verhalten und jeden „Extremismus“ zu vermeiden.(Kathimerini vom 20. September)

Wie reagiert die Regierung?

Die Regierung hat auf die Proteste von Oreokastro und Phillipiada entschieden und zugleich besonnen reagiert. Sie hat die örtlichen Behörden und die Eltern auf die Rechtslage hingewiesen und will Gesetzesverstöße (wie Schulbesetzungen) nicht tolerieren. Zugleich verspricht sie aber für die Zukunft eine frühere und bessere Kommunikation mit den Schulen und Elternvertretungen, um Fehlinformationen das Wasser abzugraben.

Eine ganz andere Frage ist die Mitverantwortung der Regierung und des zuständigen Vizeministers Mouzalas für die Zustände in den griechischen Flüchtlingslagern ganz allgemein. Amnesty International betont in ihrem letzten Report zwar den Anteil der EU an der Flüchtlingskrise auf griechischem Boden, wo „Tausende Menschen derzeit unter unmenschlichen Bedingungen leben“, stellt aber zugleich fest: „Die griechische Regierung , die für die Aufnahmebedingungen in ihrem Land verantwortlich ist, muss den dringendsten Bedürfnisse der aufgenommenen Menschen mit Hilfe der verfügbaren europäischen Gelder gerecht werden.“(8)

Dieser Verantwortung werden die griechische Regierung und die einheimische Bürokratie in keiner Weise gerecht, wie es in Griechenland engagierte NGOs schon seit langem beklagen; zuletzt in einem Brief an Mouzalas, den acht Organisationen unterschrieben haben, darunter Oxfam, Save the Children, und der dänische und norwegische Flüchtlingsrat (EfSyn vom 5. August 2016). Viele Beobachter sind sich darin einig, dass die Lage der Flüchtlinge in Griechenland ohne die Arbeit von NGOs noch viel dramatischer wäre als sie es schon ist.

Der Grund für den Zustand in den griechischen Hotspots und Aufnahmelagern ist nicht nur die ökonomische Krise, die auch von Amnesty International als große Herausforderung für das Land anerkannt wird. Es liegt auch an der von vielen Griechen beklagten Ineffektivität und Lethargie der Bürokratie, die bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise in ähnlicher Weise versagt wie bei anderen Aufgaben.

Kompetenzgerangel und Versagen der Bürokratie

Verschärft wird dieses allgemeine Problem durch groteske Kompetenz- und Konkurrenzprobleme im zuständigen Ministerium. Iannis Mouzalas, der für Migrationsfragen zuständige Minister, liegt seit Monaten in heftigem Streit mit seinem Generalsekretär Odysseas Voudoris.

Nachdem sich die beiden Männer seit Monaten nicht mehr unterhalten haben, trat Voudouris vor einigen Tagen entnervt zurück. In einer Pressekonferenz erläuterte er den Grund: Er könne  seine Aufgaben nicht erfüllen, weil ihn sein Vorgesetzer nie in die praktische Arbeit eingebunden habe. Dieser habe mit seinem persönlichen Stab ein „Parallelsystem“ eingerichtet, das nur auf mündlichen Anordnungen beruhte. Deshalb sei seit Monaten versäumt worden, Koordinatoren für die einzelnen Lager zu ernennen, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist. Voudouris nennt solche Versäumnisse als Grund für die beklagenswerten Lebensbedingungen der Flüchtlinge und für die Tatsache, dass von den EU-Geldern  für die Flüchtlingshilfe von griechischer Seite bisher erst 28 Prozent absorbiert wurden. (Kathimerini 23. September).

Zuvor hatte Voudouris in einem Interview (EfSyn vom  20. September) erklärt, von allen organisatorischen Maßnahmen, die das Parlament rechtzeitig im Frühjahr beschlossen hat, sei nicht eine einzige umgesetzt worden. Der zurückgetretene Generalsekretär beschloss seine Anklage mit der Feststellung: „Wenn es nicht die europäischen Gelder, die entscheidende Hilfe vom UNHCR und die vielen Freiwilligen gegeben hätte, wären wir bestimmt schon untergegangen.“
Diese Aussagen sind auch dann ernst zu nehmen, wenn dem Konflikt zwischen dem Minister und seinem Generalsekretär persönliche Rivalitäten zugrunde liegen. Auf keinen Fall kann sich die Regierung Tsipras mit den berechtigten Vorwürfen an die EU-Partner vor der Frage drücken, was der griechische Anteil an einer Flüchtlingskrise ist, die sich im bevorstehenden Winter zu einer humanitären Tragödie entwickeln könnte.
23. September 2016

Anmerkungen
1) Nicht einmal sechs Prozent der 66.400 Personen, die bis September 2017 „umverteilt“ werden sollen, siehe Amnesty International-Bericht vom 20. September.
2) (Der Leiter der in Istanbul ansässigen Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) erklärte dies gegenüber der Frankfurter Neuen Presse vom 15. August 2016: http://www.fnp.de/nachrichten/politik/bdquo-Scheitern-waere-eine-Katastrophe-ldquo;art673,2161747).
3) Siehe meinen Text: „Eine Krise zu viel“, auf diesem blog vom 28. März 2016.
4) Siehe „Eine Krise zu viel“, a.a.O.
5) Das liegt allerdings eher an der Abwertung der türkische Lira, die einen Urlaub in einem Euroland verteuert; Zahlen siehe: www.emprosnet.gr/article/86879-kerdizei-liga-apo-ligoys-toyristes-i-lesvos; http://www.capital.gr/story/3142320 )
6) Efimerida ton Syntakton (EfSyn) vom 20. September 2016.
7) Zitate aus der lokalen Tageszeitung Embros vom 13. und 16. September 2016.
8) Zitiert nach Kathimerini vom 20. September.




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