Die vorhersehbare Katastrophe
Der jüngste Krieg zwischen Israel und der Hamas ist beendet. Doch der zugrunde liegende Konflikt wird andauern, solange die palästinensische Bevölkerung nicht die vollen Rechte als Bürgerinnen und Bürger des israelischen oder eines eigenen Staats hat.
von Alain Gresh
In Palästina wiederholt sich die Geschichte – regelmäßig, unerbittlich und erbarmungslos. Und es ist jedes Mal dieselbe Tragödie; eine Tragödie, die vorhersehbar war, denn die Gegebenheiten vor Ort sind bekannt; überrascht können nur diejenigen sein, die das mediale Schweigen über die Situation als stilles Einverständnis der Opfer missverstehen.
Die Krise nimmt jedes Mal neue Formen an und beschreitet neue Wege, aber es läuft stets auf dieselben Tatsachen hinaus, an denen nicht zu rütteln ist: die seit Jahrzehnten andauernde israelische Besatzung, die Missachtung der Grundrechte der Palästinenser und das Bestreben, sie von ihrem eigenen Land zu vertreiben.
Vor langer Zeit, kurz nach dem Sechstagekrieg 1967, prophezeite der französische Präsident Charles de Gaulle bereits, was geschehen würde: „Israel installiert auf dem von ihm eingenommenen Territorium eine Besatzung, die nicht ohne Unterdrückung, Repression und Vertreibung vonstatten gehen kann. Den Widerstand, der sich dagegen formiert, wird Israel Terrorismus nennen.“1
Und anlässlich der Entführung eines israelischen Flugzeugs erklärte de Gaulle 1969, dass die Aktionen einer klandestinen Gruppe wie der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) nicht mit den „Repressalien“ eines Staats wie Israel gleichgesetzt werden könnten: 1968 hatte die israelische Armee die zivile Luftflotte des Libanon auf dem Flughafen von Beirut zerstört. Frankreich verhängte ein Embargo für jegliche Waffenverkäufe an Tel Aviv. Es war eine andere Zeit.
Das jüngste Kapitel der sich wiederholenden Katastrophe begann diesmal in Jerusalem. Brutal gingen israelische Sicherheitskräfte gegen die jungen Palästinenser vor, die sich im Ramadan allabendlich vor dem Damaskustor und auf dem Haram asch-Scharif, dem Tempelberg, zum Fastenbrechen trafen – Bilanz: über 300 Verletzte. Bei der Erstürmung des Tempelbergs setzten sie Tränengas und „Gummigeschosse“2 ein.
Im palästinensischen Viertel Skeikh Jarrah wurde die Enteignung von Häusern ganzer Familien geplant. Jüdische Rechtsextremisten, bestärkt durch ihren jüngsten Wahlsieg, zogen durch das Viertel und skandierten „Tod den Arabern“. Zahlreiche Stimmen in Israel prangerten hinterher die begangenen Fehler an – die Verletzung des heiligen Monats Ramadan, die Schändung der islamischen Heiligtümer, die Anwendung roher Gewalt.
Aber waren das wirklich nur Fehler? Es handelt sich eher um blinde Arroganz und Verachtung gegenüber Kolonisierten. Was muss eine Macht schon fürchten, die Mobiltelefone tracken, Drohnen benutzt kann, um die Bewegungen von Menschen in der Altstadt und ihrer Umgebung zu verfolgen, und auch noch hunderte Überwachungskameras einsetzt? Zudem stützt sich diese Macht auf tausende bewaffnete Polizisten zur Aufstandsbekämpfung und auf Wasserwerfer, die eine faulig stinkende Flüssigkeit namens „Skunk“ (Stinktier) – von den Palästinensern „Abwasser“ genannt – auf Passanten, Demonstranten, Autos, Häuser und Geschäfte versprühen.3
Allerdings hatte man wohl nicht mit der Entschlossenheit der jungen Leute in Jerusalem gerechnet, die sich auch ohne politische Organisation der Repression widersetzten. Eine weitere Überraschung war, dass sie dabei von ihren Brüdern und Schwestern in den palästinensischen Städten Israels unterstützt wurden, von Nazareth bis Umm al-Fahm. Damit zerbrach auch der Mythos von einem Staat, der alle Bürger gleich behandelt.
Folgt man den jüngst veröffentlichten Berichten der israelischen NGO B’Tselem und der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, ist diese Entwicklung allerdings keineswegs überraschend.4 Darin wird festgestellt, dass das Regierungssystem im gesamten ehemaligen Mandatsgebiet Palästina, also nicht nur in den besetzten Gebieten, ein Apartheidsystem im Sinne der Definition der Vereinten Nationen darstellt. Dessen Kern lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Auf ein und demselben Land leben – manchmal nur wenige Meter voneinander entfernt – zwei Bevölkerungsgruppen, die nicht die gleichen Rechte haben, nicht unter dieselbe Gerichtsbarkeit fallen und nicht gleich behandelt werden. Diese Ungleichheit erzeugt die gleichen Effekte wie in Südafrika vor dem Sturz des Apartheidregimes: Ungehorsam, Revolte, Aufruhr.
In den mehrheitlich palästinensischen Städten Israels leidet die Bevölkerung unter der Vernachlässigung durch den Staat, einer mangelnden Infrastruktur, der Weigerung der Behörden, gegen Kriminalität vorzugehen. In den gemischten Städten ist sie in überfüllte Stadtteile verbannt, verdrängt durch den Druck der jüdischen Kolonisation. Sie ist sich bewusst, dass das Ziel der israelischen Regierung darin besteht, alle „Nichtjuden“ loszuwerden.
Ein junger palästinensischer Israeli erklärte seine Solidarität mit Skeikh Jarrah so: „Das, was in Jerusalem geschieht, passiert genauso in Jaffa oder Haifa. Die arabische Bevölkerung Israels wird systematisch verdrängt. Wir haben den Siedepunkt erreicht. Keiner sorgt sich darum, ob wir hier weiter existieren können. Im Gegenteil: Wir sollen verschwinden.“5
In Lod, einer Stadt mit 75 000 Einwohnern, waren die Zusammenstöße zwischen jüdischen und palästinensischen Israelis – Letztere machen ein Viertel der Stadtbevölkerung aus – besonders heftig. Den Palästinensern von Lod ist immer noch die ethnische Säuberung von 1948 im Gedächtnis, als bewaffnete zionistische Gruppen 70 000 Palästinenser vertrieben.6 Dieselbe Logik ist heute am Werk, auch wenn sie in anderer Form auftritt: Die restlichen Palästinenser sollen ebenfalls vertrieben werden.
Die gerade im Bau befindlichen 8000 neuen Wohneinheiten sind für Juden reserviert. Und eine Baugenehmigung zu erhalten, ist hier für Palästinenser quasi unmöglich, ebenso wie in Jerusalem oder im Westjordanland. Die Tatsache, dass sie israelische Staatsbürger sind, ändert daran nichts.
Der erste Akt des jüngsten Dramas endete am 10. Mai. Die israelischen Behörden mussten zumindest teilweise zurückstecken. Die palästinensische Jugend übernahm vorübergehend die Kontrolle auf den Straßen, die Al-Aksa-Moschee wurde von der Polizei geräumt. Israels oberster Gerichtshof, der die Zwangsräumung mehrerer Familien aus Skeikh Jarrah absegnen sollte – so wie er regelmäßig die jüdische Expansion im Westjordanland absegnet –, verschob seine Entscheidung um einen Monat.
Selbst der Umzug zum Jerusalemtag, bei dem auf israelischer Seite an die „Befreiung“ der Stadt und ihrer heiligen Stätten im Krieg von 1967 erinnert wird und der dieses Jahr auf den 10. Mai fiel, wurde ein Fiasko. Die Route wurde verlegt, um die palästinensischen Viertel zu meiden, wodurch die De-facto-Teilung der „ewigen und unteilbaren Hauptstadt Israels“ wieder einmal deutlich wurde. Ebenso deutlich wurde der Widerstandswille der Palästinenser: Sie stellen in Jerusalem 40 Prozent der Bevölkerung – wobei die Stadtverwaltung nur 10 Prozent ihres Budget für sie ausgibt.7 1967 machten sie nur ein Viertel der Einwohner aus.
Ebenfalls am 10. Mai feuerte die Hamas, nachdem sie ein Ultimatum zum Abzug der Polizisten vom Tempelberg und aus Skeikh Jarrah gestellt hatte, Raketen auf Jerusalem ab und leitete damit eine neue Stufe der Eskalation ein. Sogleich folgte ein mediales Sperrfeuer gegen die „Terrororganisation“, die Marionette Irans, deren Gewaltanwendung jede politische Lösung unmöglich mache.
Aber wann haben die „Ruhephasen“ – dass heißt die Zeiten, in denen Palästinenser getötet werden, ohne dass es auf den Titelseiten der Zeitungen erwähnt wird – jemals die Regierung Netanjahu dazu veranlasst, einen wirklichen Frieden zu verhandeln? „Es ist stets der Unterdrücker, nicht der Unterdrückte, der die Form des Kampfs bestimmt“, schrieb Nelson Mandela in seinen Memoiren. „Greift der Unterdrücker zur Gewalt, bleibt dem Unterdrückten keine Wahl, er muss mit Gewalt antworten.“8
Im Übrigen haben weder der gewalttätige Charakter der Hamas noch ihre Klassifizierung als „Terrororganisation“ Benjamin Netanjahu davon abgehalten, sie seit seiner ersten Amtszeit 1996 immer wieder als bevorzugten Gesprächspartner zu behandeln. Er tat das, um die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) zu schwächen. Sein Ziel war es, einen Keil zwischen die Führung in Ramallah und die in Gaza-Stadt zu treiben – um dann behaupten zu können, man könne mit diesen zerstrittenen Palästinensern nicht verhandeln. Es war Netanjahu, der die Überweisung von hunderten Millionen Dollar von Katar nach Gaza billigte, um das seit 2007 unter Blockade stehende Territorium teilweise wieder aufzubauen, als es nach dem Krieg von 2014 in Schutt und Asche lag.9 Es besteht kein Zweifel, dass die Hamas einen Teil dieses Gelds dazu nutzte, mit Hilfe Irans und der libanesischen Hisbollah militärisch aufzurüsten und ihre Kampfkraft wiederaufzubauen.
Die israelische Armee war davon überzeugt, sie habe mit ihrer Militäroffensive von 2014 der Hamas tödliche Schläge versetzt und für eine Hand voll Dollar den Frieden erkauft. Nun wurde sie von den massiven Angriffen der Hamas überrascht – ein weiterer Beweis ihrer Arroganz und ihrer Unfähigkeit, die Mentalität der Kolonisierten zu verstehen.
Für alle Palästinenser, Muslime wie Christen, hat Jerusalem einen zentralen Stellenwert. Fotos oder Gemälde der Stadt schmücken ihre Häuser, manchmal auch Gebetsteppiche aus der Al-Aksa-Moschee. Das Ausmaß der Proteste im Zusammenhang mit den drohenden Zwangsräumungen in Skeikh Jarrah hat die Hamas dazu gebracht, ihr Gewicht in die Waagschale zu werfen. Sie fühlte sich umso mehr dazu gedrängt, als Mahmud Abbas, der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, die Verschiebung der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen verkündet hatte und so für die Hamas zunächst keine Aussicht auf einen politischen Erfolg bestand. Abbas’ Entscheidung war begründet durch seine Furcht vor einer Abwahl einerseits und andererseits durch die Weigerung Israels, Wahlen in Ostjerusalem zuzulassen.
Durch den Einsatz ihrer Waffen hat die Hamas dazu beigetragen, die Palästinenser wieder zu vereinen: diejenigen, die im ehemaligen Mandatsgebiet Palästina, diejenigen in den Flüchtlingslagern und diejenigen, die über die ganze Welt verstreut in der Diaspora leben. Am Generalstreik vom 18. Mai beteiligten sich die Palästinenser in den besetzten Gebieten ebenso wie die in Israel – zum ersten Mal seit über 30 Jahren. Dieser Erfolg wurde trotz der anhaltenden politischen Spannungen erzielt, die sowohl zwischen Hamas und PA als auch innerhalb der Fatah bestehen.
Auf militärischer Ebene hat die israelische Armee gehandelt, wie sie es oft getan hat: gemäß der Doktrin von General Gadi Eizenkot, die im Gefolge des Libanon-Kriegs von 2006 entwickelt wurde. Diese „Dahiya-Doktrin“ – benannt nach den südlichen Vororten Beiruts, der Hochburg der Hisbollah – sieht unverhältnismäßige Gegenschläge und Vergeltungsmaßnahmen gegen zivile Infrastrukturen vor, die dem Feind als Basis dienen könnten. Keine andere Armee der Welt hat es gewagt, offen eine solche terroristische Doktrin zu formulieren – auch wenn einige natürlich nicht davor zurückschrecken, ähnlich zu agieren, wie die USA im Irak oder Russland in Tschetschenien.
Die israelische Armee hat zudem einen idealen Vorwand: Weil die Hamas den Gazastreifen seit 2007 allein kontrolliert, kann jedes Büro – egal ob es dort um Steuerfragen, Bildung oder Sozialleistungen geht – zum legitimen Ziel gemacht werden. Die Bilanz ist erschreckend: 248 Todesopfer, darunter 66 Kinder; über 1900 Verletzte. Rund 600 Häuser und etwa ein Dutzend Hochhäuser wurden völlig zerstört, Krankenhäuser, Universitäten und Stromgeneratoren beschädigt. Für diese Bilanz wird sich zweifellos der Internationale Strafgerichtshof interessieren, der jüngst beschlossen hat, sich auch mit der Situation in Palästina zu beschäftigen.
Aber wozu das Ganze? Es sei die „verfehlteste und unnötigste Operation Israels in Gaza“ gewesen, urteilte Aluf Benn, Chefredakteur der israelischen Tageszeitung Haaretz. Israels Armee, die sich nach jeder neuen Runde damit brüstet, die terroristischen Organisationen und ihre Infrastruktur ausgemerzt zu haben, habe die Angriffe nicht kommen sehen, und sie habe „nicht die geringste Vorstellung davon, wie man die Hamas lähmen und destabilisieren kann. Die Tunnel des Feindes mit schweren Bomben zu zerstören, hat der Kampfkraft des Feindes keinen ernsthaften Schaden zugefügt.“10
Und was noch gravierender ist: Israels Raketenabwehrsystem Iron Dome hat dafür gesorgt, dass in israelischen Städten nicht mehr als 12 Menschen ums Leben kamen. Aber es konnte nicht verhindern, dass der Alltag der Bewohner israelischer Städte massiv eingeschränkt wurde, weil sie in Luftschutzbunkern Zuflucht suchen mussten, selbst in Tel Aviv und Jerusalem.
Diese Raketen verändern die Ausgangslage. Von nun an ist keine Stadt in Israel mehr sicher – das konnte man schon beim Krieg gegen die Hisbollah 2006 beobachten. Und für die Zukunft scheint ein Krieg mit mehreren Fronten vorstellbar: Gaza, der Libanon und vielleicht sogar der Jemen. Die jemenitischen Huthis verfügen über ein bedeutendes Raketenarsenal, das sie bereits als Antwort auf die saudischen Bombardements eingesetzt haben; und sie haben bereits gedroht, es auch gegen Israel zu wenden.
Bereits während des Gaza-Kriegs von 2014 hatten Beobachter eine gesteigerte militärische Schlagkraft der Hamas festgestellt. Die hat auf dem Gebiet der Raketentechnik weiter zugenommen. „Die Zahl der von der israelischen Armee getöteten Hamas-Führer macht deutlich, dass es sich nicht um eine ‚kurzlebige Organisation‘ handelt, wie viele Analysten behaupten“, schreibt Zvi Bar’el in Haaretz. „Einige dieser Männer haben hohe Posten bekleidet – Befehlshaber der Brigade Gaza-Stadt, Chef der Abteilung Kybernetik und Raketenentwicklung, Leiter der Abteilung Projekte und Entwicklung, Leiter der Abteilung Ingenieurwesen, Kommandeur der technischen Abteilung des militärischen Nachrichtendienstes und Leiter der Produktion von Industriegeräten. Es handelt sich um eine Armee mit einem Budget, hierarchisch und organisiert, deren Mitglieder die Ausbildung und das Fachwissen für die Verwaltung einer Infrastruktur haben, mit der sie ihr Überleben sichern und Militäroffensiven durchführen können.“11
Ein paar Hamas-Kader zu töten, wird daran nichts ändern: In den Trümmern wächst bereits eine neue Generation von Hamas-Kämpfern heran, deren Wut auf den israelischen Feind noch größer ist. Diese Wut ist nicht auf die Palästinenser begrenzt. In der arabischen Welt erfuhr ihre Sache so viel Unterstützung wie nie seit der Zweiten Intifada (2000–2005). Hunderttausende demonstrierten im Jemen und im Irak. Diese Entwicklung ist nicht ohne Ironie, wenn man bedenkt, dass eines der Ziele der US-Invasion im Irak 2003 darin bestand, den Aufbau diplomatischer Beziehungen zwischen Bagdad und Tel Aviv zu fördern.
Demonstrationen gab es auch im Libanon, in Jordanien, Kuwait, Katar, Tunesien, Marokko und im Sudan. Die Palästinafrage gehört weiter zum Kern der arabischen Identität – daran haben auch die Abraham-Abkommen zwischen Israel, den VAE und Bahrain nichts geändert.12
In Gaza wächst die Wut
Die Hoffnungen auf eine Normalisierung der Beziehungen zu Saudi-Arabien und Mauretanien sind offenbar vorerst zunichte. Auch in Ägypten fand die Wut in den sozialen Netzwerken wie in der offiziellen Presse ihren Ausdruck. Und der Tweet, in dem der Ägypter Mohamed Salah, Stürmer des FC Liverpool, ein sofortiges Ende der Gewalt forderte, wurde hunderttausendfach geteilt.
Das Thema Palästina, von westlichen Diplomaten lange in den Hintergrund gerückt, ist nun wieder auf der Agenda. Seit dem Kampf gegen die Apartheid in Südafrika hat kein anderes eine solche Welle weltweiter Solidarität ausgelöst, von Lateinamerika bis Afrika. Sogar in den USA haben zahlreiche demokratische Politikerinnen und Politiker Position gegen die peinliche Komplizenschaft von Präsident Joe Biden bezogen – und dabei Worte benutzt, die bis dahin tabu waren.
Mehrere bekannte US-amerikanische Linke zögern nun nicht mehr, Begriffe wie „Besatzung“, „Apartheid“ oder „Ethnonationalismus“ zu verwenden. So schrieb etwa Alexandria Ocasio-Cortez, Kongressabgeordnete aus New York, am 13. Mai auf Twitter: „Indem er nur über die Aktionen der Hamas spricht – die zu verurteilen sind – und indem er sich weigert, die Rechte der Palästinenser anzuerkennen, stärkt Biden die falsche Vorstellung, dass die Palästinenser diesen Kreislauf der Gewalt angezettelt haben. Das ist keine neutrale Sprache, das ist eine Sprache, die sich auf eine Seite stellt – die Seite der Besatzung.“
Bereits am Tag zuvor hatte Ocasio-Cortez zusammen mit 24 anderen demokratischen Abgeordneten des Repräsentantenhauses Außenminister Blinken aufgefordert, Druck auf die israelische Regierung auszuüben, um die Enteignung und Vertreibung von Palästinensern in Ostjerusalem zu verhindern. „Wir müssen die Menschenrechte überall verteidigen“, twitterte die Mitunterzeichnerin des Aufrufs Marie Newman aus Illinois. In Europa hingegen erleben wir eine Angleichung an die israelische Sicht der Dinge, nach der es sich um Krieg gegen den Terrorismus und Selbstverteidigung handelt.
Wird nun der Waffenstillstand, der am 21. Mai in Kraft getreten ist, halten? Was geschieht mit den Familien in Skeikh Jarrah, die von der Enteignung ihrer Wohnungen bedroht sind? Wird die Palästinensische Autonomiebehörde ihr politisches Scheitern überleben? Mit Sicherheit ist dies noch nicht der letzte Akt in dieser Tragödie. Die Palästinenser haben erneut ihre Entschlossenheit gezeigt, nicht von der politischen und geografischen Landkarte zu verschwinden. Wir müssen nicht auf die nächste Krise warten, mit neuen Zerstörungen, neuen Toten und neuem Leid, um uns dies ins Bewusstsein zu rufen.
1973 begannen Ägypten und Syrien den sogenannten Jom-Kippur-Krieg gegen Israel, nachdem die diplomatischen Bemühungen, die 1967 verlorenen Gebiete zurückzubekommen, gescheitert waren. Angesprochen auf diese „Aggression“, entgegnete der damalige französische Außenminister Michel Jobert: „Ist der Versuch, sich wieder Zutritt zum eigenen Haus zu verschaffen, ein Akt der Aggression?“
6 Vgl. Ari Shavit, „Lydda, 1948“, The New Yorker, 14. Oktober 2013.
7 Siehe die Informationen von B’Tselem über Jerusalem: www.btselem.org/jerusalem.
8 Nelson Mandela, „Der lange Weg zur Freiheit“, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1997.
9 Siehe Olivier Pironet, „Gemeinsam gegen Israel“, LMd, September 2019.
12 Siehe Akram Belkaïd, „Neuer Beziehungsstatus“, LMd, Dezember 2020.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
Alain Gresh leitet das Onlinemagazin Orient XXI.