08.06.2017

Die Neue Seidenstraße

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Die Neue Seidenstraße

Seit Donald Trump in den USA regiert, kann sich China als Garant des Freihandels präsentieren. Das wichtigste Vehikel seiner ehrgeizigen Politik ist das globale Infrastrukturprojekt Neue Seidenstraße.

von Sebastian Heilmann und Jan Gaspers

Mit Segelschiff oder Hochgeschwindigkeitszug: Präsident Xi Jinping präsentiert alte und neue Verkehrswege  NG HAN GUAN/ap
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Mitte Mai lud die chinesische Regierung zu einer Konferenz ungewohnten Ausmaßes nach Peking: 30 Staats- und Regierungschefs und zahlreiche Minister aus etwa hundert Ländern folgten der Einladung zum Seidenstraßen-Forum. Sie wurden Zeugen, wie Präsident Xi Jinping weitere Milliardensummen für ein Projekt in Aussicht stellte, das vom Willen Chinas kündet, seine globale Gestaltungs- und Führungsmacht auszubauen. Die versprochenen Investitionen in die Neue Seidenstraße haben nun einen Umfang von 1 Billion Dollar erreicht.

Ungeachtet der anhaltenden Skepsis europäischer und anderer westlicher Länder hat sich die Kommunistische Partei in Peking zum Hüter der globalen wirtschaftlichen Integration ausgerufen. Staatschef Xi hatte diese Rolle schon im Januar auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos beansprucht: „Wir müssen dem Ziel verpflichtet bleiben, den globalen Freihandel zu entwickeln, die Liberalisierung von Handel und Investitionen durch Öffnung vorantreiben und Nein sagen zum Protektionismus.“ In dem gigantischen Infrastruktur- und Entwicklungsprojekt Neue Seidenstraße nimmt diese Ambition nunmehr konkrete Formen an.

Als Xi die Initiative im September 2013 ins Leben rief, stellte er den Bezug zur historischen Seidenstraße her, die vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis zum 13. Jahrhundert die wichtigste Handelsverbindung auf dem eurasischen Kontinent war. Der romantisch anmutende Begriff Seidenstraßen-Initiative kam in Europa gut an, selbst die eher nüchterne Angela Merkel zeigte sich angetan von dem „schönem Klang“. In China läuft das Projekt unter dem Namen „Belt and Road“-Initiative (BRI). Mit „Belt“ – das englische Wort für Gürtel oder Band – ist Chinas Anbindung an den eurasischen Kontinent auf dem Landweg gemeint, während sich „Road“ auf die Seewege zu den Küsten Südasiens, Afrikas und Europas bezieht.

China will die Welt verbinden

Bei der BRI geht es konkret um das, was heute mit dem Modewort Konnektivität umschrieben wird: Unter diesem Label entstehen in China und seinen Nachbarländern, aber auch in entfernteren Regionen Asiens, in Afrika und in Europa neue Schienenwege, Pipelines, Stromleitungen oder Telekommunikationsnetze oder auch Containerterminals und komplette Häfen. Fast wöchentlich kommen neue Projekte hinzu, und die Koordination liegt bislang fest in chinesischen Händen.

Für Xi Jinping und die Kommunistische Partei Chinas ist die Initiative ein großes Prestigeprojekt. China will die weltwirtschaftliche Landkarte neu zeichnen, mit sich selbst im Zentrum. Dafür geht man mit Milliardeninvestitionen in teils instabile Staaten ein hohes Risiko ein.

Bei den direkten Nachbarn Chinas überwiegt, wie auch auf der Konferenz in Peking deutlich wurde, die Begeisterung über die Finanzspritzen. Dagegen gaben sich die europäischen Teilnehmer eher skeptisch und forderten mehr Mitsprache und Transparenz für das unübersichtliche Riesenprojekt.

In den vergangenen Jahren waren die Absichten, die China mit der BRI verbindet, nur schwer zu durchschauen. Welche Projekte dazugehören und wer dabei welche Interessen verfolgt, ist keineswegs immer eindeutig. Zweifelsohne ist die Initiative geeignet, neue Wirtschaftsräume zu erschließen und im eurasischen Raum und entlang des Indischen Ozeans die wirtschaftliche Entwicklung zu stimulieren. Aber natürlich verfolgt Peking auch ganz handfeste wirtschaftliche und geopolitische Eigeninteressen.

Mit dem Begriff Neue Seidenstraße werden mittlerweile zahlreiche Infrastrukturprojekte benannt, die sich irgendwie verknüpfen lassen. Das Skelett bilden sechs internationale Wirtschaftskorridore von jeweils mehreren tausend Kilometer Länge: eine neue eurasische Landtrasse, neue Verbindungen von China mit der Mongolei und Russland, mit Zentral- und Westasien und der Indochinesischen Halbinsel, mit Pakistan wie mit Bangladesch, Indien und Myanmar. Die geografische Ausdehnung der BRI reicht derzeit von Neuseeland bis Großbritannien und von der Antarktis bis Südafrika. Sogar eine Ausweitung nach Südamerika ist angedacht.

Mittlerweile werden der Seiden­straßen-Initiative mehr als eintausend

von Sebastian Heilmann und Jan Gaspers

Projekte zugerechnet. Von der zugesagten 1 Billion Dollar wurde bisher allerdings erst knapp ein Drittel tatsächlich investiert. Als Gesamtsumme aller Investitionen steht die Zahl 4 Billionen im Raum. Die meisten BRI-Projekte liegen vorerst in China und seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Das ambitionierteste ist zweifellos die Schnellstraße, die von Chinas autonomer Region Xinjiang zu dem neu gebauten Tiefwasserhafen von Gwadar in Pakistan führen soll. Diese neue Verbindung zwischen dem äußersten Westen Chinas und dem Indischen Ozean wird insgesamt etwa 54 Milliarden Dollar kosten.

Auch in Zentralasien sind milliardenschwere BRI-Projekte auf den Weg gebracht. Im Mai 2015 verkündete der kasachische Präsident Nasarbajew den 2,7 Milliarden Dollar teuren Ausbau der Bahnlinie von Korgas an der chinesischen Grenze bis zur Hafenstadt Aktau am Kaspischen Meer. Ein chinesisch geführtes Konsortium bewirbt sich um den Bau der 770 Kilometer langen Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Moskau und Kasan: China hat bereits einen Kredit von 7 Milliarden Dollar zugesagt, der allerdings nur ein Drittel der auf 21 Milliarden veranschlagten Gesamtkosten abdecken würde.1

Chinesische Staatsunternehmen investieren auch in europäische Infrastrukturen. Das bekannteste BRI-Projekt innerhalb der EU ist der Hafen von Piräus. Chinas Schifffahrts- und Logistik-Riese Cosco betreibt seit 2009 zwei Containerterminals und erwarb im April 2016 die Mehrheitsanteile am wichtigsten griechischen Hafen. Chinesische Schifffahrtsfirmen investieren aber auch in Häfen in Belgien, den Niederlanden, Kroatien, Slowenien, Italien, Portugal, Spanien, Lettland und Litauen.

Finanziert werden die meisten BRI-Projekte durch Chinas Staatsbanken. Die für die Außenhandels- und Investitionsförderung zuständige Export-Import Bank of China vergab bis Ende letzten Jahres etwa 24 Milliarden Dollar an Krediten in BRI-Länder, die China Development Bank hat angeblich mehr als 110 Milliarden Dollar für BRI-Projekte ausgelegt. Auch normale Geschäftsbanken sind beteiligt. Die vier größten, alle im Staatsbesitz, vergaben Darlehen für BRI-Vorhaben in Höhe von 150 Milliarden Dollar. Weitere Mittel werden durch mehr als 20 neu gegründete Fonds generiert, allein 40 Milliarden Dollar durch den 2014 eingerichteten Silk Road Fund.

Skepsis und Hoffnungen bei den Europäern

Um auch ausländische Investoren einzubinden, hat China neue multilaterale Institutionen geschaffen: 2014 gründete es gemeinsam mit Brasilien, Indien, Russland und Südafrika die New Development Bank, die bis Ende 2016 immerhin 2 Milliarden Dollar für BRI-Projekte bereitstellte. Aus europäischer Sicht besonders wichtig ist die 2015 gegründete Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB), die bis Ende 2016 ebenfalls rund 2 Milliarden Dollar in BRI-Projekte investiert hat. Deutschland und zwölf andere EU-Staaten sind in Leitungs- und Aufsichtsgremien dieser Bank vertreten, sieben weitere EU-Staaten sollen folgen.

Das von einer gut geölten PR-Maschinerie betreute Projekt Neue Seidenstraße stößt in der EU und den USA auf einige Skepsis. Von einer „eher politischen Vision“ spricht der Vorsitzende der EU-Handelskammer in Peking, Jörg Wuttke. Und doch hat BRI das Potenzial, eine globale Infrastrukturlücke zu füllen: Die Initiative könnte das Wachstum in ärmeren Volkswirtschaften wie Afghanistan, Sri Lanka, Myanmar, der Mongolei und anderen zentralasiatischen Staaten fördern. Gleichzeitig dürften die Handelsbeziehungen verstärkt und neue Renditequellen für chinesische und internationale Kreditgeber generiert werden. In Europa hoffen manche auf wirtschaftliche Impulse. Sie verweisen darauf, dass sich in Piräus seit dem Engagement von Cosco die Umschlagszahlen mehr als verdoppelt haben.

Der Ausbau des Schienennetzes zwischen Eurasien und Europa könnte kostengünstige und im Vergleich zu den Seerouten schnellere Transportwege schaffen. Die Deutsche Bahn setzt auf attraktive Geschäfte durch neue Verbindungen, die Elektronikartikel von Chongqing nach Duisburg oder Autoteile von Leipzig nach Shenyang verfrachten. Bahnvorstand Pofalla kündigte an, die Zahl der DB-Container bis 2020 auf 100 000 zu erhöhen – dreimal mehr als im Jahr 2014.

Multinational agierende Unternehmen aus Europa und den USA sehen auch neue Möglichkeiten, in Drittstaaten mit chinesischen Partnern zu kooperieren. Beim Bau von großen Anlagen und Infrastrukturen verfügen chinesische Firmen nach dem Boom der letzten Jahre über viel eigene Erfahrung. Doch in Bereichen wie Energieinfrastruktur und Zugtechnik können sie vom Know-how deutscher und europäischen Firmen noch einiges lernen.

Der Siemens-Konzern hat von einem chinesischen Staatskonzern einen Auftrag über mehr als 1 Milliarde Dollar für den Teilbau einer kombinierten Kraftwerk- und Entsalzungsanlage in Saudi-Arabien übernommen. Siemens ist auch beim Bau von Hochgeschwindigkeitstrassen und Zügen ein gefragter Partner und verhandelt derzeit mit chinesischen Unternehmen über gemeinsame BRI-Projekte. Auch der US-Mischkonzern Honeywell (Automatisierungs- und Logistikbranche) verzeichnet signifikante Einnahmen aus Geschäften im Zusammenhang mit BRI.2 Und der weltgrößte Baumaschinenhersteller Caterpillar ist bereits in mehr als 20 BRI-Staaten aktiv.

Hauptanstoß für die Initiative waren anfangs Pekings wirtschaftliche Interessen. Nachdem sich das chinesische Wachstum verlangsamt hatte, reichten die Exporte in die Industrienationen und die Infrastrukturinvestitionen im eigenen Land nicht mehr aus, um die Wachstumsraten zu halten und so die von der KP versprochene „Gesellschaft eines kleinen Wohlstands“ zu verwirklichen. Aber die Neue Seidenstraße soll auch dazu beitragen, die Ungleichheit zwischen einzelnen Regionen Chinas zu verringern. So sollen neue Verbindungen zu den Nachbarländer Mongolei, Kasachstan, Kirgistan und Pakistan helfen, die Wirtschaft in den darbenden Grenzregionen Xinjiang, Ningxia, Qinghai und Yunnan im Westen sowie in den Stahlhochburgen im Nordosten anzukurbeln.

Die geplanten Projekte sollen zudem als Ventil für die Überkapazitäten der chinesischen Stahl- und Zementindustrie dienen. In Peking hofft man, Massenentlassungen bei unrentablen Staatsunternehmen vermeiden zu können. Zum Beispiel erhalten etliche hochverschuldete Staatsfirmen aus den BRI-Investitionstöpfen schnell und unkompliziert frisches Kapital. Für die wirtschaftliche Stabilität ist schließlich auch die Energieversorgung entscheidend, die durch neue Pipelines und Stromtrassen gesichert werden soll.

Sprung nach vorn für Chinas Industrie

BRI soll auch ermöglichen, die Chancen chinesischer Unternehmen im Ausland zu testen und deren Präsenz und Marktanteile massiv zu stärken. Das gilt auch qualitativ: Statt Textilien, Spielzeug oder Konsumelektronik will China künftig verstärkt hochwertige Güter wie IT-Ausrüstung, Baumaschinen und Turbinen exportieren. Die chinesischen Hersteller von Schienen für Hochgeschwindigkeitszüge und die Telekommunikationsanbieter sollen im Ausland – auch in Kooperation mit europäischen Firmen – ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken und ihre Management-Kompetenzen erweitern.

Von BRI wollen insbesondere chinesische Baumaschinenhersteller wie Sany, Zoomlion oder XCMG profitieren, die ehrgeizige Expansionspläne haben. Ihr Weltmarktanteil soll bis 2025 von 7 auf 15 Prozent steigen. Bei den strukturschwachen Nachbarstaaten stehen ihre Chancen besonders gut, denn dort gibt es kaum ernsthafte Konkurrenten.

Schließlich hoffen auch die chinesischen Staatsbanken, dass ihre Kredite, die sie entlang der Neuen Seidenstraße vergeben, verbesserte Erträge für die 3 Billionen Dollar an Devisenreserven bringen, die derzeit zu einem Drittel in niedrig verzinsten US-Schatzbriefen angelegt sind.

Aber Peking verfolgt nicht nur wirtschaftliche, sondern auch innen- und geopolitische Ziele. Man will zum Beispiel unruhige Grenzprovinzen wie Xinjiang stabilisieren, in der eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung lebt. Die Spannungen werden allerdings nur abzubauen sein, wenn die größte Ethnie der Uiguren tatsächlich von der Neuen Seidenstraße profitiert.

Die chinesische Vision einer neuen Nachbarschaftspolitik hat Präsident Xi Jinping in mehreren Reden skizziert. Dabei wird ganz deutlich, dass im Zuge von „Belt and Road“ eine neue asymmetrische wirtschaftliche Abhängigkeit begründet werden soll – wobei die chinesischen Investoren den Finanzbedarf der Empfängerländer ausnutzen. Das geht Hand in Hand mit der Bestrebung, eine zentrale Rolle in der Entwicklungs- und Sicherheitspolitik der Region zu spielen. Schon 2014 sprach Xi von einem „synchronisierten Prozess“ der ökonomischen und der Sicherheitskooperation. Die Kombination aus ökonomischer Dominanz und politischen Zielen ist nicht nur in der eigenen Region erkennbar. China hat neben zentralasiatischen auch afrikanischen Ländern Kredite gewährt, deren Rückzahlung durchaus nicht sicher ist. In solchen Fällen kann China darauf setzen, dass es durch den Zugriff auf Rohstoffe entschädigt wird oder auch durch politische Unterstützung in internationalen Organisationen.

Das teuerste BRI-Projekt in Europa ist der Ausbau der 350 Kilometer langen Bahnstrecke von Belgrad nach Budapest, für den Peking 2,89 Milliarden Dollar veranschlagt. Zusätzlich werden den Ungarn chinesische Investitionen in Milliardenhöhe in Aussicht gestellt. Vor diesem Hintergrund war es gewiss kein Zufall, dass Ungarn im Juli 2016 eine EU-Erklärung zum Schiedsspruch eines Seegerichts zum Südchinesischen Meer blockiert hat, in der China kritisiert werden sollte.

China bringt sich mit der BRI auch als Global Player in Stellung, der die Ausgestaltung der Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts gemäß den eigenen Interessen und Standards beeinflussen und vorantreiben will. Von Peking gegründete multinationale Institutionen wie die AIIB und die NDB sind als Alternative oder zumindest Ergänzung zu Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank konzipiert, wobei allerdings die AIIB weitgehend nach dem Vorbild des IWF und der europäischen Entwicklungsbanken konstruiert ist. Chinesische Politiker und Diplomaten verweisen immer wieder – vor allem seit Donald Trump in Washington regiert – auf die Seidenstraßen-Initiative, wenn sie China als Stabilitätsanker für die globalisierte Wirtschaft präsentieren wollen.

Xi Jinping hat seine außenpolitische Agenda eng mit der Neuen Seidenstraße verknüpft. Das langfristig angelegte Großprogramm kann erst nach dem Ausscheiden von Xi aus der Partei- und Staatsführung offen kritisiert und revidiert werden. In den Augen der KP wird sich die Amtszeit von Xi am Ende daran bemessen, ob die mit der BRI verbundenen wirtschaftlichen sowie innen- und außenpolitischen Ziele erreicht werden konnten.

Allerdings macht die chinesische Führung inzwischen sicherheitspolitische Risiken aus. Ein Schock war im August 2016 ein Selbstmordanschlag uigurischer Islamisten auf die chinesische Botschaft in Kirgistan. Die Bedrohung durch islamistische Terroristen wird wachsen, je mehr BRI-Projekte im Nahen und Mittleren Osten vorangetrieben werden.

Ohnehin hat China wegen der harten Haltung gegenüber der uigurischen Minderheit im eigenen Land in der islamischen Welt einen schweren Stand. Vor allem in Zentralasien, wo Misstrauen gegen China traditionell weit verbreitet ist, werden chinesische Firmen und Arbeiter zunehmend angefeindet. Auch die Medien bringen häufig kritische Berichte über chinesische Aktivitäten. In Kasachstan kam es im April 2016 zu landesweiten Demonstrationen gegen Pläne, Land an chinesische Bauern zu verpachten. Proteste gab es zur selben Zeit in Kirgistan, nachdem Regierungschef Temir Sarijew einen 100-Millionen-Dollar-Auftrag zum Bau einer öffentlichen Straße an eine chinesische Firma vergeben hatte, obwohl kirgisische und türkische Mitbewerber billiger waren.

Auch im übrigen Asien gibt es vermehrt Sicherheitsprobleme. In Sri Lanka kam es im Januar zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, als Bauern gegen ihre Vertreibung von Grund und Boden protestierten, auf dem eine von China finanzierte Industriezone nahe dem Hafen Hambantota entstehen soll. In Myanmar und Pakistan wurden chinesische Staatsunternehmen in lokale Konflikte hineingezogen. Und der pakistanische Hafen Gwadar liegt inmitten der notorisch unruhigen Provinz Belutschistan. Diese gestiegenen Sicherheitsrisiken im Ausland beeinflussen auch die globale Sicherheitspolitik Chinas. Zunehmend werden Stimmen laut, die einen militärischen Schutz für BRI-Projekte und Auslandseinsätze der Volksbefreiungsarmee (PLA) fordern.

Militärische Zusammenarbeit mit Äthiopien und Iran

Die Regierung in Islamabad wurde von Peking dazu gedrängt, die Einrichtungen und Mitarbeiter von BRI-Projekten durch die Armee zu schützen. Zu diesem Zweck wurden 13 000 pakistanische Soldaten abgestellt. Auch zum Schutz des Hafens Gwadar hat China der pakistanischen Kriegsmarine zwei Schiffe überlassen.3 In Zentralasien ist China im Kampf gegen Terrorismus eine multilaterale Kooperation mit Tadschikistan, Afghanistan und Pakistan eingegangen.

Dass China mehr und mehr von seiner traditionellen Nichteinmischungsdoktrin abrückt, hat also auch mit der Neuen Seidenstraße zu tun. Mit einigen BRI-Partnerländern hat China eine militärische Kooperation begonnen; dazu zählen so unterschiedliche Staaten wie Weißrussland, Iran, Tansania, Äthiopien, Malawi, Mosambik, Thailand und die Seychellen. Und selbst wenn sich Peking als Vermittler anbietet – wie im Kaschmirkonflikt zwischen Indien und Pakistan oder im Grenzstreit zwischen Myanmar und Bangladesch –, geht es auch darum, die BRI-Investitionen in diesen Ländern zu schützen.

Die wirtschaftliche, diplomatische und strategische Offensive Chinas könnte langfristig auch zu Spannungen mit den großen Nachbarn Russland und Indien führen. Zwar demonstrierte Präsident Putin beim Seidenstraßen-Forum in Peking den Schulterschluss mit Xi Jinping und prophezeite, die Initiative werde „Eurasien Frieden, Stabilität, Wohlstand und eine grundsätzlich neue Lebensqualität bringen“ – Russland verspricht sich schon wirtschaftliche Impulse und Anstöße für neue Bündnisse, etwa zwischen China, Russland und der autoritär regierten Türkei.

Andererseits aber fürchtet der Kreml den Verlust seiner traditionellen Einflusssphären in Zentralasien und die Konkurrenz zu Russlands Eurasischer Wirtschaftsunion (EEU). Die ist allerdings grundsätzlich anders konzipiert: Während das BRI-Projekt ohne große Institutionalisierung auskommt, zielt die EEU auf die Bildung eines regionalen Blocks – vorwiegend aus ehemaligen Sowjetrepubliken –, dessen Mitglieder eine wirtschaftliche Vorzugsbehandlung auf der Basis des gemeinsamen Markts genießen.

Erste Spannungen zeigen sich im Verhältnis Chinas zu Indien, das die BRI vor Kurzem für ihren „neokolonialistischen Ansatz“ kritisiert hat. Auf dem Seidenstraßen-Forum in Peking ließen sich indische Vertreter gar nicht erst blicken. Delhi könne kein Projekt akzeptieren, das seine Souveränität infrage stelle, erklärte der Sprecher des Außenministeriums. Anlass für die Misstöne ist vor allem der geplante Wirtschaftskorridor mit Pakistan, der durch Regionen in Kaschmir und Gilgit-Baltistan verläuft, die von Indien beansprucht werden. Aber das Außenministerium rügte auch das fehlende „finanzielle Verantwortungsbewusstsein“ der Seidenstraßen-Initiative und warnte die beteiligten Länder: Falls die chinesischen Banken eines Tages ihr Geld zurückfordern sollten, würden sie von ihren Schulden erdrückt.

Beobachter im Westen stellen immer wieder die Frage, ob die angekündigten Projekte überhaupt vorankommen. Auch angesichts solcher Zweifel drücken die Chinesen aufs Tempo. Präsident Xi forderte im August 2016, einige „Modellprojekte“ möglichst bald umzusetzen, damit die beteiligten Länder die „Vorteile spüren können“. Doch bislang wurden außerhalb Chinas nur wenige Projekte abgeschlossen.

Ein Beispiel ist der Binnenhafen Korgas, der ein wichtiges Warendrehkreuz an der kasachisch-chinesischen Grenze werden soll. Für das Projekt will China 600 Millionen Dollar ausgeben, aber während auf der chinesischen Seite der Grenze reihenweise Hochhaustürme entstehen, ist auf kasachischem Gebiet außer ein paar leeren Gebäuden nichts zu sehen. In Thailand sind zwar mehrere Strecken für Hochgeschwindigkeitszüge geplant, aber über die Gesprächsphase ist man nicht hinausgekommen.

Auch in China selbst lassen positive Resultate auf sich warten. Der Handel zwischen Xinjiang und den zentralasiatischen Nachbarn war 2015 sogar rückläufig. Viele der Projekte stoßen auf Hindernisse, sei es der Geografie, sei es in Form von Korruption oder politischer Instabilität der betreffenden Region. Oder sie sind nicht ausreichend auf ihre Rentabilität überprüft, wie internationale Ratingagenturen immer wieder bemängeln.

Misstrauen in Indien

Kein Wunder, dass auch bei den chinesischen Staatsbanken die Sorge vor künftigen Kreditausfällen wächst. Ein Indiz ist, dass die chinesischen Direktinvestitionen in BRI-Länder in letzter Zeit deutlich zurückgegangen sind: 2016 um 2 Prozent und im ersten Quartal 2017 sogar um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahrszeitraum. Ein Experte für die Region berichtet, selbst chinesische Funktionäre gingen davon aus, dass in Zentralasien knapp ein Drittel, in Myanmar die Hälfte, in Pakistan sogar 80 Prozent der chinesischen Kredite ausfallen könnten.4 Wenn es so kommen sollte, würde Chinas Gesamtverschuldung (die auch die Verschuldung der staatlichen Unternehmen und Banken umfasst), die jetzt schon 250 Prozent des BIPs beträgt, noch weiter ansteigen.

Schlimmer könnte es die Empfängerländer treffen, die oft gar nicht in der Lage sind, die Rentabilität großer Infrastrukturprojekte einzuschätzen. Hier könnte die gesamte Volkswirtschaft ins Wanken geraten: Sie könnten mangels Produktivität niemals die Schulden aus BRI-Krediten zurückzuzahlen, falls China diese tatsächlich einfordern sollte. Zumal in den Seidenstraßen-Partnerländern bislang noch keine klaren Wachstums- oder Arbeitsmarktimpulse zu verzeichnen sind.

Das Versprechen, dass alle profitieren, ist in vielen Ländern auch deshalb kaum einlösbar, weil die allgegenwärtige Korruption die Gewinne auffrisst, bevor sie bei der Bevölkerung ankommen könnten. Im Übrigen bleiben positive Effekte für die lokalen Arbeitsmärkte entlang der Seidenstraße schon deshalb aus, weil China seine BRI-Kreditvergabe häufig an die Bedingung knüpft, dass chinesische Arbeiter und Firmen die Projekte realisieren. Turkmenistan und Usbekistan versuchen diese Auflage durch die Forderung auszuhebeln, dass mindestens 70 Prozent der angeheuerten Arbeitskräfte aus der Region stammen müssen. Häufige Verstöße gegen solche Abmachungen führen dazu, dass die Ressentiments gegen die chinesischen Investoren stärker werden. Zumal die meist intransparenten Infrastrukturprojekte auch noch den örtlichen Eliten häufig zu persönlichen Pfründen verhelfen.

In der EU wird immer wieder kritisiert, die BRI-Projekte seien nicht nachhaltig genug und ließen die üblichen Standards internationaler Kooperation vermissen. In diese Richtung argumentierte zuletzt auch der deutsche Botschafter in Peking gegenüber der South China Morning Post, als er für eine „echte Beteiligung“ aller Partner warb, womit er auch die Mitgestaltung anderer Staaten meinte.5

Dass es an Einbindung und Transparenz fehlt, war auch der Grund, warum beim Seidenstraßen-Gipfel in Peking alle EU-Staaten ablehnten, eine Erklärung des Forums zu internationalen Handelsfragen zu unterschreiben. Die deutsche Wirtschaftsministerin Zypries vermisste ein „klares Bekenntnis“ zu offenen Wirtschaftsbeziehungen und kritisierte vor allem, dass europäische Firmen auf dem chinesischen Markt nicht gleichbehandelt würden.

Speziell die westlichen EU-Staaten sind auch misstrauisch gegenüber der chinesischen Strategie, gezielt die östlichen EU-Länder mit Seidenstraßen-Investitionen zu umwerben. Das signalisierte kürzlich die Europäische Kommission gegenüber Peking, als sie am 20. Februar eine offizielle Untersuchung des Vorzeigeprojekts einer Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Belgrad und Budapest einleitete. Dabei soll überprüft werden, ob bei der Auftragsvergabe die EU-Vorschriften eingehalten wurden, die für solche Großprojekte ein öffentliches Ausschreibungsverfahren vorsehen. Sollte Chinas erster Eisenbahnbau in Europa einen juristischen Rückschlag erleiden, wäre dies für Peking auch diplomatisch peinlich.

Die EU hat allerdings nicht die Absicht, sich von der Seidenstraßen-Initiative zu distanzieren. Regierungen wie Unternehmen erhoffen sich von BRI eine politische und wirtschaftliche Stabilisierung der EU-Nachbarn im Osten, aber auch lukrative Kooperationsprojekte mit China in Drittländern und Fortschritte bei überfälligen In­frastrukturinvestitionen in der EU selbst.

Die EU versucht deshalb, die BRI zu nutzen, zugleich aber auf die eigenen Standards zu pochen. Dabei müssen die Risiken der Seidenstraßen-Projekte genauer kalkuliert werden, als es bei den chinesischen Finanzierungsmodellen und Planungen üblich ist. Schließlich liegt es auch im Interesse der EU, dass die Risiken begrenzt werden, die derzeit vor allem von China getragen werden.

In der Anfangsphase werden starke Volkswirtschaften wie Deutschland noch nicht massiv profitieren. Aber wenn irgendwann einige der großen Infrastrukturprojekte zu einem erfolgreichen Abschluss kommen, werden sich auch für sie sekundäre Effekte ergeben. Zum Beispiel durch die Nachfrage nach ihren Produkten auf den neu erschlossenen Märkten. So gesehen bietet das chinesische Jahrhundertprojekt der Neuen Seidenstraße den EU-Staaten erhebliche Chancen bei einem geringen wirtschaftlichen Eigenrisiko.

1 Für dieses Projekt interessiert sich auch ein Konsortium deutscher Investoren, dem die Deutsche Bank, Siemens und die Deutsche Bahn angehören.

2 Siehe Wall Street Journal, 14. Mai 2017.

3 Siehe Financial Times, 18. Mai 2017.

4 So Tom Miller von der Beratungsfirma Gavekal Dragonomics, zitiert in: The Economist, 4. Mai 2017.

5 Michael Clauss in: South China Morning Post, 18. Februar 2017.

Sebastian Heilmann ist Gründungsdirektor des Mercator Instituts für China-Studien (Merics) in Berlin und Professor für Vergleichende Regierungslehre, Politik und Wirtschaft Chinas an der Universität Trier. Jan Gaspers leitet die European China Policy Unit am Merics.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.06.2017, von Sebastian Heilmann und Jan Gaspers