07.05.2015

Einmal blauen Himmel und weiße Wolken sehen

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Einmal blauen Himmel und weiße Wolken sehen

Der Lebensstil der chinesischen Mittelschicht und seine Folgen von Shi Ming

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Vor dem Thangka werde ich ruhig und friedlich“, schreibt die 40-jährige Chunchun auf sina.com – ein Thangka ist ein nach bestimmten Regeln gemaltes Rollbild für den buddhistischen Hausaltar. „Wenn ich mich der Vollendung des Thangkas nähere, fühle ich die Nähe des Bodhisattva aufsteigen, und sie hebt mich ins Glück.“ Die Frau aus Schanghai zählt sich stolz zu den „zangpiao“, den modernen Aussteigern, die ihre gut bezahlten Jobs aufgeben, um sich, so das chinesische Wikipedia Baidu Baike, „in die unbeschreiblich schöne Natur Tibets zu verlieben“ – im Gegensatz zu denen, „die auch in Tibet noch nach Geld trachten“.

Schätzungsweise 300 Menschen werden jedes Jahr in China „zangpiao“. Bei einem Volk von 1,4 Milliarden ist das eine winzige Minderheit. Ihr Anliegen jedoch hat den Charakter einer Sensation – wie die Unternehmung der 26-jährigen Wanderarbeiterin Jia Yanmei, die von Peking aus fünfzehn Tage mit dem Fahrrad ins 2 000 Kilometer entfernte Sichuan radelte, um zum Frühlingsfest 2014 ihre Eltern zu besuchen.

Das Internetportal QQ erklärte, Jia sei eine moralisch erhabene Person, weil sie moderne Dienstleistungsangebote ablehne; sie wolle weder Geld sparen noch Ruhm ernten, sondern an alle Chinesen appellieren, mehr auf die Umwelt und eine nachhaltige Lebensweise zu achten. Dann postete QQ stündlich Fotos, die zeigten, wie sich die Frau, ausgerüstet mit Pulsmesser und anderen Gerätschaften, südwärts kämpfte. Vier Tage nach Jias Aufbruch gaben Meteorologen die erste Smogwarnung im neuen Jahr durch: Wer kann, soll zu Hause bleiben.

Die Chinesen sind immer mehr angezogen vom westlich-modernen Wohlstand und halten immer weniger an ihren auf Genügsamkeit beruhenden Traditionen fest. Dieselbe Ambivalenz herrscht auch staatlicherseits: Seit dem 17. Parteitag im Jahr 2007 gehören Begriffe wie „ökologische Zivilisation“ und „Nachhaltigkeit“ zum offiziellen Programm der KP. China besitzt das modernste Umweltgesetz weltweit: Es umfasst zumindest auf dem Papier präventiven Umweltschutz, Ressourcenschonung und Gesundheitsschutz – und hat die größte Kapazität an Windkraft und Photovoltaik. Doch in der Realität werden Boden, Wasser und Luft mit jedem Tag mehr verpestet.

Um den Bestand der vier häufigsten Fischarten im Jangtse, dem längsten Strom Asiens, zu retten, ließ die Regierung im April 2010 in Yichang, der ersten Großstadt hinter dem Drei-Schluchten-Staudamm, 10 Tonnen Laich aussetzen. Ende 2012 jedoch klagte Cao Wenxuan von der Akademie der Wissenschaften im Magazin liaowang dongfang (Ausblick gen Osten): „Der Jangtse ist für die meisten Süßwasserfische zum Grab geworden.“ Infolge der geologischen Veränderungen durch den Dammbau und der Verschmutzung durch die Industrie seien 98 Prozent des Fischbestands eingegangen.

Auf dem 18. KP-Parteitag 2012 wurde erneut eine Politik beschworen, die den Teufelskreis des Wachstums durchbrechen soll: Zwar strebe man weiterhin ein siebenprozentiges Wachstum an, um ausreichend Arbeitsplätze zu sichern, doch in Zukunft werde kein Kader mehr aufgrund des Wirtschaftswachstums in seinem Gebiet befördert, sondern nur noch aufgrund einer nachhaltigen Entwicklung. Das Zauberwort heißt „höhere Lebensqualität“. Verschwiegen wird dabei, dass Lebensqualität längst nicht mehr per Parteibeschluss definiert werden kann, sondern durch eine Mittelschicht bestimmt wird, der es nun einmal beliebt, Lebensqualität an kommerziell messbaren Größen festzumachen. Beliebt ist der Vergleich mit US-Standards: Wie viele Quadratmeter bewohnt ein weißer US-Amerikaner? Wie viele Privatflugzeuge haben „die Amis, die so viel verdienen wie wir“? Wie viele Mercedes oder BMWs rasen dort über die Straßen?

Der Wettlauf der urbanen Mittelschicht um diese Sorte Lebensqualität hat weitreichende Folgen: Wenn es gilt, den eigenen Status unter Beweis zu stellen, wird nicht gespart. Und Nachhaltigkeit spielt nur eine Rolle, wenn es darum geht, sich selbst – und vielleicht noch den eigenen Kindern – Vorteile zu sichern. Genau diese Mittelschicht wurde für Chinas KP ab Anfang der 1990er Jahre zur Machtbasis. Seither dient die Politik vor allem denen, die materiellen Fortschritt wollen – schon allein, damit die Mittelschichtler nicht auf dumme Gedanken kommen.

1995 kündigte Chinas Industrieministerium ein Konzept zur Entwicklung eines Familienautos an. Daraufhin drängten die besserverdienenden Städter die Verwaltungen, die beliebten Motorräder „aus Umweltschutzgründen“ von den Straßen zu verbannen. Dieselbe Sorge um die Umwelt traf ab 2003 auch die Elektrofahrräder: Auch sie wurden verboten. Die Umwelt wurde also „geschont“, indem man mehr und größere Verbrennungsmotoren auf die Straßen brachte. Je mehr Benzin verbraucht wird, desto besser wird die Umwelt geschützt, so schien die Logik zu lauten. Bis 2006 durften auf den Ringstraßen von Peking, Schanghai und Guangzhou keine Autos mit einem Hubraum unter einem Liter fahren. Vielerorts wurden Kleinwagen gar nicht erst zugelassen.

Inzwischen sind viele statusbewusste Mittelschichtler in die Oberschicht aufgestiegen. Für die dazugehörige Lebensqualität sorgen Markenprodukte aus dem Westens. 2014 gingen über 40 Prozent der weltweit verkauften Luxusgüter an Chinesen. Architekten aus Paris, Berlin oder Melbourne sind trotz aller Warnungen vor einer Immobilienblase magisch angezogen vom Wald glitzernder Wolkenkratzer in den chinesischen Metropolen. Der Absatz deutscher Edelkarossen in China erwies sich als Balsam für die krisengebeutelten Seelen in Süddeutschland. Doch auf Chinas Straßen werden Mercedes, BMW und Porsche zu Hassobjekten – wegen der Arroganz ihrer Besitzer, der Neureichen und KP-Prinzen, die straflos Menschen überfahren und oft wütende Beschimpfungen als „baoma an“ (BMW-Fall) oder „benchi an“ (Benz-Fall) auf sich ziehen.

Der eigene Bauer liefert gesundes Gemüse

Leute, die ihren Reichtum durch protzige Statussymbole zur Schau stellen, werden „tuhao“ genannt. Laut BBC könnte diese häufig benutzte Bezeichnung, die in etwa „grob und reich“ bedeutet, bald sogar Eingang ins Oxford English Dictionary finden. Zu Zeiten der maoistischen Revolution war „tuhao“ der Name für die verhassten Großgrundbesitzer, gegen die Chinas Kommunisten die Massen mobilisierten. Um den Machterhalt der KP nicht zu gefährden, ordnete Parteichef Xi Jinping nach dem 18. Parteitag im November 2012 an, dass kein Funktionär sich mit den „tuhao“ gemeinmachen dürfe – keine luxuriösen Auslandsreisen, keine opulenten Bankette, kein Sonderservice für Parteibonzen.

Anderthalb Jahre später zog Chinas Zentralbank folgende Bilanz: Eine geringere Verschwendung öffentlicher Gelder durch KP-Kader bei Dienstwagennutzungen und Bewirtungen reiche schon, um die Inflation zu drücken. Xis moralischer Rotstift diente vor allem der Festigung des Machtanspruchs seiner Partei – die Betreiber von Luxushotels und Edelrestaurants beklagen indes Umsatzeinbrüche. Viele Fünf-Sterne-Hotels kämpfen um eine Herabstufung auf vier Sterne, damit die illustren Gäste wieder bedenkenlos bei ihnen absteigen können.

Inzwischen ist das Wirtschaftswachstum in China merklich zurückgegangen. Und in der Mittelschicht geht die Sorge um: Was tun, wenn man sich nicht mehr als privilegiert präsentieren kann? Den Wunsch nach Komfort oder Luxus mag eine Wohnung im Barockstil mitten in Peking noch befriedigen. Aber wenn etwas schiefgeht, etwa ein Verwandter festgenommen wird, braucht man schnell eine Zweit- oder Drittwohnung, um alle maßgeblichen Leute bestechen zu können. Und auch sonst gilt: Für alles, vom Kindergartenplatz über den sicheren Job bei China Oil And Gas bis hin zum Grundstück für die Familiengruft braucht man etwas, um Stärke zu beweisen und sich samt Nachkommen vor dem Abstieg zu bewahren.

Für die Oberschicht mag Prunksucht zum Lifestyle gehören, für die vorsichtiger und ängstlicher gewordene Mittelschicht ist die Hinwendung zu einer „besseren Lebensqualität“ Teil einer Überlebensstrategie. Denn wer keine Kaufkraft demonstrieren kann, gehört nicht mehr zu den wehrhaften Besserverdienenden.

Hinzu kommt, dass in China der Zusammenhalt zwischen den unterschiedlichen Schichten und Milieus immer schwächer wird. Ende 2005 legte eine Nitrobenzolverseuchung im Songhua-Fluss in Nordostchina die Trinkwasserversorgung der Millionenstadt Harbin für vier Tag lahm. Die Oberschicht flog in Privatjets in den Süden; die Mittelschicht ließ sich Mineralwasserflaschen aus Peking anliefern; der Rest, die überwältigende Mehrheit, hatte keine Wahl – und wurde zum Opfer der Umweltverschmutzung.

Die Mittelschicht setzt sich immerhin zur Wehr – exklusiv für sich. Gut situierte Bürger verhinderten mit ihren Protesten den Bau von Chemiefabriken in Xiamen an der Ostküste und Shifang im Westen: Die Werke sollen ruhig gebaut werden, aber bitte nicht bei uns.

Als 2003 die Sars-Epidemie Chinas Großstädte in Geisterstädte verwandelte, boomte plötzlich der Automarkt. Die Autokäufer wollten sich in ihrem isolierten Gehäuse gegen die schlechte öffentliche Hygiene abschirmen. Seit Jahren pachten wohlhabende Bürger Ackerland außerhalb der Stadt und bezahlen Bauern dafür, dass sie ihnen schadstoffarmes Gemüse liefern. Allerdings sind die Böden unweit der Industriegebiete oft mit Schwermetallen belastet. Neuerdings ziehen vereinzelte Aussteiger aufs Land – etwa nach Dali in der Provinz Yunan, um „blauen Himmel und weiße Wolken zu sehen“, wie am 23. November 2013 in der New York Times zu lesen war. Aber von 10 000 Mittelschichtlern schafft das höchstens ein einziger.

Die Einsicht fällt anscheinend schwer: Die Konflikte und Spannungen werden sich nur lösen lassen, wenn sich die Chinesen – über alle Schichten, Ethnien und Lebensentwürfe hinweg – als Mitglieder eines Gemeinwesens begreifen. Doch das birgt Risiken, in erster Linie politische. Seit Jahren formieren sich in Chinas Großstädten Bürgerbewegungen, die genau diesen Gemeinsinn zum Schutz der Umwelt und der Bürger fordern. Beeindruckende Leute gehören dazu, wie Zhao Lianhai, der Vater von einem der vielen Babys, die 2008 an gepanschtem Milchpulver schwer erkrankt oder gestorben sind. Zhao rief die Chinesen auf, mehr Transparenz nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft zu fordern. 2010 wurde er zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Viele andere, die zunächst als Umweltaktivisten auftraten, wurden drakonisch bestraft und entwickelten sich zu politischen Dissidenten. Der Bekannteste ist der Bürgerrechtler und Umweltaktivist Hu Jia, der 2008 den Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments erhielt.

Wer in China mit juristischen Mitteln für den Umweltschutz kämpft, kommt nicht weit. Bislang scheiterten die Versuche mehrerer NGOs, bei Umweltzerstörungen mit Gesundheitsschäden die Verursacher vor Gericht zu bringen. Umweltsünder verklagen kann man nur als Opfer, und der oder die Geschädigte muss selbst den Beweis erbringen, dass die Umweltbelastung den persönlichen Schaden direkt verursacht hat. Jeder ist also auf sich allein gestellt. Auch Nachhaltigkeit sucht bis heute fast jeder nur auf eigene Faust und zu seinen eigenen Gunsten, auch wenn nach dem jüngsten Umweltschutzgesetz einzelne NGOs endlich die Erlaubnis haben, doch im Namen der Gemeinschaft Anklage gegen Umweltsünder zu erheben.

2011 traf ich mich mit einem Milliardär, der auf der Suche nach einem Ghostwriter war, im Restaurant eines Fünf-Sterne-Hotels in Peking. Der 54-jährige CEO eines großen Privatunternehmens saß an einem Mahagonitisch, ein schlanker Mann im Nadelstreifenanzug mit Basecap auf dem Kopf, und klagte mir sein Leid: „Mein Vater, ein Mann aus dem Dorf, hat mir immer eingeschärft: Wenn du jeden Tag dreimal Fleisch essen kannst, Junge, dann hast du es weit gebracht. Aber jetzt ermahnen mich alle Ärzte, kein Fleisch mehr zu essen, wegen zu hoher Werte. Sie verstehen: Blutfett. Blutzucker. Blutdruck. Gemüse, Gemüse, Gemüse soll ich essen. Tagaus, tagein. Dafür hätte ich nicht das Dorf verlassen brauchen. Dreißig Jahre lang habe ich für das Fleischessen geschuftet. Alles umsonst?!“ Sein Fazit: Erst jetzt, mit 54 Jahren, wisse er, was nachhaltige Lebensführung sei. „Gemüse, Gemüse, Gemüse! Ist das nicht bitter?“

Inzwischen hat die Nomenklatura dem Smog, der vier Fünftel des Landes (einschließlich Lhasa auf dem tibetischen Hochland) bedeckt, den Kampf angesagt. Diesen Kampf will sie mit zwei bewährten Mitteln gewinnen: mit Mao und mit Geld. Erstens dürfen sich die Kader ab sofort keine Verschwendung mehr erlauben, wie es Mao einst gefordert hat. Zweitens kündigte die Stadt Peking allein im Bereich Umweltschutz Investitionen von mehr als einer Billion Yuan (etwa 141 Milliarden Euro) innerhalb der nächsten fünf Jahre an.

Es ist eine Kampfansage, die weder Trost noch Vertrauen stiftet. Westliche Journalisten haben enthüllt, dass fast alle chinesischen Spitzenpolitiker riesige Vermögen in die Karibik verschoben haben, um sich und ihren Familien eine nachhaltig prunkvolle Zukunft zu sichern.

Im Dezember 2013 legte die regierungseigene Akademie der Wissenschaften eine Studie vor, derzufolge nur 4 Prozent der Luftverschmutzung auf den Autoverkehr zurückgehe, während die Verbrennung von Stroh für 26 Prozent verantwortlich sei. So werden die angekündigten Investitionen wohl doch nicht in alternative Verkehrskonzepte fließen. Aus einer Ende 2014 veröffentlichten Statistik geht hervor, dass der Autoverkehr weiter zweistellig zunimmt, während trotz aller Propaganda bis heute nur 2 000 reine Elektroautos chinesischer Fabrikate auf den Straßen unterwegs sind. Und doch sind angeblich nicht die städtischen Verschwender, sondern die Bauern mit ihrer kargen Lebensweise die Schuldigen.

Fünfzehn Tage lang radelte eine dieser Schuldigen, die Wanderarbeiterin Jia Yanmei, durch den Smog gen Süden. Im Norden erzählt man sich Smogwitze: „Twittert ein Pekinger: ‚Verdammter Smog! Ich stehe direkt vor dem Tiananmen und sehe den Vorsitzenden Mao nicht.‘ Antwortet eine Frau aus Harbin: ‚Das ist ja noch gar nichts. Ich halte mir einen Hunderter vor die Nase und kann nicht mal den Typen darauf erkennen.‘ “

Shi Ming ist freier Journalist in Berlin. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.05.2015, von Shi Ming