07.05.2015

Boden gut machen

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Boden gut machen

Ein Wasserwirtschaftler aus Hamburg arbeitet unermüdlich daran, Scheiße in Humus zu verwandeln – das klappt tatsächlich von Elisabeth von Thadden

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Am Anfang dieser Geschichte war zweierlei: Kot und Urin. Der hagere, freundliche Mann hielt dem verblüfften Publikum im Essener Grillo-Theater zwei Marmeladengläser entgegen. Das eine enthielt kompostierten menschlichen Kot, das andere Urin, und der Mann sagte: „Diese beiden Substanzen sollten sich nicht mischen, sondern getrennt werden.“ Um der Kostbarkeit willen.

Der Wasserwirtschaftler Ralf Otterpohl erklärte dem Publikum alsdann, wie aus den Exkrementen mit ein wenig Arbeit, Bioabfällen und Holzkohle jene fruchtbare Schwarzerde wird, mit der die Inkas vor 500 Jahren aus den nährstoffarmen Böden unter den Regenwäldern der Amazonasgebiete ertragreiche Äcker schufen. Und der Urin, wenn er erst gründlich entgiftet sei, könne dank des darin enthaltenen Phosphats als Dünger und zur Aufforstung dienen.

Der weltweite Einsatz der Wassertoilette westlichen Typs sei eine Katastrophe, weil die hochinfektiösen Fäkalien in den meisten Weltgegenden ungeklärt in die Gewässer geschwemmt würden.

Der Vortrag hatte eine ungeahnte Wirkung: Im Publikum saß der Schriftsteller Ingo Schulze. Er ging auf Otterpohl zu, um ihm zu danken. Der Mann mit den zwei Marmeladengläsern habe seinen Blick auf die Welt verändert. Er besuchte Otterpohl in Hamburg und beschloss: „Meinen nächsten Roman schreibe ich über das WC als Irrweg der Geschichte.“ Sodann reiste Schulze der Schwarzerde nach und drehte den Film: „Rettung aus dem Regenwald? Die Wiederentdeckung der Terra Preta.“

Wer sich für die Postwachstumspioniere interessiert, bekommt es immer wieder mit der Kunst zu tun. Fünf Jahre nach dem Essener Vortrag sitzt Ralf Otterpohl an einem Cafétisch in Hamburg und betont die Notwendigkeit eines schönen Designs für Ökoklos – ohne Schönheit geht es nun mal nicht, wenn man die Scham überwinden will.

Eine Million alternativer Toiletten sind weltweit in Betrieb, ein paar Millionen wurden gebaut, einiges ist schiefgegangen. Aber die Dynamik stimmt. Manche Alternativklos trennen die Exkremente voneinander, andere optimieren den Schwarzwasserkreislauf durch neue Hightechsysteme. Und alle können Nährstoffe wie Phosphat, Stickstoff und Kalium aus den Fäkalien vollständig zurückgewinnen. Nur die Pharmarückstände, ob von der Pille, Schmerzmitteln oder Antidepressiva, werden mit einigem Aufwand zersetzt.

Rückgewinnung statt Entsorgung lautet die Devise. Beispiel Phosphat: Einer der knappsten und begehrtesten Rohstoffe der Welt wird in der üblichen Siedlungswasserwirtschaft dramatisch vergeudet. Dabei sind die Vorräte begrenzt; in absehbarer Zeit werden sie erschöpft sein. Und die Länder, in denen fast 100 Prozent der Phosphatvorkommen liegen – Marokko, China, Algerien, Syrien, Jordanien, die USA, Russland – werfen die unangenehme Frage auf, von wem die EU künftig existenziell abhängig sein will.

Global heißt in dieser Klo-Geschichte auch lokal

Weil nicht die saubere Rückgewinnung von Phosphat im Vordergrund steht, findet sich im Handelsdünger immer mehr Kadmium oder sogar Uran. Statt das Phosphat aus den Nahrungsmitteln als Dünger wiederzuverwenden, wird es in Flüsse, Seen, Meere gespült, wo es das biologische Gleichgewicht durcheinanderbringt. Landwirtschaftliche Böden, die wegen des Einsatzes von Agrochemikalien erodieren, halten zudem das Phosphat nicht mehr fest. Erst mit der Bildung von Humus können die Nährstoffe im Boden gebunden werden.

In einer vom Klimawandel gezeichneten Welt, deren Böden nicht mehr fruchtbar genug sind, um 10 Milliarden Menschen zu ernähren, ist jeder gewonnene Hektar an fruchtbarem Boden auch ein Zugewinn an Freiheit. Und die Sanitärtechnik ist ein Mittel, um eine vorsorgende Landwirtschaft gerade dort zu ermöglichen, wo Menschen von ihrem verdorrten Land in die Großstädte flüchten müssen.

Global heißt in dieser Klo-Geschichte auch lokal: Otterpohl forscht in Hamburg, im nahen Lübeck hat er sein Ingenieurbüro, in einer Siedlung von 2 000 Menschen in Hamburg-Jenfeld wird eines seiner Sanitärkonzepte umgesetzt, am Hamburger Hauptbahnhof eine Kreislauftoilette mit Düngerproduktion erprobt. Aber seine Lösungen sind universell gedacht. Wie viele Pioniere des Übergangs in eine ressourcenschonende Weltgesellschaft sagt auch Otterpohl, er arbeite an Gemeineigentum im kosmopolitischen Sinne, an Produkten, die überall auf der Welt eingesetzt werden könnten.

Diese Moral ist bei den meisten der Pioniere in die Substanz ihrer eigenen Wünsche nach Selbstbestimmung eingegangen, nämlich in die Wahl des Berufs und dessen Zuspitzung zur professionellen Kritik. Für viele ist das Unbehagen an einer westlichen Moderne bestimmend, die zerstört, was ihr heilig war: die gleiche Freiheit eines jeden. An dieser Zerstörung waren auch die toilettes modernes, wie man seit der Kolonialzeit in Westafrika die westlichen Spültoiletten nennt, beteiligt. Es soll der Moderne gehen wie ihren Klos: Sie wird überarbeitet. Heute setzen vor allem die Jüngeren auf die Selbstreparaturpotenziale der Moderne und probieren neue Spielräume aus.

Den Spielraum zu nutzen und zu erweitern, ist für viele Postwachstumspioniere fast so etwas wie eine kosmopolitische Pflicht. „Wir brauchen eine Weltwirtschaftsordnung, die allen dient“, sagt Otterpohl, „aber gegenwärtig sind fast alle ausgeschlossen.“ Wovon? „Von einem guten Leben in Freiheit.“ Er beruft sich auf den indischen Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen, für den Wohlstand und Freiheit, aber auch Eigentum und Freiheit untrennbar zusammengehören.

Die einen vernichten, was die anderen brauchen

„Die Weltgesellschaft degradiert Menschen überall zu Konsumenten. Wir müssen dafür sorgen, dass die Konsumenten wieder zu Produzenten werden können. Nahrung, Kleider, Häuser: Den echten Bedarf könnte fast jeder Mensch auf der Welt selbst herstellen, natürlich an jedem Ort etwas anders.“ Prokreativ nennt Otterpohl das. Gemeint ist ein neuartiges Ringen um Unabhängigkeit: Regionale Wertschöpfung statt falscher Abhängigkeit von Monopolisten und Diktaturen, so lautet bei vielen Akteurinnen des Übergangs eine Zauberformel.

Bleibt die Frage, wie ein deutscher Ingenieur dazu kommt, über ein gutes Leben in Freiheit nachzudenken und die dafür notwendigen neuen Klosysteme zu entwickeln. Die Geschichte ist einfach – und verlief bei vielen anderen Postwachstumspionieren ähnlich: Otterpohl wollte Kläranlagen bauen, damit Menschen sauberes Wasser haben.

Es waren die späten 1970er Jahre. Wer intellektuell auf sich hielt, bastelte im Ökoneuland an Ideen, die aus den Universitäten kaum kamen. Otterpohls Greenpeace-Gruppe beschäftigte sich mit Landwirtschaft, also Böden. Dann haben sich Wasser und Boden in Otterpohls Kopf verschaltet, und er merkte: „Die einen vernichten genau das, was die anderen dringend bräuchten.“

Und wie qualifiziert man sich mit dieser Intuition in technischen Hochschulen, die eher an Computermodellierungen von Kläranlagen interessiert sind als an Alternativen zum Wasserklosett? Man schlägt den Gegner mit dessen eigenen Waffen und setzt sich mit den besten Computermodellen an die Spitze der Forschung: So konnte Ralf Otterpohl als einer der Ersten zeigen, dass das gewohnte System der Schmutzwasserentsorgung nicht sinnvoll ist – und er wurde zu einem angesehenen Mann.

Der Wasserwirtschaftler erfreute sich an dem Neuland, das er erschloss, und hat am Ende nicht nur seine Professur, sondern auch die Narrenfreiheit eines spätmodernen Alchemisten gewonnen, die er seither für die Ökoklos nutzt: „Fünf Jahre wurde ich ausgelacht, fünf Jahre lang heftig angegriffen, und jetzt läuft das Thema international zu großer Form auf.“

Otterpohl ist zum Vordenker der „neuen Dörfer“ geworden. Die sollen weder in die agrarisch-feudalistische Vormoderne zurückzufallen noch in ein esoterisches New Age entfliehen. Die spätmodernen neuen Dörfer sollen vielmehr das moderne Naturverhältnis hinter sich lassen, das systematischen Raubbau an der Natur betreibt. Gleichzeitig sucht der moderne Mensch in seiner Freizeit nach Entspannung in einer trostreich schönen Natur, lässt sich von ihr überwältigen, um in Beruf und Alltag dann den Wahnsinn des Raubbaus frisch gestärkt fortzusetzen.

Otterpohl hingegen hofft auf eine neue Gründerzeit, die von regionaler Wertschöpfung, Unabhängigkeit und Freiheit geprägt sein sollte. Neue Unternehmerdörfer können die Natur wieder dauerhaft durch menschliche Arbeit fruchtbar machen; soziale Netzwerke wie das Global Ecovillage Network können Millionen von Menschen beim Aufbau moderner, nachhaltiger Ökodörfer helfen.

Der Wasserwirtschaftler hat zahlreiche Beispiele gesammelt, von Bauern im Süden Malis, von den Maori auf Neuseeland, vom indischen Dorf Hiware Bazar – sie alle sind mit der Rückgewinnung von fruchtbarem Boden und sauberem Wasser befasst. Für hochindustrialisierte Länder wie Deutschland könnte das Modell eines Gartenrings aus Unternehmerdörfern Schule machen, der um die Städte herum entsteht und diese tatsächlich resilient macht, eine echte Alternative zur Pendlersiedlung samt Pendlerpauschale.

Diese neuen Dörfer werden Orte sein, an denen es Privateigentum gibt, aber keinen Gemeinschaftszwang, denn in individualisierten Gesellschaften scheitern zu viele Projekte an einem kommunitären Überschuss. Genossenschaftliche Finanzierungsmodelle sollen den teilnehmenden Unternehmerinnen dabei helfen, innerhalb von zehn Jahren eine schuldenfreie Existenz aufzubauen, die bereits ein erhebliches Stück realer Alterssicherung bedeutet. Von den Auseinandersetzungen mit den Behörden um Bebauungspläne über die Frage der Schulen und Altenversorgung bis zur Mobilität ist in diesen Modellen an alles gedacht – und die ersten Dörfer entstehen.

Früher, zu Beginn der Moderne, hätte man das wohl eine Utopie genannt, oder man hätte es als fernes Fortschrittsziel an den Horizont der Zukunft gepinselt: Die Bewohner dieses unternehmerischen Dorfs wären Freie und Gleiche, die gemeinsam über die Belange des Dorfs entscheiden und auch für die Demokratie neuen Boden gewinnen. Aber von Utopie oder Fortschritt ist in der heutigen Spätmoderne sicherheitshalber gleich gar nicht die Rede. Schöne Orte sollen es werden, aber keine naive Idyllen. Dafür liegt etwas Neues in der Luft: eine Belebung und die freiwillige Anstrengung für eine Idee, die Menschen tragen kann – womit man bereits mitten in einem neuen Roman wäre.

Elisabeth von Thadden ist Redakteurin der Zeit in Hamburg. © Le Monde diplomatique, Berlin, und Kolleg Postwachstumsgesellschaften, Universität Jena

Le Monde diplomatique vom 07.05.2015, von Elisabeth von Thadden