Gyans Familie
Die Geschichte ging so: Im Jahr 1880 hatten seine Vorfahren ihr Dorf in Nepal verlassen und waren in Darjeeling eingetroffen, angelockt von der Aussicht auf Arbeit in den Teeplantagen. Dort, in einem Weiler, der an eines der abgelegeneren Teegüter grenzte, hatte ihnen ein Büffel gehört, der für seine erstaunlich sahnige Milch berühmt war.
Nach geraumer Zeit kam die Armee des Imperiums des Weges, die alle Männer in den Hügeln mit Maßband und Lineal auf ihre Diensttauglichkeit prüfte, und so stolperten sie über die beeindruckend breiten Schultern von Gyans Urgroßvater, den die Büffelmilch so stark gemacht hatte, dass er den Sohn des Süßwarenhändlers im Ringkampf besiegt hatte, einen außergewöhnlich prächtigen, vor Gesundheit strotzenden Jungen.
Ein früher im Dorf rekrutierter Mann hatte berichtet, dass die Soldaten wie Edelfrauen im Luxus schwelgten – immer warm und trocken, mit Decken und Socken, dicker Butter und zwei Mal die Woche mutton, täglich einem Ei, immer fließend Wasser, Medizin gegen jede Krankheit, jedes Wehwehchen, jeden Kratzer. Beim leisesten Piekser am Popo, beim kleinsten Wespenstich könne man ohne Scham Hilfe anfordern und müsse dafür nur die Grand Trunk Road hinunterlaufen.
Die Armee bot diesem büffelmilchgestählten Jungen viel mehr Geld, als dessen Vater je verdient hatte, denn dieser Vater arbeitete als Läufer auf der Plantage; vor Morgengrauen verließ er das Haus mit einem großen, konischen Korb mit Zwischenwänden und versuchte, den Rückweg hügelan bis zum Sonnenuntergang zu schaffen. Der Korb war dann mit einer Schicht Gemüse und einem lebenden Huhn bepackt, das am Flechtwerk herumpickte; obendrauf lagen Eier, Toilettenpapier, Seife, Haarnadeln und Briefpapier für die Memsahib, damit sie ihrer Tochter schreiben konnte: „Meine Liebe, dies ist ein schönes, urtümliches Land und beinahe, beinahe entschädigt seine Schönheit mich für die Einsamkeit …“
Und so schwor er seinen Eid auf die Krone und machte sich auf die Reise, womit mehr als 100 Jahre treuer Dienste der Familie in den Kriegen der Engländer begannen.
Zu Anfang wurden alle Versprechen noch eingelöst – viele einträgliche Jahre lang war die einzige Aufgabe von Gyans Urgroßvater das Marschieren, und er nahm sich eine Frau und bekam drei Kinder. Aber dann schickten sie ihn nach Mesopotamien, wo türkische Kugeln sein Herz durchsiebten und er auf dem Schlachtfeld verblutete. Um der Familie zu helfen und ihr ein Einkommen zu sichern, stellte die Armee seinen ältesten Sohn in den Dienst, obwohl der berühmte Büffel längst tot und der neue Rekrut spindeldürr war. Indische Soldaten kämpften in Burma, in Gibraltar, in Ägypten, in Italien.
Zwei Monate vor seinem 23. Geburtstag im Jahr 1943 kam der spindeldürre Soldat in Burma ums Leben, als er die Briten kraftlos gegen die Japaner verteidigte. Man bot seinem Bruder eine Stelle an, und auch er kam um, in Italien, nicht im Kampf, sondern während er dem Major des Bataillons in einer von den britischen Truppen requirierten Villa Aprikosenmarmelade kochte. Sechs Zitronen auf vier Tassen Zucker, so hatte man ihn angewiesen. Er rührte in der friedlichen italienischen Landschaft die Marmelade um, Fasane schwirrten über die Oliven und Weinranken, in den Wäldern grub die Resistance nach Trüffeln. Der Frühling war besonders schön, und dann fielen die Bomben –
In Gyans frühen Kindertagen war eines Tages der letzte Rekrut der Familie in Kalimpong aus dem Bus gestiegen; im fehlte eine Zehe. Niemand konnte sich noch an ihn erinnern, aber schließlich gruben sie Vaters Kindheitserinnerungen aus und der Mann wurde als Onkel identifiziert.
Bis zu seinem Tod lebte er bei Gyans Familie, aber sie bekamen nie heraus, wohin er gereist war oder gegen wen er gekämpft hatte. Er entstammte einer Generation, für die es auf der ganzen Welt einfacher war, zu vergessen als sich zu erinnern, und je genauer die Kinder fragten, desto gründlicher schwand ihr Erinnerungsvermögen. Einmal hatte Gyan wissen wollen: „Aber wie ist es denn in England, Onkel?“
Und er antwortete: „Das weiß ich nicht.“
„Aber das musst du doch wissen???“
„Ich war doch nie dort.“
All die Jahre hatte er in der britischen Armee gedient und war doch nie in England gewesen! Wie war das möglich? Sie hatten gedacht, er hätte in London in Saus und Braus gelebt wie ein Lord und sie alle vergessen …
Wo war der dann gewesen?
Das mochte der Onkel nicht sagen. Einmal im Monat ging er auf die Post und holte sich seine Pension von sieben Pfund ab. Meistens saß er auf einem Klappstuhl und wackelte still mit seinem ausdruckslosen Gesicht hin und her wie eine Sonnenblume, ein schwarzer Krüppelplanet, der beharrlich der Sonne folgte, mit nur noch einem Ziel im Leben: die beiden zur Deckung zu bringen, den Planeten seines Gesichts und den des Lichts.
Da hatte die Familie beschlossen, sich auf den Lehrerberuf zu verlegen, und Gyans Vater unterrichtete an der Schule einer Teeplantage hinter Darjeeling.
Plötzlich hörte die Geschichte auf. „Und dein Vater?“, fragte Sai. „Wie ist er?“, fragte Sai, aber sie drang nicht weiter in ihn. Schließlich wusste sie, dass alle Geschichten ein Ende haben mussten.
Nachts war es nun schon frostig kalt und es wurde früher dunkel. Sai, noch spät auf dem Heimweg, konnte den Weg unter ihren Füßen nicht mehr sehen, legte bei Onkel Potty Rast ein und bat ihn um eine Taschenlampe. „Wo ist denn der hübsche Junge abgeblieben …?“, neckten Onkel Potty und Vater Booty sie. „Meine Güte. Diese Jungs aus Nepal, hohe Wangenknochen, muskulöse Arme, breite Schultern. Männer, die was schaffen können, Sai, Bäume fällen, Zäune setzen, schwere Kisten tragen … mjamjam.“
Kiran Desai
Gekürztes Kapitel aus dem Roman über den Ghurka-Aufstand der 1980er-Jahre von Kiran Desai, „Erbin des verlorenen Landes“, Berlin (Berlin Verlag) 2006. Wir danken dem Verlag für die Abdruckrechte. © Berlin Verlag und Le Monde diplomatique, Berlin