Der falsche Krieg
Muslimische Welt, arabischer Nationalismus und die Irrtümer des Westens von Olivier Roy
Das Bild, dem zufolge sich die muslimische Welt im Krieg mit dem Abendland befindet, ist eine Ausgeburt der Fantasie. Eine solche „muslimische Welt“ existiert nicht. Der Großteil der Konflikte im Mittleren Osten wird zwischen Muslimen ausgetragen. Die bestehenden Regime verstehen sich mehrheitlich als Verbündete des Westens. Das erklärt im Übrigen auch, warum der Iran unter Präsident Ahmadinedschad nach Verbündeten unter den lateinamerikanischen Populisten sucht und nicht bei seinen Nachbarn.
Die Islamisierung wird nur dann zu einem strategischen Faktor, wenn sie sich mit einer weiteren Determinante überschneidet, im Allgemeinen einer nationalistischen (wie im Falle der Hamas oder des Iran), einer ethnischen oder einer tribalistischen (für die Taliban treffen alle drei Punkte zu).
Die Komplexität des Spiels der Allianzen widerlegt die demagogische Simplifizierung, die das Schlagwort vom „weltweiten Krieg gegen den Terrorismus“ impliziert.
Im Irak unterstützen die Amerikaner bereitwillig eine Regierung, die ihrem ärgsten Feind, dem Iran, nahesteht. Al-Qaida hat sich in ein vermeintlich mit dem Westen verbündetes Land, Pakistan, zurückgezogen, das geradezu unverhohlen den Taliban in ihrem Krieg gegen das neue, von der internationalen Gemeinschaft installierte afghanische Regime Hilfestellung gewährt. Im Libanon macht die schiitische Hisbollah gemeinsame Sache mit den Christen von General Aoun, und diese Allianz bedroht die sunnitischen Muslime viel stärker als die maronitischen Christen. Das syrische Regime, die Stütze der Hisbollah, hat Muslimbrüder ermordet und ins Gefängnis geworfen.
In Saudi-Arabien, dem alten Verbündeten der Vereinigten Staaten, dessen Herrscherfamilie nicht müde wird, enge Bindungen zum republikanischen Establishment zu knüpfen, gedeihen die schlimmsten antiwestlichen Formen des Islam, gleichzeitig betreibt das Land eine diskrete Annäherung an Israel im Angesicht eines neuen gemeinsamen Feindes – der potenziellen Atommacht Iran. Selbstverständlich ist dabei viel Unausgesprochenes und viel Heuchelei: An dem Tag, an dem die Vereinigten Staaten den Iran bombardieren, werden die arabischen Hauptstädte unisono protestieren, aber mehr als eine wird sich insgeheim darüber freuen.
Drei traumatische Ereignisse prägen die jüngste Geschichte des Mittleren Ostens, und nichts davon hat mit dem Islam an sich zu tun.
Das erste Trauma ist das Scheitern des 1918 von den Briten propagierten Projekts, auf den Trümmern des Osmanischen Reiches ein großes arabisches Königreich zu errichten.
Das zweite Trauma besteht in der Schaffung des Staates Israels und den Niederlagen in vier Kriegen (1948, 1956, 1967, 1973), die die Nachbarn führten, um Israel zu vernichten, zu verkleinern oder sich gegen Israel zur Wehr zu setzen.
Das dritte Trauma ist die in zwei Etappen vollzogene Verschiebung des Gleichgewichts zwischen Schiiten und Sunniten: einmal durch die Islamische Revolution im Iran, deren Expansion zunächst vom Irak unter Saddam Hussein blockiert wurde, und dann durch das Abgleiten des Irak in die schiitische Sphäre im Anschluss an die US-Intervention von 2003.
Ein großes Problem im Mittleren Osten ist die Frage der politischen Legitimität. Regional verankerte nationalistische Bewegungen sind im Allgemeinen im Dunstkreis von Staaten und nicht von Regimen entstanden, aber die politischen Ideologien auf dem Markt sind supranationalistisch, während die politische „Grammatik“ (das Spiel der Allianzen und individuellen Loyalitäten) unterhalb der staatlichen Ebene liegt (all das, was man mit der Vokabel açabiyya oder „Solidaritätsgruppe“ bezeichnet: Clans, Stämme, Konfessionen).
Aber die supranationalen Ideologien (Panarabismus, Panislamismus, „Panschiismus“) überlappen sich und geraten manchmal auch miteinander in Konflikt. Deshalb klafft eine Lücke zwischen einer utopischen politischen Fantasie, die virtuell ist und immer scheitert, und der konkreten politischen Praxis (zwischen Nationalismus und açabiyya), die nicht gut ankommt. Die nationalistischen Bestrebungen bleiben zwar der entscheidende Schlüssel zu den Konflikten, werden aber ausgehöhlt von internen Spaltungen (ethnische und konfessionelle Rivalitäten im Irak, im Libanon und in Afghanistan; Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten; Umbrüche im Stammessystem), die sich im Rahmen von Ideologien und transnationalen Netzen artikulieren. Die Kluft öffnet allen Verschwörungstheorien und allen erdenklichen Frustrationen Tür und Tor.
Jeder lokale Konflikt hat seine eigene Geschichte und seine eigene Logik: In der Rivalität zwischen Iran und Irak leben die Grenzkonflikte zwischen dem persischen Reich und dem Osmanenreich fort, Pakistan sucht immer noch nach Legitimität und nach einem Staatsgebiet, Palästinenser und Israelis vollziehen mühsam den Übergang von einem existenziellen Konflikt zu einem Territorialkonflikt. Dass Syrien dem Libanon die Unabhängigkeit verweigert, dass Pakistan Afghanistan und Kaschmir für seine Auseinandersetzung mit Indien instrumentalisiert, der Konflikt zwischen Äthiopien und Somalia: Diese Beispiele sind nur die frappierendsten Belege für die Geschichtslast und Eigenlogik der Konflikte.
Gegenwärtig wie auch in der Vergangenheit bekämpfen die Hamas und der palästinensische Dschihad die Fatah nicht aus religiösen Gründen, sondern weil sie angeblich die Interessen des palästinensischen Volkes verraten hat. Die libanesische Hisbollah hat ihren Kampf im Süden des Landes immer als Kampf um die Befreiung des Staatsgebiets dargestellt. Die algerische Front Islamique du Salut (FIS) nimmt für sich in Anspruch, die „echte“ Front de Libération Nationale (FLN) zu sein, die gegen die Franzosen gekämpft hat.
Die Muslimbruderschaft war immer in nationale Gruppen gespalten und Lichtjahre vom Fantasiegebilde einer „islamistischen Internationale“ entfernt. Und bei der irakischen Invasion in den Iran im September 1980 hat nicht ein einziger militanter arabischer Islamist für die Islamische Revolution Partei ergriffen. Zehn Jahre später, beim Golfkrieg von 1991, vertraten die Muslimbrüder klar die Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer: Die Jordanier verurteilten den Hilferuf an die westlichen Streitkräfte, die Kuwaiter billigten ihn.
Der politische Rahmen ist in erster Linie national definiert. Überall ist das Staatsangehörigkeitsrecht sehr restriktiv, der Status von Flüchtlingen prekär, auch wenn sie Araber und Muslime sind. Überall neigen die staatliche Logik und die populäre Demagogie zur Ausgrenzung des anderen, mag er auch Muslim sein. Die Palästinenser im Libanon, die Afghanen im Iran, die Menschen aus Mali in Libyen: Sie alle haben diese bittere Erfahrung gemacht. Im Iran gilt für einen schiitischen, Persisch sprechenden Afghanen, der eine Iranerin heiraten will, dasselbe aufwändige Verfahren wie für einen nichtmuslimischen Europäer, der zumindest theoretisch konvertieren muss.
In den Emiraten am Golf ist zu beobachten, dass die staatlichen Behörden und die öffentliche Meinung sich darüber empören, es würden zu viele Ehen mit „ausländischen“ Frauen geschlossen (denn die Brautpreise für die „eigenen“ Frauen sind nicht mehr erschwinglich).
Nur Jordanien hat die palästinensischen Flüchtlinge von 1948 integriert. Die gleichen Menschenmassen, die in Kairo für Palästina auf die Straße gingen, würden vehement gegen das Ansinnen protestieren, die ägyptische Staatsbürgerschaft auf palästinensische Flüchtlinge auszudehnen. Bei der Intervention im Irak wiederholt sich das Muster: Man bekundet Solidarität mit den Irakern in ihrem Kampf gegen die USA, aber die zwei Millionen irakischen Flüchtlinge, die sich in anderen arabischen Ländern niederlassen wollen, stoßen bei der lokalen Bevölkerung auf Ressentiments.
Die nationalen Konflikte können sich offensichtlich im gesamten Großraum Mittlerer Osten entlang wechselnder ideologischer Einkleidungen artikulieren. Der Zionismus wie auch die Palästinenserbewegung haben sich von Anfang an als laizistische nationalistische und nicht als religiöse Bewegungen verstanden. Im ersten Krieg zwischen Somalia und Ogaden standen sich 1976 zwei sozialistische Regime, beide Verbündete der Sowjetunion, gegenüber. Die äthiopische Intervention in Somalia zur Beseitigung der islamischen Gerichte im Dezember 2006 stellte sich zwar als Kampf gegen den Islamismus dar, aber tatsächlich ging es wieder um nationalistische Inhalte. Die Islamisierung des Widerstands in Kaschmir wurde von Pakistan seit den 1980er-Jahren unterstützt, und zwar mit der dezidierten Absicht, zu verhindern, dass sich ein kaschmirischer Nationalismus entwickelt, der gegen den Anschluss der Provinz an Pakistan wäre oder der auf Kosten von Pakistan einen Kompromiss mit Indien suchen könnte.
Schließlich hat die 1979 gegründete Islamische Republik Iran den Konflikt mit dem Irak unter religiösen Vorzeichen gedeutet … Anlässlich des Kriegs zwischen Irak und Iran hat Imam Khomeini das Schlagwort geprägt, „der Weg nach Jerusalem geht durch Kerbela“, was so viel bedeutet wie: Bevor man Israel bekämpfen kann, muss man erst Saddam Hussein loswerden. Eben aus diesem Grund lehnten sunnitisch-arabische islamistische Bewegungen wie die Muslimbrüder es ab, den islamischen Iran gegen konservative arabische Regime zu verteidigen, obwohl sie dort unterdrückt wurden.
Im Übrigen haben die Staaten es durchaus verstanden, die Ideologien für ihre Zwecke zu instrumentalisieren – wie es Ägypten unter Nasser oder Syrien und der Irak unter dem Baath-Regime mit dem Panarabismus gemacht haben, genau wie der Iran, Saudi-Arabien und Pakistan mit verschiedenen Formen des Panislamismus.
Aber das Umgekehrte trifft nicht zu. Den Muslimbrüdern ist es nicht gelungen, sich des arabischen Nationalismus zu bemächtigen. Nach 2003, im Anschluss an den amerikanischen Einmarsch in den Irak, konnte man beim Salafismus einen ähnlichen Versuch beobachten, den arabischen Nationalismus für sich zu gewinnen, als tausende arabische Freiwillige versuchten, nach Falludscha zu gelangen. Und angesichts des komplexen Spiels zwischen der pakistanischen Regierung und den radikalen Bewegungen, die von Pakistan aus agieren, kann man sich durchaus fragen, wer da wen instrumentalisiert: der Nationalstaat, der bei seiner Regionalpolitik auf die Radikalen setzt, oder die Radikalen, die sich hüten, einen offiziell mit den Vereinigten Staaten verbündeten Staat zu zerstören, der ihnen, eben weil er mit Amerika verbündet ist, Schutz vor Amerika bietet? Wir müssen uns deshalb der Dialektik der Beziehungen zwischen Nationalismus und Internationalismus zuwenden.
Das nationalistische Auftreten ist sehr ambivalent, denn es operiert an der Schnittstelle zwischen einem Gefühl lokaler Zugehörigkeit – syrisch, irakisch, libanesisch, ägyptisch und sogar saudisch – und einem Gefühl supranationaler panarabischer Identität. Der staatliche Rahmen, der oft noch aus der Kolonialzeit stammt, wird von der jeweiligen regionalen Bevölkerung zugleich beansprucht und abgelehnt. Die Konflikte sind strukturell, insofern sie in die Geburtsurkunden der betroffenen Länder eingeschrieben sind. Im Allgemeinen haben sie keine lange Vorgeschichte … und reichen bis in die beiden Nachkriegszeiten des 20. Jahrhunderts zurück: in die Zwanzigerjahre und ans Ende der Vierzigerjahre, als die Länder unabhängig wurden und die Kolonialmächte sich zurückzogen. Darum wird die nationalistische Renaissance in vielerlei Hinsicht schizophren erfahren, und das umso mehr, als der Staat hier wie anderswo unter den wirtschaftlichen, kulturellen und humanitären Auswirkungen der Globalisierung leidet. In einer solchen Konstellation flüchtet sich die Identität häufig in eine kulturelle Fantasiewelt, und dort ist der Islam sehr erfolgreich, sofern er sich über das panarabische Ideal stülpt. Wir erleben also die Islamisierung des Arabismus.
Das Problem wird zusätzlich kompliziert dadurch, dass in vielen Staaten Spaltungslinien zwischen einzelnen Gruppen verlaufen, die religiöser Natur sein können (Libanon, Irak, Syrien, aber auch Kuwait, Saudi-Arabien, Bahrain), ethnischen Ursprungs (Pakistan, Afghanistan, Irak) oder einfach von Stammesgegensätzen herrühren (Somalia, Jemen). Auch diese Gruppen neigen zur Internationalisierung oder zumindest dazu, sich internationalen Netzen anzuschließen.
„Tribalismus“ im weiteren Sinn erscheint oft als ein geschlossenes, traditionelles System, wo die Treuepflichten ganz allein von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe abhängen. Natürlich spielt das bei lokalen Solidaritätsbeziehungen und Konflikten eine Rolle. Die Rivalitäten zwischen Schiitenstämmen im Irak, zwischen bedeutenden Maronitenfamilien im Libanon oder zwischen Alewitenclans in Syrien muss man genauso in Rechnung stellen wie die transversalen Solidaritäten, die Schutz und Kooperation zwischen den Mitgliedern einer Gruppe sichern können, wenn diese gegensätzlichen politischen Lagern angehören.
Aber die Stämme sind zur Welt hin offen. Das Stammessystem verschwindet nicht, es passt sich der Globalisierung und den supranationalen Ideologien an. Ein wiederkehrendes Phänomen ist die Islamisierung von Stammesgruppen: afghanische und pakistanische Paschtunen, somalische Clans, jemenitische Stämme. Auch hier erklärt sich der Vormarsch des Islamismus durch Veränderungen in den traditionellen Gesellschaften. Im Jemen wie in Afghanistan und in Pakistan, sicher auch in Saudi-Arabien sind die religiösen Kräfte, die Mullahs und Scheichs, an die Stelle der traditionellen Stammeshonoratioren getreten, ohne dass man deshalb von sozialen Konflikten sprechen könnte. Gleichzeitig erlaubt die Berufung auf die Scharia, dass man weiterhin dem Zentralstaat Widerstand leisten kann, aber jetzt nicht mehr lokal und reaktiv, im Namen von Besonderheiten und traditionellen Gebräuchen, sondern im Gegenteil, indem man betont, dass man direkt mit der Umma verbunden ist und den Zentralstaat als Erscheinung des Partikularismus abtut. Der Stamm existiert weiter und greift auf die ganze Welt über, was oft mit wirtschaftlicher Globalisierung einhergeht (Beteiligung am Drogenhandel, an Schmuggel, an Arbeitsmigration).
Eineinhalb Millionen Paschtunen aus pakistanischen und afghanischen Stammesgebieten leben in Karatschi, sie beherrschen das Transportwesen. Im Jemen sind es hauptsächlich Angehörige von Stämmen aus dem Norden, die in die Golfstaaten und nach Saudi-Arabien abwandern; die Stämme aus dem Hadramaut haben eine lange Tradition der Emigration nach Großbritannien und Indonesien. Darum wäre es falsch, wenn man die Islamisierung bloß als eine neue Form darstellte, in der ein Irredentismus zum Ausdruck kommt: Der Tribalismus setzt vielmehr auf seine eigene Überwindung.
Umgekehrt können Stammesgruppen, die nur geringfügig islamisiert sind, umso stärker eine nationalistische Identität entwickeln, wie es bei den Kurden der Fall ist oder bei den pakistanischen Belutschen. Letztere grenzen sich in der Ausbildung ihrer Identität deutlich von den Paschtunen ab, deren expansive Bestrebungen die ethnische Einheit von Belutschistan bedrohen. Die Belutschen sind laizistisch und säkularisiert, haben die traditionelle Stammeshierarchie bewahrt und führen ihren Kampf unter Führung der Sardars, die seit den Siebzigerjahren „linke“ Allianzen pflegen, etwa mit der Sowjetunion und dem kommunistischen Regime in Kabul. Es gibt darum häufig einen Widerspruch zwischen der „progressiven“ Ausrichtung und dem archaischen Charakter des Stammessystems. Wie wir gesehen haben, sind häufig die islamistischen oder neofundamentalistischen Bewegungen am besten für die Globalisierung gerüstet. Das erklärt, warum der gegenwärtige Konflikt zwischen den Belutschen und dem pakistanischen Staat in den internationalen Medien mit Schweigen übergangen wird, denn er passt nicht zu den vorherrschenden Klischees.
Gekürztes Kapitel aus: Olivier Roy, „Der falsche Krieg. Islamisten, Terroristen und die Irrtümer des Westens“, München (Siedler) 2008. Das Buch erscheint am 28. Februar. Wir danken dem Verlag für die Abdruckrechte. © Siedler Verlag, München und Le Monde diplomatique, Berlin