14.03.2008

Bürger von nirgendwo

zurück

Bürger von nirgendwo

Wenn Philippe Leclerc, der beim UNHCR für die Staatenlosen zuständig ist, über die Schicksale dieser Menschen ohne Nationalität und ohne Heimat spricht, muss ich an meine Großeltern denken. Die waren 1928 aus der Tschechoslowakei und der Ukraine über Österreich nach Frankreich gekommen und dann, kaum auf französischem Boden, für staatenlos erklärt worden. Ihr Antrag auf Einbürgerung stand zur Bewilligung an, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. So mussten sie bis 1948 warten. Immerhin waren sie während dieser zwanzig Jahre – von der Besatzungszeit abgesehen – polizeilich gemeldet, hatten Papiere, durften arbeiten und hatten ungefähr die gleichen Rechte wie jeder französische Staatsbürger.

Sechzig Jahre später sieht es offenbar anders aus. Da Staatenlose für kein Land existieren, sind sie per definitionem unsichtbar. Es sei denn, man schafft eine funktionierende Behörde für ihre Identifizierung. Die gibt es, seit die 1961 beschlossene Konvention 1975 mit ihrer Ratifizierung durch sechs Staaten in Kraft getreten ist. Dennoch lebt die große Masse der Staatenlosen nach wie vor im Schatten, am Rande der Gesellschaft: ohne Recht auf Bildung, nicht einmal auf medizinische Versorgung. Der UNHCR schätzt die Zahl der Staatenlosen weltweit auf etwa 5,8 Millionen, räumt aber ein, es könnten bis zu 15 Millionen sein.

In jüngster Zeit gibt es bei einigen Ländern in Asien und in der Golfregion erhebliche Fortschritte. Ein extremer Fall ist Nepal, das dem indischstämmigen Teil seiner Bevölkerung die Staatsbürgerschaft bis vor kurzem vorenthalten hat. Im November 2006 verabschiedete das nepalesische Parlament ein neues Einbürgerungsgesetz, aufgrund dessen schon 2007 2,6 Millionen Menschen (von 3,4 Millionen) die nepalesische Staatsangehörigkeit gewährt wurde. Auch Thailand beginnt mit der Einbürgerung seiner staatenlosen Bevölkerung, die nach offiziellen Quellen zwischen 800 000 und 2 Millionen Menschen ausmacht.

Anders liegen die Dinge in Europa. In den baltischen Ländern machte die Auflösung der UdSSR 1991 mehrere hunderttausend Sowjetbürger zu Staatenlosen. In Lettland lebten 2000 über 600 000 Russen ohne lettische Staatsangehörigkeit, bis heute sind es noch 400 000. Noch Ende der 1990er-Jahre hatte die Regierung in Riga sich gegenüber dem UNHCR beschwert, weil dieser von „Staatenlosen“ sprach, wo doch die nichteingebürgerten Russen in Lettland als „Nichtbürger“ firmierten. Ein anderer Fall sind die staatenlosen Plantagenarbeiter in der Dominikanischen Republik und in Sri Lanka. Bei Letzteren geht es um mehrere hunderttausend Arbeiter aus dem indischen Bundesstaat Tamil Nadu. In der Dominikanischen Republik handelt es sich um Haitianer, die seit langem auf den Zuckerrohrplantagen des Nachbarstaats leben. Die dominikanische Regierung verwehrt deren Kindern die Staatsbürgerschaft, trotz der Verurteilung durch den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte und obwohl es in Lateinamerika die Regel ist, dass jeder der Nation angehört, auf deren Boden er geboren ist.

Philippe Rekacewicz

Le Monde diplomatique vom 14.03.2008, von Philippe Rekacewicz