14.03.2008

Wer nicht bleiben kann, muss fliehen

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Wer nicht bleiben kann, muss fliehen

Mehr als 10 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Nur die wenigsten genießen den Schutz der Vereinten Nationen von Philippe Rekacewicz

Es war in Ruanda, erzählt William Spindler, der Sprecher des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR). „Ich stand mit meinen Kollegen an der Zollstation, um die über die Grenze hereinströmenden Menschen zu zählen und den unmittelbaren Hilfsbedarf einschätzen zu können. Wir rechneten an diesem Tag mit 20 000 Personen, und wir hatten die gleichen Zählgeräte, wie sie Stewardessen im Flugzeug zum Zählen der Passagiere benutzen. Nach nur einer Stunde waren schon über 20 000 Menschen an uns vorbeigezogen!“

Spindler und seine UNHCR-Kollegen nahmen an diesem Tag 350 000 Flüchtlinge in Empfang: „Das entspricht zweimal der Bevölkerung von Genf. Und alle brauchten eigentlich sofort ausreichende Nahrung und medizinische Betreuung. Aber was konnten wir tun? Nichts, wirklich gar nichts, außer ohnmächtig mit anzusehen, wie am Straßenrand Menschen starben und Kinder geboren wurden. Und denen notdürftige Hilfe zu leisten, die in unserer Nähe waren.“ Bei Massenbewegungen dieser Größenordnung – die glücklicherweise immer noch die Ausnahme sind – ist es unmöglich, in den ersten Stunden, also dann, wenn die Gefahr am größten ist, die nötige erste Hilfe zu organisieren.

Die Institution des HCR ist von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UNO) mit der Hilfeleistung bei humanitären Krisen beauftragt. Und tatsächlich ist es ihr auch in dem beschriebenen Fall gelungen, eine Logistik auf die Beine zu stellen, mit deren Hilfe sie binnen 48 Stunden 500 000 Personen mit dem Notwendigsten versorgen konnte. So etwas lässt sich natürlich nicht improvisieren. Man braucht dazu eine eingespielte Organisation und die nötigen Ressourcen. Dazu gehören erstens die 300 Köpfe des logistischen und medizinischen Personals, die auf den fünf Kontinenten in „Bereitschaft“ stehen und jederzeit für einen Einsatz vor Ort abrufbar sind.

Dazu gehören zweitens die hunderttausenden von Plastikplanen, Zelten, Eimern, Kochgeschirr, Decken und Moskitonetzen, aber auch Lastwagen, Fertiglager und elektrische Generatoren, die von den Depots in Dubai, Kopenhagen, Amman, Accra oder Nairobi mit Transportmaschinen ins Krisengebiet geflogen werden können. Und drittens gehört dazu die Unterstützung durch das Welternährungsprogramm (WEP), das die nötigen Mengen von Lebensmitteln bereitstellt oder beschaffen hilft, aber auch die Hilfe zahlreicher NGOs an den Einsatzorten.

Nahrung, Obdach und Rechtssicherheit

Die humanitäre Hilfe beginnt stets als Wettlauf mit der Zeit, bei dem es um die Rettung von Menschenleben geht. Vordringlich sind also Nahrungsmittel, medizinische Versorgung und ein – sei es auch ein noch so notdürftiges – Dach über dem Kopf. Sobald die ersten Hilfeleistungen in Gang gekommen sind, beginnt die lange und schwierige Prozedur, die Flüchtlinge zu registrieren und für ihren Schutz zu sorgen. Mit dem Überschreiten der Grenze haben sie ihre staatsbürgerlichen Rechte des Heimatlands verloren, aber in dem Aufnahmeland, das ihnen Asyl gewährt, besitzen sie noch keine. Es ist Aufgabe des HCR, diese Flüchtlinge unter seine Fittiche zu nehmen, und das bedeutet nicht nur Schutz für Leib und Leben, sondern auch Rechtssicherheit. Um aber die erforderlichen Budgets zu erstellen, muss die schutzbedürftige Bevölkerung zuerst identifiziert werden.

„Die Registrierung beim HCR in den Aufnahmeländern erfolgt freiwillig und bleibt jedem Einzelnen überlassen“, sagt Karl Steinacker, Chef der Abteilung für Koordinations- und Informationshilfe vor Ort. „Die Flüchtlinge entscheiden selbst, ob sie sich ausweisen wollen. In Ecuador hatten wir 25 000 Kolumbianer registriert, die vor der Guerilla geflohen waren, aber wir wussten, es gab sehr viele mehr. Viele hielten es für nutzlos oder gar gefährlich, sich zu melden. Erst durch eigene Recherchen konnten wir ermitteln, dass es 240 000 weitere Flüchtlinge gab, und sie entsprechend schützen.“

Über den gesamten Planeten verstreut gibt es mehrere hunderttausend Personen, die zwar Anspruch auf den internationalen Flüchtlingsstatus hätten, aber unsichtbar bleiben. Der HCR sprach Ende 2006 von 10 Millionen erfassten Flüchtlingen, während das US-Komitee für Flüchtlinge und Immigranten (USCRI) 14 Millionen zählte. Verantwortliche des HCR und der humanitären NGOs geben ohne weiteres zu, dass sie die Flüchtlingsbevölkerungen vor Ort unterschätzt haben.

In Thailand etwa trifft die Regierung eine strenge Auslese, wem sie den Flüchtlingsstatus zuerkennt und wem nicht. In den Lagern entlang der thailändisch-birmesischen Grenze nehmen Armeeoffiziere jeden einzelnen Antrag auf Registrierung beim HCR akribisch unter die Lupe: Sie allein entscheiden in letzter Instanz, wer welchen Status bekommt. Von den afghanischen Flüchtlingen leben viele schon in der zweiten Generation entweder im Iran (wo sie eher 2 Millionen sind als 1 Million, wie die offiziellen Statistiken besagen) oder in Pakistan, wo schätzungsweise 2 Millionen bis 3 Millionen gestrandet sind (und nicht 1 Million bis 2 Millionen).

Um die Aufgabe der Statistiker noch komplizierter zu machen, hat die iranische Regierung eine neue Vorschrift erlassen: Flüchtlinge sind verpflichtet, für eine Summe im Gegenwert von etwa 140 Dollar eine Arbeitserlaubnis zu erwerben. Mit der Folge, dass sie als „legale Arbeitskräfte“ aus den HCR-Registern herausfallen.

In Syrien und in Jordanien schließlich sind mittlerweile so viele Flüchtlinge aus dem Irak eingetroffen, dass es mindestens zwei Monate dauert, bis sie registriert sind und ihre Rechte geltend machen können.

Insgesamt nehmen die Entwicklungsländer über 80 Prozent aller Flüchtlinge auf. Dabei belasten die größten Kontingente vor allem die Ärmsten: die Demokratische Republik Kongo (zwischen 200 000 und 300 000, einschließlich der Binnenflüchtlinge sind es 1,7 Millionen), Syrien (über 1 Million), Jemen (100 000), Tansania (etwa 500 000) Pakistan (über 1 Million), Jordanien (zwischen 2,3 und 2,5 Millionen). Keines dieser Aufnahmeländer wäre in der Lage, die Verantwortung für solche Flüchtlingsströme allein zu tragen. Alle sind auf die logistische und finanzielle Hilfe der nördlichen Staaten angewiesen, die über die Vereinten Nationen und deren Netz von Unterorganisationen kanalisiert wird.

Dabei ist die Lage der Flüchtlinge immer noch sehr viel überschaubarer als die der Binnenflüchtlinge. Auch sie mussten ihre Heimat verlassen, ohne aber den Status von Flüchtlingen beanspruchen zu können. Sie sind Flüchtlinge im eigenen Land. Der UN-Flüchtlingskommissar und ehemalige portugiesische Premierminister António Guterres sagt dazu: „Die betreffenden Staaten berufen sich auf ihre Souveränität und warnen vor der ‚Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten‘, so dass uns kaum Möglichkeiten bleiben, diesen bedrohten Menschen zu helfen.“

Guterres fordert zudem ein besonderes Mandat für extreme Fälle, wie sie etwa in Kolumbien, im Irak, in der Demokratischen Republik Kongo, in Aserbaidschan oder im Sudan vorliegen. „Hier können wir leider nur einem Teil der Betroffenen – 1,3 Millionen von 5 Millionen – Hilfe leisten. Wir sind außerordentlich besorgt um das Schicksal von Millionen Flüchtlingen auf der Welt, die außerhalb unserer Reichweite bleiben, das ist eines der Probleme, an denen wir mit höchster Priorität arbeiten.“

Tatsächlich sind viele von ihnen nur schwer zu erreichen und oft genug sich selbst überlassen, weil der Staat – sofern er nicht selbst der Unterdrücker ist – schlicht und einfach keine Mittel hat, ihnen zu helfen. Aber es gibt auch den entgegengesetzten Fall, berichtet ein humanitärer Mitarbeiter aus eigener Erfahrung: „Zuweilen werden Flüchtlinge von staatlicher Seite instrumentalisiert, um Druck auf die internationale Öffentlichkeit auszuüben, wie Aserbaidschan es mit seinen hunderttausenden Vertriebenen aus Bergkarabach gemacht hat. Immer wieder wurden diese Menschen im Fernsehen gezeigt, elende Gruppen von Flüchtlingen, die in der Nähe des Bahnhofs von Baku bei Wind und Wetter in ausrangierten Zügen überlebten. Eine Zeit lang gestatteten die Behörden nicht einmal Schul- oder Ausbildungsprogramme, um aller Welt zu demonstrieren, dass deren Situation nur provisorisch ist. Dafür wurde dann eine ganze Schülergeneration geopfert.“

In Georgien wiederum kamen die 250 000 Flüchtlinge aus den umkämpften Regionen Abchasien und Südossetien nicht nur in ausrangierten Zügen unter, sondern auch in zerfallenen Gebäuden oder beschlagnahmten Hotels, berichtet Manana Kurtubadse, Geografieprofessorin an der Universität von Tiflis: „Hunderte von Familien aus diesen Gegenden lebten zusammengepfercht in den winzigen Zimmern der Hotels Adjara und Iveria im Stadtzentrum. Sie waren sichtbar wie auf dem Präsentierteller. Wenn wir zur Arbeit gingen, kamen wir oft dort vorbei, und der tägliche Anblick dieser Elendsquartiere verstärkte unser schlechtes Gewissen. Gegen Ende des Jahres 2005 wurden sie gebeten, ihre Unterkünfte zu räumen, dafür wurden ihnen 7 000 Dollar angeboten, um sich kleine Wohnungen zu kaufen und dort niederzulassen. So wurden die überall in der Hauptstadt und in den Vororten verstreuten Flüchtlinge schließlich unsichtbar. Seither spricht man kaum noch von ihnen, aber das Problem ist geblieben.“

Auch hier stellt sich die Frage, was von den offiziellen Zahlen zu halten ist. Vor kaum zehn Jahren wurde die norwegische Abteilung des Internationalen Beobachtungszentrums für Binnenflüchtlinge (IDMC) von der UNO beauftragt, eine Datenbank anzulegen und zu betreiben. Diese Institution als quasi höchste Autorität schätzt die Gesamtzahl der Binnenflüchtlinge auf 26 Millionen. In dieser Zahl sind allerdings nur Vertreibungen „aufgrund von Konflikten, politischer Gewalt oder Menschenrechtsverletzungen“ erfasst, erläutert Frédérik Kok, der Forschungsbeauftragte des IDMC: „Die größte Schwierigkeit besteht darin, eine Definition zu finden, die den vielfältigen Ursachen von Vertreibungen gerecht wird.“

Kok nennt einige Beispiele: „Durch die großen Entwicklungsprojekte – Bau von Staudämmen, Industriezentren oder Plantagen – werden pro Jahr zwischen 5 Millionen und 15 Millionen Menschen heimatlos. Und bei Vertreibungen im Zusammenhang mit Umweltproblemen ist die Größenordnung noch spektakulärer: Das Zentrum für Katastrophenforschung (Cred) gibt die Zahl der Betroffenen für 2006 mit 145 Millionen an. Genaue Zahlen zu bekommen, ist schwierig, aber man kann annehmen, dass die Zahl der Vertriebenen aufgrund großer Entwicklungsprojekte und Naturkatastrophen fünf- bis sechsmal höher liegt als die der Opfer von politischen Konflikten. Ingesamt dürften zwischen 100 Millionen und 200 Millionen Menschen von Vertreibungen betroffen sein.“

Nachdem das Definitionsfeld für die Art der Gewalt, die eine Flüchtlingsbewegung auslöst, derart ausgeweitet wurde, müssen die Analysten des IDMC beträchtliche Informationslücken einräumen. Bisher haben sie die Lage der Flüchtlinge in fünfzig Ländern erfasst. Jetzt denken sie daran, diese Liste durch Staaten wie China und Brasilien und einige von Überflutung bedrohte kleine Inselstaaten zu ergänzen.

Und womöglich auch die USA? „Ja, auch die USA!“, versichert Arild Birkenes, IDCM-Beauftragte für Lateinamerika. „Es ist höchste Zeit, dass wir uns mit den Folgen der Globalisierung, der Liberalisierung des Weltmarkts und den dadurch ausgelösten Fluchtbewegungen befassen. Wie viele hunderttausend mexikanische Bauern, die Erbsen, Mais oder Bohnen angebaut haben, wurden bereits durch die gnadenlose Konkurrenz hochsubventionierter amerikanischer Produkte ruiniert? Wie viele mussten ihren Betrieb aufgeben, ihren Grund und Boden verlassen. Und landen wo – meistens illegal? In den USA!“

Zu berücksichtigen sind natürlich auch die 400 000 Opfer des Hurrikans „Katrina“, von denen vor allem die Ärmsten immer noch nicht nach Hause zurückkehren konnten.

Neben den Ursachen „politische Konflikte“ und „bedrohte Umwelt“ zeichnet sich ein neue Art von Vertreibungen ab, die überwiegend wirtschaftliche Ursachen hat. Das macht die Charakterisierung von Wanderungsbewegungen noch komplizierter. Denn nach welchen Kriterien soll man Wirtschaftsmigranten von „einfachen“ Migranten oder Flüchtlingen unterscheiden? Das sind Fragen, die den Verantwortlichen des HCR ernsthafte Sorgen bereiten.

„Seit einigen Jahren haben die Migrantenströme erheblich zugenommen; die Ursachen dieser Migrationen sind so vielfältig wie nie zuvor“, sagt UN-Flüchtlingskommissar António Guterres. „An manchen Aufnahmestellen lassen sich die Wirtschaftsmigranten immer schwerer von den Flüchtlingen unterschieden, die Krieg oder Verfolgung entkommen wollen. Wie soll man den Flüchtlingen, die unter unser Mandat fallen, im Rahmen dieser ‚gemischten Migrationsbewegungen‘ noch wirksame Hilfe und Schutz garantieren? Die Vermischung von Fragen des Asylrechts und der Migration stellt uns vor eine ganz neue Situation, die wir ohne eine Zusammenarbeit mit Organen wie der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und den NGOs vor Ort gar nicht bewältigen könnten.“

Wenngleich Wirtschaftsmigranten und Flüchtlinge nicht immer dieselben Routen benutzen, begegnen ihnen doch an denselben Orten die größten Gefahren: zwischen Afrika und den Kanarischen Inseln, vor Gibraltar und der italienischen Insel Lampedusa, im Ägäischen Meer, im Golf von Aden – wo die Menschenschmuggler unvorstellbar grausam sind –, an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, an der südafrikanischen Grenze, in der Karibik und in Australien. Ist das Schicksal der Flüchtlinge denn so verschieden, dass man sie um jeden Preis in unterschiedliche Kategorien stecken muss? Auch der Wirtschaftsmigrant hatte womöglich keine andere Wahl, als seine Heimat zu verlassen. Warum sollte nicht auch er Anspruch auf internationalen Schutz haben?

„Heute ist es nicht mehr angebracht, hier noch Unterschiede zu machen“, meint Arild Birkenes. „Selbst wenn die Migrationen vielfältige Ursachen haben, sind die Konsequenzen doch die gleichen. Jeder Mensch, der an Bord eines nicht mehr seetüchtigen Wracks aus dem Meer gefischt wird oder der in einem Sattelschlepper oder Container versteckt gefunden wird, verdient den gleichen Schutz und die gleichen Rechte.“

Dieses Paradox erklärt die spürbare Verunsicherung mancher HCR-Vertreter. Die Organisation hat übrigens begonnen, an kritischen Punkten wie etwa auf Lampedusa kleine Büros zu eröffnen, um sicherzustellen, dass die Neuankömmlinge erstens an Land gelassen werden und zweitens bei einer lokalen Behörde einen Asylantrag stellen können.

Das HCR wie die großen humanitären NGOs betonen neuerdings immer nachdrücklicher die Notwendigkeit, ihr Mandat der neuen Situation anzupassen. In der jüngsten Vergangenheit mussten bestimmte Gruppen wie Binnenflüchtlinge, hilfsbedürftige und besonders gefährdete Personen, aber auch die in ihre Ursprungsländer zurückgeführten Flüchtlinge in die Liste der Schutzbefohlenen aufgenommen werden. Nicht ausgeschlossen, dass demnächst auch in der offiziellen UN-Sprache ein neuer Begriff auftaucht: Wirtschaftsflüchtlinge.

Aus dem Französischen von Grete Osterwald

Le Monde diplomatique vom 14.03.2008, von Philippe Rekacewicz