Letztes Jahr starb Captain America
Kennen Sie Leute, die den mögen, brauchen oder faszinierend finden? von Dietmar Dath
Die letzten fünf Jahre waren für linke Mitteleuropäer, die sich gern in den Vereinigten Staaten von Amerika aufhalten, ein Tränental, von dem wir später gar nicht mehr werden glauben können, dass wir es tatsächlich halbwegs aufrecht durchmessen haben. Pausenlos hat man uns bedrängt, bequatscht, belagert – die halbe, ach was, die ganze amerikanische Pop- und Gegenkultur, in deren Glanz und Schmutz wir uns sonst so gern sonnten und suhlten, konnte vor lauter sozialethischer Kritik, skeptischer Verantwortlichkeit und mahnender Konstruktivität plötzlich kaum mehr einen zusammenhängenden spaßigen Satz, geschweige eine prägnante Obszönität krächzen.
Der Country-Sänger Steve Earle zum Beispiel, den man für sein Geknödel ja ganz gernhaben mag, der aber von seinem Schöpfer sicher nicht als geopolitischer Leitartikler geplant gewesen war, fing plötzlich an, von der Notwendigkeit einer Revolution und von den Gemeinheiten der CIA zu singen; der gutherzige Kastenkopf Tim Robbins entblößte auf bezahlten Anzeigenseiten in der wackeren Zeitschrift The Nation sein staatsbürgerliches Gewissen; und selbst der große Mütterschreck Eminem, der zuvor mit schnellen Nummern übers Vergnügen am Morden, Schänden und Nägel-in-Kinderaugen-Drücken zu gefallen wusste, quakte im November 2004 in einem Videoclip gegen den doofen Präsidenten.
Dieser George W. Bush, Ursache und Brennpunkt der Unannehmlichkeiten, hat sich das gewiss selbst zuzuschreiben – wer im Verein mit verbotenen Gesichtern wie Herrn Rumsfeld und Herrn Cheney militärischen Massenmord und faustdicke Lügen in selbst für die Verhältnisse einer ausgewachsenen Großmacht nicht alltäglichem Ausmaß organisiert und dann auch noch auf einem Pressefest Witze über die nicht aufzufindenden Wunderwaffen des Saddam Hussein reißt, der verdient Schlimmeres als empörte Schauspieler, besorgte Rapper und die gerümpften Nasen der Dixie Chicks.
Was aber im Namen der Erniedrigten und Beleidigten von Bagdad bis Los Angeles lange genug im Fernsehen, im Radio und im Internet wütet, verstopft schließlich jeden Kubikmillimeter aufsichtsfreien Raums – in einer Weltgegend, deren anhaltender Ruhm als Sehnsuchtsort der Träume und Touristen eigentlich davon lebt, dass sie so wunderschöne menschenleere Zonen und sinnfreie Gebäudeanhäufungen hat. Die menschenleeren Zonen, wir erinnern uns, haben es dem Regisseur John Ford erlaubt, sich die Westernpanoramen von „The Searchers“ einfallen zu lassen, und die majestätischen Großstadtsilhouetten konnten den Comiczeichner Jack Kirby dazu anregen, horizontsprengende Kulissen für die Titanentaten seiner „Eternals“, „Celestials“ und „New Gods“ zu entwerfen.
Mit Weitläufigkeit und Größe war es jetzt vorbei. Nirgends ein Entkommen, seit die Bewohner der USA ihre kollektive Antwort auf die Verletzung ihres Hoheitsgebiets durch die verrückten Killer vom 11. September 2001 erst formulieren mussten und dann das Echo dieser Antwort bald fürchten und verabscheuen lernten. Überall, wo ich mich im fraglichen Zeitabschnitt drüben von meinem deutschen Seelenschrott zu erholen suchte, ob in Utah, North Carolina oder Alaska, rückten mir alsbald Demokraten und schlotternde liberals auf den Pelz: Ob ich das nicht gerade als aufgeklärter Europäer auch alles ganz unbeschreiblich fände, diesen Krieg da, in diesem seltsamen Land, wo die Leute doch sowieso schon so arm seien, und überhaupt den Rechtsruck unter Bush, ferner die Klimakatastrophe, an der die Republikaner ja irgendwie auch Schuld trügen, und hatte nicht eben einer von Dick Cheneys engsten Freunden einen Evolutionswissenschaftler mit einer illustrierten Analphabetenbibel erschlagen?
Der Höhepunkt des Grauens war erreicht, als eines Nachmittags an einer Hotelbar des UFO-Wallfahrtsorts Roswell in New Mexico ein ortsansässiger Intellektueller sich uneingeladen über mein Getränk hinweg auf mich lehnte und wissen wollte, wieso man als Deutscher überhaupt noch ins Land komme, ob das nicht Verrat an meiner eigenen, rechtschaffen aufständischen Regierung unterm mannhaft antiimperialistischen Kanzler Schröder darstelle? „Wir Deutschen sind Schlimmeres gewohnt“, hätte ich sagen sollen, am besten mit Erich-von-Stroheim-Nazi-Akzent. Aber der Schock, umgeben von Kakteen und Skorpionen im weinerlichen Tonfall der Friedensbewegung von 1984 angequatscht und verhört zu werden, ließ mich verstummen. Er wird’s als Zustimmung aufgefasst haben. Wie konnte es so weit kommen?
Was war mit unserem Amerika passiert, und vor allem mit dessen Propagandaabteilung, der Kulturindustrie und ihrem berühmten Kulturimperialismus? Um das zu verstehen, müssen wir etwas weiter ausholen, ein breiteres Format anstreben, sagen wir: Cinemascope.
„Die Kulturindustrie“ ist ein Begriff, den die beiden Kritik-Titanen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer unter dem Eindruck des aufkommenden Hollywood-Studiosystems und anderer kapitalistisch-amerikanischer Riesenfolklore erfanden. Das bisschen Analyse, das an dem Wort hängt, ist in dem Slogan „Aufklärung als Massenbetrug“, den die beiden daran hefteten, vollständig enthalten. Diese Denkfigur folgt im Wesentlichen dem Vorbild einiger Andeutungen des späten Marx: Der schöne abstrakte Reichtum, den die Industrialisierung Europas unter Profitzwang hervorgebracht hatte und dessen Erzeugungspotenzen die wirtschaftliche Basis für Sozialismus und Kommunismus bilden sollten, begann in Marxens müden alten Augen, als der Sozialismus doch nicht so schnell wie gehofft zustande kam, mehr und mehr einem gigantischen Müllberg zu gleichen.
Der Zweck verdummt noch lange nicht die Mittel
Lag es wirklich nur an der Produktionsweise, oder griff deren Verfaulen auf die Produktivkräfte selbst über? War nicht nur die Lohnarbeit ein großer Quatsch, sondern am Ende sogar das moderne Werkzeug selbst? Wurde aus Apparaten, die Reichtum schafften, allmählich eine Zerstörungsapparatur, die Werte zerschlug? Allzu deutlich und apokalyptisch hat er derlei nie behauptet, weil er es als Nachfahr der Aufklärer und vernünftiger Bürger des 19. Jahrhunderts nicht glauben konnte (es stimmt ja auch nicht).
Aber die späte Marx’sche Migräne sandte ihre Ausläufer bis in die Köpfe Adornos und Horkheimers. Die leiteten daraus die Variante ab, jede nach rationalen Kriterien auf industrielle, arbeitsteilige, präzise Weise erzeugte Massenkunst und -kultur setze zwingend eine gigantische Verblödungsdynamik frei. Der Zweck, aus Geld mehr Geld zu machen, verdummt die Mittel, auch die der Kommunikation, und deren Dummheit vergiftet dann alle, die sie gebrauchen.
Diese finstere Überlegung ist dem Verstand nur dann verdaulich, wenn man die unheilsprophetische Gruselsuppe vorher abgießt, in der sie schwimmt. Die Emigranten Horkheimer und Adorno fürchteten sich nämlich vor allem davor, Kino und Jazz könnten komplexere, reichhaltigere Arten der Kunst und des Kunsterlebens zum Verschwinden bringen. Diese Angst galt einem Popanz, wird aber trotzdem immer wieder aufgewärmt. Heute warnen Leute, die an ähnlicher Furcht leiden, vor einer angeblich drohenden Abschaffung von Kino und Jazz qua DVD und Technolärm.
Neue Medien und Künste ersetzen alte aber nie auf diese primitive Weise, auch dann nicht, wenn sie sich besser als jene zur Massenfertigung von Information oder Zerstreuung eignen. Sie ergänzen nur das Menü. Es ist wie in der Ökologie: Wenn das Reptil für bestimmte Nischen die beste evolutionäre Lösung ist, dann wird es in diesen auch das Aussterben der Saurier überleben.
Dass alles, was sich der Modernisierung widersetzt, dies aus Freiheitsdrang, Individualismus und innerer Fülle tut, ist dagegen ein Märchen, von dessen fragwürdiger Leuchtkraft gerade im alten Europa die übelsten Spielarten des Kunstgewerbes zwischen Straßenpantomime und Manufactum-Gerümpel ihren fahlen Trostschimmer beziehen. Es verhält sich dabei im Kulturellen wie mit der Industrie auf anderen Sektoren: je urtümlicher, agrarischer, zurückgebliebener das Ganze, desto Hungersnot, Schmutz und Stammeskrieg. Also auch: je weniger Fernsehen und Popmusik, desto Dorfpfarrer, Krippenspiel, Tabu und Scherbengericht.
Die Wahrheit lautet nämlich, dass Produktivkraftfortschritte nach wie vor das Potenzial auch kulturellen Wandels zum Interessanteren, Neuen bergen; nur wird es mit zunehmender Monopolisierung der Verfügung über Produktivkräfte insgesamt immer schwieriger, diese Potenziale länger als für ein paar Augenblicke freizusetzen. Daran ist aber nicht die Produktivkraftentwicklung schuld oder die Technik oder die Masse, sondern der Kapitalismus, diese blöde Scheiße.
Dem Fordismus in den Autofabrikhallen der USA entsprach das Studiosystem von Hollywood. Mit dem Aufkommen des Computer Aided Design und des Computer Aided Manufacturing, mit der Modularisierung und Flexibilisierung, mit den „working poor“ und der neuen Laptop-Tagelöhnerwirtschaft dagegen entstehen zum Beispiel a) in der Popmusik Phänomene wie Homerecording und Wohnzimmertechno, b) im Comicwesen das coole Self-Publishing und c) im Journalismus die brodelnde Blogosphäre. Das Basis-Überbau-Schema, das man heranziehen sollte, um diese Korrespondenzen zu verstehen, kann gar nicht grob genug sein.
Adornos und Horkheimers Lieblingsidee von der „Aufklärung als Massenbetrug“ läuft darauf hinaus, dass aus der Aufklärung zwangsläufig ein neuer Mythos habe werden müssen, weil die verwaltete Welt alles unter ihrem Unheils- und Verblendungszusammenhang subsumiert, – spätestens im amerikanischen, pragmatischen, positivistischen Stadium ihrer Entwicklung. Diese Zwangsläufigkeit aber war im Wesentlichen die Autosuggestion zweier Enttäuschter. Das geht wie in der Liebe: Der Partner, von dem ich mich abwende, ist zwar erst in den letzten Monaten ein Mistvieh geworden, war das aber eben deshalb immer schon, es hat sich jetzt nur enthüllt.
Die wahre Verbindung zwischen der Kulturindustrie einerseits und den amerikanischen Spielarten von Gegenaufklärung und Massensuggestion andererseits ist viel weniger zwangsläufig, viel spezifischer, historischer, politischer: Die USA hatten schlicht das Pech, ihre eigenen Gründungsvoraussetzungen zu überleben, in denen das Bürgerliche mit dem Aufgeklärten noch unmittelbar zusammenfiel.
Thomas Jefferson und seine Freunde waren treue Schüler der Französischen Revolution und also auch des aufgeklärten Denkens. Aber die konsequenteste Zuspitzung dieses Denkens, die sozialistische Linke, wurde rund anderthalb Jahrhunderte später Existenzvoraussetzung der Sowjetunion, also ausgerechnet des größten und gefährlichsten Konkurrenten des von Jefferson und Co. gegründeten Staates. So bewirkten die Frontstellung im Kalten Krieg und die Verteidigung der Besitzordnung, auf welche die USA außer auf schöne und wahre Ideen eben auch gegründet ist, dass just der Staat, in dem die Aufklärung zum ersten Mal dauerhaft haltbare Verfassungsprämissen für einen modernen Flächenstaats liefern durfte, überall auf der Welt das Aufkommen aufgeklärter Gemeinwesen verhinderte. Die Gefahr eines Bündnisses dieser neuen Nationen, in Afrika, Asien oder Lateinamerika, mit der Sowjetunion durfte schlicht nicht riskiert werden.
Das „Mutterland der Demokratie“ unterstützte also Diktatoren, religiös Rückständige, korrupte Herrscherdynastien – und zahlt heute, da die sozialistische Konkurrenz in die Knie gegangen ist, den Preis dafür. Hätten die US-Amerikaner den Russen deren Krieg in Afghanistan nicht mittels finanzieller, logistischer und kulturindustrieller („Rambo 3“) Unterstützung islamischer Freiheitskrieger viel schwerer gemacht, als er eh schon war, müssten sie ihren eigenen Krieg dort jetzt nicht führen.
Oft hat man als europäischer Linker den Eindruck, „kritische“ weiße, männliche Amerikaner gebe es in dieser Kultursphäre gar nicht. Selbst die Anarchisten und Unruhestifter unter den Popstars, die Iggy Pops oder GG Allins, waren und sind brave Yankees oder Cowboys, zumindest aber echte New Yorker, etwa so wie Oskar Maria Graf außer irgendwie linksradikal vor allem Bayer war. Den Gedanken der prinzipiellen, durchdachten Umstürzlerei, denkt man dann gern, versteht der gebürtige Amerikaner einfach nicht, weil selbst der Unangepassteste da drüben seine Unangepasstheit unter Bezugnahme auf ein letztlich patriotisches Freiheitsverständnis auslebt. Noch der ausgeklinkteste Hippie oder wütendste Yippie fordert also im Grunde nichts anderes, als dass endlich eingelöst werde, was die Prärie, die Eisenbahn, die breiten endlosen Straßen und die Hochhäuser großen Einzelspinnern wie Walt Whitman, Ezra Pound, Jack Kerouac oder Ayn Rand schon immer zu versprechen schienen.
Dass der kunsterzeugende Norm-Amerikaner auch dann, wenn er als „counter-culture anti-everything lowlife“ (Allie Lowell) Krach schlägt, sein Land nie verraten könnte, ist aber eine optische Täuschung. Die hat mehr mit unsereinem zu tun als mit den Amerikanern – etwa so, wie Jean Baudrillard die amerikanischen Vorstädte, als er sie schließlich live in Augenschein nehmen konnte, für simuliert hielt, weil sie aussehen wie im Fernsehen (anstatt den viel simpleren und wahren Schluss zu ziehen, dass das Fernsehen, das er kennt, eben zu großen Teilen in Amerika gemacht wird). Der Irrtum kommt daher, dass wir selbst uns auch die Kritik an den Formen von Pop- und Massenkultur, die wir respektieren, andauernd aus Amerika holen und sie deshalb immer irgendwie für im affirmativen Sinn grundamerikanisch halten.
Flotte Kulturkritik aus dem Herzen der Bestie
Eine überzeugendere, kräftigere, wirksamere Kritik an beispielsweise Steven Spielberg als diejenige, die der amerikanische Punk-Autor und Underground-Filmemacher Crispin Hellion Glover aus intimster, ja obsessiver Kenntnis des Spielberg’schen Werkes heraus formuliert hat, ist aus europäischen Voraussetzungen gar nicht so leicht vorstellbar: „Gratuliert sich unsere Kultur dazu, sich für den Mangel an eigenständigen Ideen zu interessieren, den der Name Steven Spielberg personifiziert? Geht Steven Spielberg persönlich Risiken ein, oder simuliert er nur andauernd das Risiko? Welche Sorte Risiko war eigentlich damit verbunden, die Filme „Saving Private Ryan“ oder „Schindlers Liste“ zu drehen, oder damit, ein schwarzes Kind zu adoptieren? Hätte Steven Spielberg dieses Kind auch im tiefsten Süden der Fünfzigerjahre adoptiert, wenn er dabei riskiert hätte, ein nigger lover genannt zu werden? Waren die Adoption eines schwarzen Kindes und die Themen seiner Filme nicht in Wahrheit einfach Geschäftsentscheidungen, von denen er wusste, dass man ihm dazu gratulieren würde?“ So etwas zündet, weil es ebenso beherzt Pedal gibt, wie Spielberg seinerseits auf die Tränendüse drückt. Der Ton hat vom Ton desjenigen gelernt, den er da hasst und angreift.
Der Grund dafür, dass man sich als linker Europäer die inoffizielle Kultur aus derselben Gegend holt wie die offizielle, liegt auf der Hand: Vor Ort, im Herzen des Ungeheuers, lässt sich eben schneller jene Versiertheit im Umgang mit der offiziellen Kultur erwerben, die allein befähigt, ihr etwas im oben demonstrierten Sinne Zündendes entgegenzusetzen, sei es Parodie oder Satire, sei es eine segensreiche oder noch drögere Alternative („Indie-Rock“, um Gotteswillen), sei es offener Widerspruch.
Daran ist nichts neu: Schon die hiesige Studentenbewegung hat sich amerikanische Protestformen („Sit-in“), Modeaccessoires, Musik, Literatur besorgt, als es gegen das ging, was (folgerichtig ebenfalls auf Englisch) „Establishment“ genannt wurde, und gegen „die Amis in Vietnam“. Bis spätestens 1990 ist zu den Kraftakten der lebendigen Opposition wie zu notwendigen Modernisierungen des kleinbürgerlichen Ambientes fast immer amerikanische Begleitmusik gespielt worden – oder die mit dieser in einem interessanten Spannungsverhältnis stehende britische, als Sound eines absterbenden Imperiums, das gegen ein neues andudelt.
Was wären Godard, Truffaut oder Antonioni ohne ihre Hollywooderfahrungen, ihre Liebe zu dem Zeug, ihren Trotz dawider? Nur die Deutschen mussten in dieser dialektischen Komödie wieder sterilen Mist vom „dritten Weg“ spinnen. Das Ergebnis konnte natürlich – der Weltgeist hat Humor – nur mindere, weniger souveräne Hollywoodkunst werden, von Wim Wenders über den „Spätzle-Spielberg“ Roland Emmerich bis hin zu Oliver Hirschbiegels „Untergang“, in dem die Zweiter-Weltkriegs-Ästhetik einschlägiger Spielberg-Filme auf Budget und Kunstverstand des Großberliner Gymnasialgeschichtsunterrichts herunterkommt.
Warum also, wenn doch der Vorrang der amerikanischen Popkunstfabrikation für mindestens so lange gesichert scheint, wie die USA die Welt auch militärisch Mores lehren können, waren die letzten fünf Jahre von Gewinsel, Händeringen und dem „Antiamerikanismus der amerikanischen kulturellen Linken“ (Richard Rorty) erfüllt? Nur wegen Bush?
Nicht nur, nein.
Wer keine Comics liest, wird es nicht mitgekriegt haben: Letztes Jahr ist Captain America gestorben. Diese Figur, die schon im Zweiten Weltkrieg an der Seite von „Sub-Mariner“ und „Human Torch“ gegen Nazis und Japaner gekämpft hat und in den Sechzigern und Siebzigern die patriotischste Gestalt im Figurenverzeichnis des damaligen Marktführers Marvel Comics war, fiel 2007 einem Bürgerkrieg zum Opfer – dem großen, auf fast alle wichtigen Heftserien des Verlags übergreifenden Handlungsbogen namens „Civil War“.
Der erzählt die Geschichte eines Bruderzwistes zwischen zwei Parteien unter den Superhelden: Nach einem katastrophalen Zwischenfall bei der Verbrecherjagd, bei dem die Superkräfte beteiligter Kostümträger Verheerungen vom Ausmaß der Anschläge vom 11.September 2001 anrichten, leiht die eine der beiden Parteien, angeführt vom „Iron Man“ Tony Stark, ihre Autorität einem neuen Sicherheitsgesetz, das alle Superhelden zwingt, ihre geheimen bürgerlichen Identitäten der Regierung zu melden und sich derselben als Exekutivtruppen der inneren Sicherheit zur Verfügung zu stellen.
Die andere Partei, angeführt vom Champion der Freiheit, Captain America, verweigert diese Registrierung, weil sie qua Abschaffung verbriefter Bürgerrechte gegen die Verfassung verstößt, auf die der Captain einen Eid geschworen hat („and he never stopped fighting for what he believed in“). Als diesem eidestreuen Patrioten aber klar wird, dass der Blutzoll, den seine Kampagne des zivilen Ungehorsams fordert, für seinen Geschmack zu hoch zu werden droht, kapituliert er – und wird kurz danach auf der Treppe des Bundesgerichts in Manhattan, das ihm eine Anhörung gewähren will, von einem Attentäter erschossen. Dieser arbeitet, wo bliebe sonst das für Politdramatik heutzutage unerlässliche Quantum Verschwörungswahn, für einen Personenkreis, dem es vor allem auf das Anheizen weiterer Unruhen ankommt.
Das Problem mit diesem Stoff und der grafisch konservativen, starren Umsetzung: Das Ganze interessiert die Welt nicht, nur die Amerikaner. Superman versteht jeder, Mickey Mouse auch, aber Captain America? Seien Sie ehrlich: Kennen Sie Leute, die den mögen, brauchen oder faszinierend finden?
Hier liegt der Hund begraben. Das Hauptthema, fast das einzige der in Washington zusammengekochten Innen- wie Außenpolitik, heißt nämlich seit dem Winter 2001/2002 „wir selber“, das heißt: „Sicherheit“. Schon vor dem Anschlag auf die Twin Towers war die ökonomische Zugkraft der USA zusehends hinter ihrer geostrategischen Geltung zurückgefallen. Jetzt, da dem Selbstbild auch noch innerhalb der eigenen Grenzen eine schwere Wunde zugefügt worden war, ging es nur noch darum, ob die Tür richtig abgeschlossen ist und die Militärpolizei den dunklen Park im Blick behält.
Ein Land, das sich vor allem für Sicherheitsfragen interessiert, wird zwangsneurotisch, quält sich, macht sich Vorwürfe, und dann verfällt es in sentimentale Manien und Wunderlichkeiten. Die Künste, auch und gerade die populären, machen, wenn sie nicht an mangelnder Binnennachfrage verenden wollen, die auch für Hollywood immer noch wichtiger ist als der Weltmarkt, wohl oder übel mit.
Was dabei herauskommt, kann man mit vollem Recht „flächendeckende Reprovinzialisierung“ nennen (bei gleichzeitiger Ausdehnung der politischen und militärischen Weltrüpelei der USA). Die Kulturindustrie erzählt unter derlei Vorzeichen eine Weile nur noch Geschichten vom Hausgemachten, Partikularen: Amerikas große Romane der letzten Zeit handeln von Familienschicksalen, seine Fernsehserien, auch die besten, spielen in überschaubaren, isolierten räumlichen und zeitlichen Gehegen, alles passiert im Weißen Haus, alles passiert innerhalb von vierundzwanzig Stunden, alles passiert auf einer verwunschenen Insel ohne Kontakt zur Außenwelt.
Das Universelle, Totale, Bedeutsame gerät aus dem Blick. An seine Stelle treten entweder (im günstigen Fall) ästhetische Auseinandersetzungen mit der trostlosen Lage selbst – siehe die besagten Fernsehserien oder der vorzügliche Kitschcomic „Pride of Baghdad“, in dem ein amerikanischer Bomberangriff eine Löwenfamilie aus dem Bagdader Zoo befreit, die mit dieser Freiheit nicht zurechtkommt und am Ende von Rumsfelds Bodentruppen erschossen wird – oder aber zeitkritische Hiphop-Videos, dissidente Country-Stars, seichte Grübelfilme („Von Löwen und Lämmern“).
Unsereins, die kosmopolitischen, popwilligen Linken der Restwelt, musste also, während dieser Jammer seinen Lauf nahm, unter kaum auszuhaltenden Gähnkrämpfen lernen, dass es neuerdings eine Menge prominenter Amerikaner gibt, die keine mehr sein wollen, ja sogar solche, die sich schämen, dass sie welche sind (was mindestens so dämlich ist, wie darauf stolz zu sein).
Die verkniffene Freude einiger nicht nur deutscher Feuilletonkameraden darüber, dass das vielbeschworene amerikanische Jahrhundert in der gegenwärtigen geostrategischen Zwickmühle offenbar vor unseren Augen zu Ende geht, vermag ich nicht zu teilen. Captain America kommt vielleicht wieder hoch, zum Guten wie zum Bösen. Und wenn nicht, was soll’s: Rom ist ja auch nie ganz verschwunden.
Am besten machen sich Imperien nämlich nach wie vor als Steinbrüche für die humanistische Inneneinrichtung späterer Hochzivilisationen, wie eben das Römische, das als Latein (und Latinismus) bei den mehr oder weniger aufgeklärten Gebildeten der Neuzeit angenehm domestiziert fortleben darf.
Imperien und ihr gewaltsamer, erpresster Universalismus sind nun mal die unvollkommenen Platzhalter des emanzipierten, freien Universalismus, den sich erst ein Kollektiv leisten könnte, das rechtens „die Menschheit“ heißen dürfte. Falls eines Tages die politische Herstellung dieser Sorte Vergesellschaftung gelingt, so wird sie sich an die US-Kultur, die populäre wie die andere, gern erinnern, wenn auch mitunter peinlich berührt und gelegentlich verwundert. Wenn ich mir was wünschen dürfte, wär’s, dass Kulturschaffen und Kulturkritik vor allem der täglichen fleißigen Vorbereitung dieses Zustands dienten.
Dietmar Dath ist Schriftsteller und Journalist, zuletzt erschien: „Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2008. © Le Monde diplomatique, Berlin