11.04.2008

Als Hitler postum die Geschichte umschrieb

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Als Hitler postum die Geschichte umschrieb

von Niels Kadritzke

Im Rückblick ist das Geschehen nur noch grotesk. Am 25. April 1983 verkündete Peter Koch, Chefredakteur der Illustrierten Stern, die Entdeckung eines einzigartigen historischen Schatzes: 37 Konvolute mit handschriftlichen Aufzeichnungen Adolf Hitlers, geborgen aus den Trümmern eines 1945 abgestürzten Flugzeugs.

Im Stern vom 28. April, in dem die ersten Tagebuchseiten publiziert wurden, hieß es, nun müsse die Geschichte des Dritten Reiches „in großen Teilen neu geschrieben werden“. Acht Tage später war der Spuk zu Ende. Ein technisches Gutachten des Bundesarchivs entlarvte die Kladden als plumpe Fälschung.

25 Jahre später sind immer noch drei Fragen interessant. Die erste lautet: Wie konnte sich ein Blatt, das seinen Ruf auf knallharte, sauber recherchierte Enthüllungsgeschichten gründete, dermaßen blamieren? Die Antwort besteht aus einem Wort: Geld.

Angeschleppt hatte die Hitler-Tagebücher der Redakteur Gerd Heidemann, der notorisch klamm war. Bei ihm blieb ein Großteil der 9,3 Millionen D-Mark hängen, die der Stern für den falschen Schatz zahlte. Der Rest ging an den Fälscher Kujau, der für jedes gelieferte Heft kassierte: ein unwiderstehlicher Anreiz, Hitler-Seiten im Akkord zu fabrizieren.

Und Geld war das Motiv der Verlagsleitung von Gruner + Jahr. Für die erste Nummer mit den Gedanken des Führers wurde die Auflage um 30 Prozent, der Heftpreis von drei Mark auf drei fünfzig angehoben. Und der Verkauf von Lizenzen versprach Millionen.

Geld war auch der Grund, warum in der Stern-Redaktion alle Kontrollen versagten. Heidemanns Partner war Thomas Walde, der Leiter des Ressorts Zeitgeschichte. Er überzeugte die Chefetage des Verlags – hinter dem Rücken der Chefredaktion –, schon im Januar 1981 zwei Millionen Mark für die ersten Hitler-Kladden zu bewilligen. Als Ressortleiter war Walde für die fachliche Prüfung der Hitler-Tagebücher zuständig. Dass sein Sachverstand fortan ausgeschaltet blieb, lag an einem Vertrag mit der Verlagsspitze, der ihn zum Koautor der geplanten Hitler-Serie machte, mit 16 Prozent Beteiligung.

Dieser Vertrag enthielt zwei Klauseln, die das publizistische Desaster geradezu programmierten. Erstens war Heidemann von der Pflicht entbunden, „die näheren Umstände der Beschaffung und seine Quellen preiszugeben“. Zweitens durften „weitere Mitarbeiter, etwa Historiker, nur mit Zustimmung der Autoren verpflichtet“ werden. Damit war jede Kontrolle abgeschafft.

Und die Chefredaktion? Als das Dreierkollegium im Mai 1981, mit vier Monaten Verspätung, von der Verlagsleitung in den Hitler-Scoop eingeweiht wurde, waren die Herren schwer beleidigt. Doch keiner von ihnen trat unter Protest zurück. Sie waren durch Jahresprämien „am wirtschaftlichen Ergebnis“ des Stern beteiligt.

Geld trübt den Blick. Viel Geld macht blind. Und in diesem Fall auch farbenblind. Denn welche politischen Inhalte wollte der Stern verkaufen? Das ist der zweite und zu oft übersehene Aspekt der gefälschten Tagebücher.

Als Heidemann und Walde am 28. April 1983 die ersten Happen servierten, hätte es jedem historisch gebildeten Leser den Magen umdrehen müssen. Da notiert der Stern-Hitler am 10. November 1938 über die Judenpogrome der vorangegangenen Nacht: „Es geht nicht das (sic!) unserer Wirtschaft durch einige Hitzköpfe Millionen und aber Millionenwerte vernichtet werden allein schon an Glas. … Sind diese Leute denn verrückt geworden? Was soll das Ausland dazu sagen. Werde sofort die nötigen Befehle herausgeben.“ Die Message lautet: Der Führer hat von nichts gewusst und versucht, die Scherben zusammenzufegen.

Am 11. November 1939, zwei Tage, nachdem der Anschlag des schwäbischen Arbeiters Georg Elser im Münchner Bürgerbräukeller den Diktator nur knapp verfehlt hatte, verdächtigt der Stern-Hitler speziell Himmler: „nachdem ich ihm angedroht habe, ihm (sic!) wegen der Anschuldigungen in Polen, wegen Mißachtung meiner Befehle vor ein Parteigericht zu stellen … Dieser hinterhältige Kleintierzüchter mit seinem Drang zur Macht, dieser undurchsichtige Buchhaltertyp wird mich auch kennenlernen.“ Was der Führer damit meinte, erläutert der Stern so: „Vier Wochen zuvor hatte er Himmler Weisung gegeben, in Polen ‚keine Repressalien gegenüber der Bevölkerung‘ durchzuführen.“ Damit wurde eine Eintragung des Stern-Hitler bereits zum historischen Faktum erklärt: Das Morden der SS-Einsatzgruppen in Polen sei gegen die Befehle des Führers geschehen. Im Editorial notierte Chefredakteur Koch ergriffen: „Wer ahnte auch nur, wie Hitler insgeheim seinem obersten Folterknecht Himmler mißtraute … Die Tagebücher enthüllen es. Am heikelsten: Hitlers Äußerungen über die Juden.“

In einem der nicht mehr veröffentlichten Bände dichtete Kujau, Hitler habe jüdische Siedlungen im Osten geplant, „wo sich diese Juden selbst ernähren können“. Die Tendenz ist eindeutig: Hitler ist entsetzt über die Glasschäden in der Kristallnacht. Hitler droht Himmler wegen der Morde in Polen mit dem Parteigericht. Hitler plant Autonomiegebiete für die Juden. Logischer Fluchtpunkt dieser Aussagen: Auschwitz ist das Werk des „hinterhältigen“ und „undurchsichtigen“ Himmler. Und der Führer hat von nichts gewusst.

Das ist der eigentliche Skandal der Hitler-Tagebücher: Das politische Programm, das in Kujaus Fälscherarbeit angelegt war, machte den Stern zum Sprachrohr eines strammen Revisionismus auf der Linie der Neonazis.

Manche Beobachter sehen die Fälschung deshalb als finstere Machenschaft. Selbst Manfred Bissinger, Verfasser eines klugen Buchs über „Hitlers STERNstunde“, will die Behauptung des Fälschers Kujau, er habe im Auftrag des BND an dem neuen Hitler-Bild gearbeitet, nicht ganz von der Hand weisen. Aber Verschwörungstheorien sind nicht zu empfehlen, wenn es eine einfachere Erklärung gibt.

Der Fälscher Kujau war Händler von falschen und echten Nazireliquien; er verkehrte fast nur mit alten Kameraden. Und sein Kunde Heidemann war für die Stern-Kollegen „der Mann mit dem Nazi-Tick“, der sich hoch verschuldet hatte, um die Jacht Herman Görings zu kaufen und mit Nazischrott vollzustopfen. Alle hörten, wie er sich der Freundschaft alter Kameraden rühmte. Viele wussten, dass die ehemaligen SS-Generäle Mohnke und Wolff seine Trauzeugen waren, und hatten das Hochzeitsgeschenk von Wolff bestaunt: den SS-Ehrendolch mit den eingravierten Worten „für Gerd Heidemanns Verdienste um das Dritte Reich“.

Alle hielten den Mann, der von Martin Bormann nur als „Martin“ sprach und glaubte, mit dem letzten Schildknappen Hitlers über einen Mittelsmann Kontakt zu haben, für mehr oder weniger verrückt. Und alle waren genervt, wenn er in Redaktionssitzungen über sein Lieblingsprojekt sprach: Heidemann wollte das legendäre Bernsteinzimmer aufspüren und der Sowjetunion zurückgeben. Im Gegenzug sollte Breschnew Heß begnadigen, den Führer-Stellvertreter, der im Kriegsverbrechergefängnis zu Spandau einsaß.

Von einem solchen Mann kaufte der Stern die Katze im Sack, unter Missachtung aller journalistischen Sorgfaltsgebote. Verlag und Redaktion wollten nicht einmal wissen, wer das Tier in den Sack gesteckt hatte. Sie hatten sich ja vertraglich verboten, auch nur zu fragen. Deshalb mussten sie weghören, als das Tier im Sack zu grunzen begann.

Der Inhalt der Kujau-Tagebücher – und der Geist Heidemanns – begann die Redaktionsleitung anzustecken. Dem Editorial der zweiten Hitler-Nummer des Stern ist zu entnehmen, dass die Chefredaktion mit der erhofften Erlaubnis der Alliierten auf einen neuen Scoop zusteuerte: das erste Interview mit dem geistig umnachteten Spandauer Häftling Rudolf Heß. Hätte der Hitler-Spuk nicht so abrupt geendet, wäre der Stern wohl zum Sprachrohr der Kampagne für die Freilassung des verkannten „Friedensengels“ geworden.

Von besonderer Ironie ist dabei, dass gerade der – umgeschriebene – Heß-Flug zu den abstrusesten Erfindungen Kujaus gehörte: Sein Hitler behauptete nicht nur, dass der Englandflug vom Mai 1941 in seinem Auftrag erfolgte, sondern auch, dass Heß ihn bereits Wochen vor Beginn des Zweiten Weltkriegs geplant hatte, um den Krieg mit England abzuwenden. Für den 22. Juli 1939 – an diesem Tag flog die Lufthansa noch nach London – notiert der Stern-Hitler: „Heß sagt, man müsse eine Spezialmaschine bauen, er arbeite auch schon an den Plänen. Was für ein Kerl.“

Diese historische Tollheit war im Stern vom 5. Mai nachzulesen. Das führt uns zu der dritten Frage. Wo waren eigentlich die Fachhistoriker? Warum stellte das Münchner Institut für Zeitgeschichte nicht per Eilmeldung fest, dass sich die Stern-Tagebücher durch ihren Inhalt als groteskes Machwerk in plumper revisionistischer Absicht entlarven? Was war los mit den Koryphäen für die Geschichte des Dritten Reiches, die solchen Schwachsinn lasen und nicht zum Telefonhörer griffen, um die Redaktion der „Tagesschau“ anzurufen? Warum wollte sich keiner exponieren? Es wäre der beruflichen Ehre ja nicht abträglich gewesen. Aber die Historiker ließen den Materialexperten den Vortritt. Vielleicht waren sie fasziniert, angesteckt von der Hoffnung, dass ihr Fachgebiet, ein penibel vermessenes und gründlich beackertes Terrain, doch noch einen sensationellen Fund freigeben könnte? Dieses Schweigen bleibt ein Rätsel.

Doch keiner war so naiv wie der Vorstandsvorsitzende von Gruner + Jahr, Gerd Schulte-Hillen. Dem hatte Heidemann anvertraut, was er noch alles beschaffen konnte. Die Liste umfasste unter anderem: „Hitlers Buch über die Frauen“, „Goebbels-Aufzeichnung nach Hitlers Selbstmord“, je ein Hitler-Buch über Friedrich den Großen und König Wilhelm II. von Bayern und als Nr. 14: „Hitlers Oper ‚Wieland der Schmied‘ “.

Manfred Bissinger schreibt: „Wer einen solchen Brief bekommt und sich dann immer noch nicht fragt, wer hier eigentlich nicht richtig tickt, dem ist nicht zu helfen.“ Schulte-Hillen jedenfalls ließ den Dingen seinen Lauf. Und im Gegensatz zu anderen Verantwortlichen für das publizistische Desaster behielt er seinen Job. Ein gutes Jahr nach dem Ende der Affäre war der Auflagenrückgang des Stern gestoppt, und der Umsatz des Verlags lag erstmals über zwei Milliarden. Der Mann hatte bewiesen: Er war sein Geld wert. Und die Zahlen waren nicht gefälscht.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.04.2008, von Niels Kadritzke