Das Erdenrund ein Gottesstaat
Im 19. Jahrhundert begründete der Mahdi im Sudan den modernen politischen Islam von Georg Brunold
Das 20. Jahrhundert war – anders als es das begonnene noch für eine Weile zu bleiben verspricht – kein Jahrhundert des globalen Dschihad. Wohl dagegen das ihm vorausgegangene 19. Jahrhundert. „Die Zivilisation steht hier dem militanten Mohammedanismus gegenüber“, berichtete 1897 ein Kavallerieleutnant namens Winston Churchill in einer seiner Korrespondenzen von der Nordwestgrenze Britisch-Indiens, die im Daily Telegraph anonym abgedruckt wurden. Churchill war dort gegen dieselben aufständischen Paschtunenstämme im Einsatz, die noch heute mit Allahs Beistand der pakistanischen Regierung auf der Nase herumtanzen. In einem Brief schärfte der 23-Jährige zugleich dem fünf Jahre jüngeren Bruder Jack ein: „Eine gute Kenntnis der Geschichte ist ein Köcher voller Pfeile in der politischen Debatte.“
Entfacht durch soziale, wirtschaftliche und politische Unzufriedenheit, erschütterte ein Geist der Revolte und des Neubeginns die islamische Welt. Und dies nicht nur am Hindukusch oder unter den sudanesischen Arabern des oberen Niltals, wo sich 1881 der Mahdi mit seiner sprunghaft anwachsenden Gefolgschaft gegen die osmanisch-ägyptische Herrschaft erhob, sondern von Westafrika bis in die Wüsten der Arabischen Halbinsel, vom Kaukasus und Iran bis nach Südostasien. Nach Jahrhunderten obrigkeitlicher Korruption und Dekadenz versprach nur noch die Rückkehr zu Gott und die Erneuerung des rechtgeleiteten Glaubens Abhilfe. Die Reformbewegungen richteten sich allem voran gegen Fremdherrschaft, und im Wunsch nach Selbstbestimmung meldeten sich die republikanische Sorge um das Gemeinwohl und der Traum von einer gerechteren Ordnung.
Das Osmanische Reich war schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts in eine Dauerkrise eingetreten. Diese erwies sich in der Folge als unkurierbare Altersschwäche seines Kalifats, das in Istanbul die geistliche Führung über alle Muslime der Welt beanspruchte. Was dem rebellischen Geist den Boden bereitete, war vielleicht weniger die Autokratie und das drakonische Schwert der Osmanenherrschaft als vielmehr die allenthalben unübersehbar gewordene Baufälligkeit des kontinenteübergreifenden Kolosses.
Von Ost nach West, mit der Sonne gehend, vom einen zum anderen Ende der islamischen Welt: 1825 erklärte Prinz Pangeran Diponegoro, noch heute Indonesiens Nationalheld, den Holländern den heiligen Krieg. Diese brauchten fünf Jahre, um die Rebellion auf Java niederzuschlagen und den Prinzen nach Makassar auf Sulawesi zu verbannen. Im Großen Indischen Aufstand von 1857 machten Aufrufe zum Dschihad die Briten zeitweilig glauben, die Revolte in den Reihen des einheimischen Militärs sei religiös inspiriert. Nur der zersplitterte Auftritt der muslimischen Gemeinschaften verhinderte, das diese die britische Repression in ganzer Wucht auf sich lenkten. Im nördlichen Kaukasus trotzte Schamil, der Imam von Dagestan und Tschetschenien, seit 1839 zwanzig Jahre lang im Namen Allahs dem nach Zentralasien expandierenden Russland und fügte den zaristischen Truppen schwere Niederlagen zu, bevor er sich 1859 ergab und unter dem Schutz Alexanders II. nach Kiew ins Exil ging.
Die puritanischen Muwahhidun – Freischärler, die sich auf Mohammed ibn Abd-al-Wahhab beriefen und deshalb außerhalb ihrer innerarabischen Wüsten als Wahhabiten bleibenden Ruhm erwarben – griffen bereits 1802–1804 die Osmanen-Statthalter im südirakischen Kerbela und im Hedschas an. Im Namen des wahren Glaubens, der derartige Kultstätten nicht duldete, verwüsteten sie die Kaaba in Mekka und die Grabmoschee des Propheten in Medina. Mehmet Ali, der osmanische Vizekönig in Kairo, und sein Sohn Ibrahim brauchten sieben Jahre, bis sie 1818 mit ihren von den Briten unterstützten Strafexpeditionen auf die Arabische Halbinsel die fulminanten Wüstenkrieger gebändigt hatten, die ein Jahrhundert später unter Abdel Asis ibn al-Saud das heutige Königreich Saudi-Arabien zusammenerobern würden.
Zur gleichen Zeit wie der Mahdi im Sudan erhob eine Bewegung ihr Haupt, die alsbald das Etikett „panislamisch“ erhielt. Diese Bewegung verstand sich zwar nicht unbedingt als weltumspannend, doch sie sprach für den gesamten islamischen Orient in dessen Konfrontation mit den imperialistischen Mächten des Westens, zu denen auch das Zarenreich gehörte. Ihr Kopf war der Iraner Jamal ad-Din al-Afghani, der erste moderne islamische Berufsrevolutionär, für den nur ein grenzüberschreitendes Aktionsprogramm infrage kam. Auf einen modernen ideologischen Nenner gebracht, ging es al-Afghani entschieden weniger um Gott als vielmehr – ganz im Geiste eines Marx oder Bakunin – um die Verdammten dieser Erde. In der islamischen Religion wurde das moderne Vehikel der politischen Massenmobilisierung entdeckt. Sein unschätzbarer Vorzug war – wie es im Sudan die Heere des Mahdi beispielhaft vorführen sollten – die Waffe des Martyriums mit der ihr eigenen Schlagkraft.
Der 1838 geborene al-Afghani war schon in jungen Jahren als Student, Lehrender und Berater zweier afghanischer Könige weit herumgekommen: von seiner iranischen Geburtsstadt Asadabad nach Nadschaf und Kerbela, den südirakischen Zentren schiitischer Gelehrsamkeit, nach Mekka und bis ins indische Delhi und nach Kandahar und Kabul. Mehrfach deportiert – aus Afghanistan, Iran, Istanbul –, gelangte er auch nach Kairo, wo er von 1871 bis 1879 wirkte und im Kaffeehausmilieu des Opera Squares in Rufweite der Azhar-Universität junge ägyptische Nationalisten in die Lehre vom antiimperialistischen Widerstand einführte. „Durch dich haben wir das Universum kennengelernt“, schmeichelte ihm sein wichtigster ägyptischer Schüler Mohammed Abduh. In Ägypten fiel die geistige Saat des Urislamisten al-Afghani erstmals auf fruchtbaren Boden. Die Eröffnung des Suezkanals von 1869 hatte dem Land der Pharaonen wieder zu weltpolitischer Bedeutung verholfen – auch in Deutschland kam das Wort „Weltpolitik“ in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts in Mode. Namentlich für das British Empire war die Sicherheit des neuen Seewegs nach Indien eine strategische Priorität, die neben Ägypten auch den sudanesischen Küstenstrich am Roten Meer mit den Häfen Suakin und Tokar aufwertete.
Unter dem Khediven Ismail Pascha, dem osmanischen Vizekönig am Nil, der sich in seiner Regierungszeit 1863–1879 einen umstrittenen Namen als großer Modernisierer erwarb, war Ägypten zunächst zu einer in seiner neueren Geschichte einzigartigen Blüte gelangt, vor allem dank dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865), der den Baumwollpreis in märchenhafte Höhen trieb. Darauf hielt am Nil allerdings der permanente Staatsbankrott Einzug und lieferte Ägypten, längst nur mehr nominell unter der Hoheit Istanbuls, auf Gedeih und Verderb den westlichen Gläubigern aus. Diese setzten 1879 den unbelehrbaren Ismail ab und schickten ihn ins Exil.
Raubzüge und Heilsversprechen
In dem Machtvakuum, das Ismails Sohn Tawfik nicht auszufüllen vermochte, sahen Ägyptens nationalistisch und islamisch inspirierte Kräfte 1882 ihre Stunde gekommen. Die Militärrevolte des Armeechefs Ahmed Urabi, um den sie sich gruppierten, erschütterte den ganzen Vorderen Orient und veranlasste die Briten, leibhaftig im Nildelta in Erscheinung zu treten. Als Auftakt ihrer Herrschaft über Ägypten, die siebzig Jahre bis 1952 dauern sollte, schoss die Royal Navy Alexandria in Schutt und Asche. In der folgenden Schlacht von Tel-el-Kebir schlug die britische Invasionsstreitmacht die aufständische ägyptische Armee vernichtend. Damit waren die Geschicke des Nillands in die Hände der Regierung Ihrer Majestät gelegt.
Von dieser Entwicklung in besonderer Weise betroffen war die osmanisch-ägyptische Obrigkeit im Sudan. Das Land am Oberlauf des Nil war erst ab 1820 etappenweise unterjocht worden und hatte es in den über fünfzig Jahre dauernden Vorstößen Mehmet Alis und seiner Erben zu seiner heutigen riesigen Ausdehnung gebracht. Fortan grenzte der Sudan im Süden an die alten Königreiche des heutigen Uganda und im Südwesten an König Leopolds Kongo-Freistaat; im Westen hatte er das Sultanat Darfur geschluckt und ging daran, sich auch das Königreich Wadai im heutigen Osttschad einzuverleiben.
Die liberale Regierung Gladstone in London, die sich in Ägypten gegen die internationalen Gläubiger erst noch die Finanzhoheit zu erkämpfen hatte, verspürte wenig Appetit auf die unsichere Hinterlassenschaft im oberen Niltal und weit darüber hinaus. Die Niederlage bei Tel-el-Kebir hatte von den ägyptischen Streitkräften wenig übrig gelassen, und deren Garnisonen im Sudan fanden sich dadurch unversehens ihrer rückwärtigen Basis beraubt. Doch die Briten waren nicht gewillt, ihnen unter die Arme zu greifen. Nach zehn Monaten heroischen Widerstands der 7 000 Verteidiger von Khartum unter Führung des britischen Sondergesandten General Charles Gordon stürmte der Mahdi im Januar 1885 mit 50 000 Gotteskriegern die Stadt. Gordon wurde niedergemacht, Khartum Hauptstadt eines islamischen Gottesstaats – eine historische Demütigung für die britische Krone.
Der Berufsrevolutionär al-Afghani hatte in der Zwischenzeit sein Hauptquartier nach Paris verlegt, wo er den Teufel namens Imperialismus in dessen eigenem Haus wirksamer zu bekämpfen hoffte. Zusammen mit seinem ägyptischen Schüler Mohammed Abduh redigierte er dort die ersten Nummern seiner Zeitschrift al-Urwat al-Wuthqa (Das unauflösliche Band). Im französischen Exil brüstete sich al-Afghani mit der mehr als zweifelhaften Behauptung, er unterhalte Verbindungen zum Mahdi und dieser stehe unter seinem Einfluss, was Gladstone in London zu dem unergiebigen Versuch verleitete, über al-Afghani mit dem Mahdi zu verhandeln.
Wer war al-Afghanis angeblicher sudanesischer Verbündeter Mohammed Ahmed – dieser Mahdi oder „stets freundlich Lächelnde“, dessen göttliche Sendung und weltliche Erfolge alles in allem mehrere hunderttausend Menschenleben gekostet haben? Sohn eines Schiffbauers im nordsudanesischen Dongola am Nil, als junger Prediger von seinen Brüdern unterhalten, die dem Familienhandwerk treu geblieben waren, legte er sich mit den bestechlichen religiösen Führern an, indem er bei Hochzeitsfesten gegen Tanz und den Genuss geistiger Getränke ins Feld zog.
Das Zerwürfnis mit dem geistlichen Establishment beförderte den predigenden Asketen zum Führer einer nationalen Befreiungsbewegung, die ihn rasch zu einer Herausforderung für die ägyptische Obrigkeit machte. Als er im August 1881 in Rundschreiben verkündete, er sei der erwartete und versprochene Mahdi, „der Rechtgeleitete“, von Gott gesandt, um die Welt zum wahren Glauben zurückzuführen und Gleichheit und Gerechtigkeit zu bringen, rief ihn der ägyptische Gouverneur Rauf Pascha nach Khartum, sich vor der Obrigkeit zu rechtfertigen. Auf die Weigerung des Mahdi hin entsandte Rauf zwei Kompanien zu dem Schrein des Rebellen auf der 300 Kilometer südlich von Khartum gelegenen Nilinsel Abba. Nachdem der Mahdi die nicht sehr kampferprobte ägyptische Häscherschar außer Gefecht gesetzt hatte, sah er sich gezwungen, mit seiner noch kleinen Gefolgschaft in den Untergrund zu gehen – wofür der Sudan stets weiten Raum bietet.
Binnen zwei Jahren befand sich das ganze Riesengebiet vom Roten Meer bis nach Darfur im offenen Aufstand. In seinem dreieinhalb Jahre dauernden Marsch auf Khartum rückte der gewiefte Taktiker Mohammed Ahmed immer erst in Gebiete vor, wenn er deren Bevölkerung bereits auf seiner Seite wusste. Unblutige Siege zog er vor, doch die traditionellen lokalen Führer hatten nichts zu lachen und noch weniger zu sagen. Es ist kein Fall einer eroberten Provinz bekannt, in dem einer seiner Emire sich an die Versprechungen gehalten hätte, mit denen er dem Gegner die Kapitulation schmackhaft gemacht hatte.
Seine eigenen Männer, die der Mahdi in militärisch überaus fragwürdigen Unternehmungen zu tausenden opferte, entschädigte er mit der Vorstellung vom Einzug in ein Paradies, das er als das notorische Schlaraffenland voller unberührter Mädchen ausmalte. Seine Heere lebten vom Raub auf Kosten der Bevölkerung, und auf lange Phasen totaler Kriegsbegeisterung, die produktiven Aktivitäten keinen Raum ließen, folgten Hungersnöte und Seuchen. Wer indes im Reich des Mahdi einer Krankheit zum Opfer fiel, gehörte zu den „schwarzen Herzen“, die nur die gerechte Strafe Gottes ereilt haben konnte. Fünf Monate nach dem Fall Khartums und zwei Monate vor seinem 41. Geburtstag erlag der Mahdi selbst dem Typhus.
Im Größenwahn steckt die unterdrückte Ahnung seiner Hinfälligkeit. Als das Verderblichste im Reich des Mahdi galt jede Manifestation von Gelehrsamkeit, religiöser Art an erster Stelle. Denn im Mahdi, der in direkter Verbindung zum Propheten stand, war alles göttliche Wissen vereint. Sämtliche Bücher außer dem Koran waren zu vernichten. Den Verlust ersetzte er durch zahlreiche pastorale Schreiben, die er unermüdlich im ganzen Reich und darüber hinaus verbreiten ließ. Er ergänzte das Glaubensbekenntnis der Muslime: „Es gibt keine Götter außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet, und Mohammed Ahmed ist der Mahdi Gottes und der Vertreter seines Propheten.“
Von den übrigen vier Säulen des Islam – die täglichen fünf Gebete, das Fasten im Ramadan, die Zakat oder Almosen an die Bedürftigen, die Pilgerfahrt nach Mekka (Hadsch) – ersetzte er zwei kurzentschlossen: Die Zakat wurde zur Steuer an seinen Staat umgewandelt, der Hadsch durch die Pflicht zur Teilnahme an seinem Dschihad abgelöst. Er selbst werde, verkündete Mohammed Ahmed, reihum in Kairo, Mekka, Jerusalem, Bagdad und Istanbul beten. In Ägypten sei er demnächst mit den Heeren seiner Gottespartei Hisb’allah zu erwarten, versprach er noch im Monat des Falls von Khartum. Seine Vision war ein Erdenrund, das mit seinem Gottesstaat zusammenfallen werde, und damit musste die Welt enden.
Was der Mahdi mit den gewaltbereiten Dschihadisten unserer Tage gemeinsam hat, ist – neben der schrankenlosen Größe seiner Vision – die wichtigste Voraussetzung einer absoluten Selbstermächtigung: der vollständige Machtverlust aller Tradition und mit ihr jeder Autorität, die in deren Geltung gründet. Das ist das eminent Moderne an der Gestalt Mohammed Ahmeds, der sich außer auf den Propheten selbst, der ihm zu erscheinen pflegte, auf keinen Vorläufer berief. Die dynamische Karriere des Mahdi ist allerdings erst das Vorspiel der Geschichte seines Reichs, das dem Sudan dreizehn Jahre einer zuvor nicht gekannten Tyrannei und Blutherrschaft brachte.
Anders als der Mahdi war sein designierter Nachfolger Khalifa Abdullahi Stammesangehöriger der Taaisha aus dem südwestlichen Darfur. Als Exponent der Baggara-Araber – der Vieh züchtenden Nomaden der westsudanesischen Steppen – sah er sich unter den sesshaften Araberstämmen des Niltals von lauter Gegenspielern umringt, die es auszuschalten galt. Die Konsolidierung seiner Macht ging mit der Verschiebung ganzer Bevölkerungsgruppen des Riesenreichs einher, während Staatsterror und Hungersnöte ganze Landesteile entvölkerten. Der vom Mahdi ererbte Auftrag der Welteroberung diente ihm dazu, mittels fortlaufender Kriege gegen alle Nachbarn die Einheit seiner eigenen Untertanen zu erzwingen und zugleich die unzuverlässigen Parteigänger als Kanonenfutter zu eliminieren. Mit unerhörter Energie suchten die Mahdisten-Heere das christliche Nachbarreich Abessinien heim, und nur der Kräfteverschleiß dabei hielt die Bedrohung in Grenzen, die der Sudan für Ägypten darstellte.
Die Bedrohung Ägyptens und der Handelswege im Roten Meer war kaum ein ausreichendes Motiv, um die Briten über zehn Jahre nach dem Fall Khartums zu einer neuerlichen Intervention mit weitreichenden Zielen zu bewegen. Unterstützung erhielten die Befürworter der Rückeroberungspläne aus anderer Richtung: Im Mai 1893 äußerte der französische Präsident Marie François Carnot den Wunsch, die Nil-Frage erneut aufzurollen. Damit stellte Englands Erzrivale Frankreich den legendären britischen Kap-Kairo-Plan infrage, der nicht bloß ein Eisenbahnprojekt war, sondern die Vision eines zusammenhängenden britisch kontrollierten Gebiets vom Kapland bis zum Nildelta: die viktorianische Grundstrategie der Kolonisation des afrikanischen Kontinents.
Die französische Regierung ließ bald Taten folgen. Im Sommer 1896 organisierte sie von der afrikanischen Atlantikküste aus eine Expedition unter Hauptmann Jean-Baptiste Marchand. Deren Auftrag lautete, in Faschoda am oberen Nil die Trikolore zu hissen. Damit stellte Paris dem Kap-Kairo-Plan das Projekt einer französischen West-Ost-Gebietsverbindung von Dakar bis nach Dschibuti entgegen. London nahm die Herausforderung ernst, zumal der von den Italienern in Eritrea bedrängte abessinische Imperator Menelik II. sich durch die französischen Avancen erwärmen ließ.
Am oberen Nil zeichnete sich damit eine Konfrontation ab, die Europa alsbald an den Rand eines vorgezogenen Weltkriegs bringen sollte. Und dem Khalifa Abdullahi hatte die Stunde geschlagen. Nichts hätte ihn retten können, nicht einmal die französischen Waffen, die ihm noch im April 1898 – fünf Monate vor seinem Sturz und drei Monate vor der Ankunft Marchands am Nil – offeriert wurden. Die abessinischen Emissäre, die ihm in Omdurman das Angebot unterbreiteten, bewirtete er in sudanesischer Weltläufigkeit mit Champagner; die Waffenhilfe aus Christenhand dagegen lehnte er ab.
Die britisch-ägyptische Rückeroberung des Sudans 1896–1898 ging als bahnbrechende Leistung industrieller Kriegslogistik in die Geschichte ein, die in Nordafrika unwiderruflich unsere Gegenwart einläutete. Südlich der ägyptischen Grenze wurden an die 1 000 Kilometer Eisenbahnschienen verlegt und mindestens doppelt so viele Kilometer an Telegrafendraht gezogen. In improvisierten Docks am sudanesischen Nilufer wurden in Einzelteilen herangeschaffte Kanonenboote neuesten Typs montiert.
Militärtechnik gegen den Gottesstaat
Die Entscheidungsschlacht bei Omdurman vom 2. September 1898 firmiert in der Militärgeschichte als die letzte Schlacht mit großen berittenen Verbänden und zugleich bereits mit kampfentscheidendem Einsatz schnell feuernder Artillerie und vor allem des neuen, allen Vorläuferwaffen hoch überlegenen Maxim-Maschinengewehrs. „Es war keine Schlacht, sondern eine Exekution“, konstatierte George W. Stevens, der als Korrespondent des Daily Mail in Omdurman dabei war. Binnen fünf Stunden gab es 9 700 Tote und 16 000 Verwundete im Feindeslager – bei eigenen Verlusten von insgesamt 482 Getöteten und Verwundeten. „Eine Frage der Maschinerie“, in den Worten des Kavallerieleutnants Churchill, der ebenfalls wieder auf Pferderücken zur Stelle war und für die Morning Post berichtete, wobei er mit Kritik an der ägyptisch-britischen Heerführung Herbert Kitcheners nicht zurückhielt. Technik hatte den sudanesischen Gottesstaat zerschlagen. Die bereits damals lautstark vorgetragenen humanitären oder damals noch „zivilisatorischen“ Motive waren dabei – wie seitdem oft zu beobachten – eine der Öffentlichkeit zugedachte Begleitmusik, die deshalb freilich nicht ihr ganzes Recht einbüßen muss.
Die Briten blieben bis zur Unabhängigkeit vom 1. Januar 1956 im Sudan. Bei der auch für sie gewiss nicht immer einfachen Aufgabe, in dem Riesenreich ihre Autorität zu wahren, profitierten sie in entscheidendem Maß von den Ängsten der Einheimischen, unter ägyptische Herrschaft zurückzufallen. Seit spätestens Mitte des 18. Jahrhunderts war diese Zeit das friedlichste halbe Jahrhundert, das der Sudan – das heißt die Gebiete in dessen heutigen Grenzen – erleben durfte.
Seither hat das Land in den 52 Jahren seiner Eigenstaatlichkeit lediglich zehn Jahre (1973–1983) im Frieden verbracht. Die stets so freundlich wie der Mahdi lächelnde Bevölkerung lebt weiter unter einem Regime, dessen Herrschaftsrezept Staats- und Bürgerkriegsterror ist. Während insgesamt 39 Jahren (1956–1973 und 1983–2005) führte die stets arabisch dominierte Staatsmacht ihre Kriege gegen den schwarzafrikanischen, mehrheitlich christlich-animistischen Südsudan und seit nunmehr fünf Jahren im rein muslimischen Darfur.
Unter seiner religiös verbrämten Militärjunta – bis 1996 Gastgeberin Ussama Bin Ladens – exportierte das Land auch in den letzten zwei Jahrzehnten blutige Konflikte in den Tschad, die Zentralafrikanische Republik und nach Uganda, und aus den Reihen des vielarmigen Sicherheitsapparats war auch mit Mordanschlägen gegen Präsidenten eines Nachbarlandes zu rechnen – wie 1995 in Addis Abeba gegen Hosni Mubarak.
Doch anders als seinerzeit der Khalifa Abdullahi sind die eigentlichen Chefs heute nicht mehr zu belangen. Denn bis heute sieht die sogenannte internationale Gemeinschaft keine Alternative zur Zusammenarbeit mit diesem Regime.
Das gilt auch für die USA, deren Regierung zwar die Ereignisse in Darfur als Genozid bezeichnet, in George W. Bushs Antiterrorkrieg aber zugleich auf die Kooperationsbereitschaft Khartums setzt. Seit der Vertreibung der Taliban aus Kabul verfügt der militante Teil der islamisch- fundamentalistischen Weltbewegung wiederum nur über eine einzige staatliche Bastion: Wie schon zur Zeit des Mahdi ist das der Sudan.
Das jüngste sudanesische Projekt einer revolutionären islamischen Theokratie, das der letzte Staatsstreich von 1989 im Namen des Panislamismus einläutete, ist – genauso wie Abdullahis Mahdisten-Khalifat – wiederum zu einer ethnisch abgestützten, offen rassistischen Militärdiktatur verkommen. Doch diesmal nicht als Despotie von arabischen Viehzüchterstämmen aus dem südlichen Darfur, sondern von drei sesshaften Araberstämmen aus dem Niltal: der Jaalin, der Shaiggia und der Danagla, die gemeinsam kaum mehr als fünf Prozent der Bevölkerung des Sudans ausmachen. Das Grundproblem der Araber im Sudan ist damit auf den Punkt gebracht: Auf einem Territorium von der Ausdehnung Westeuropas oder drei Vierteln Indiens und in einem Staat, der die Geschicke der Angehörigen von über hundert Sprachgemeinschaften zu lenken hat, sind sie nach wie vor eine Minderheit. Daher mag rühren, dass sie sich bis heute nur als Alleinherrscher sehen konnten – als was schließlich sonst?!
Derzeit hat das Regime in Karthum auf dem internationalen Parkett einen Partner von großem Gewicht: die Volksrepublik China, den bei weitem wichtigsten Geschäftspartner des Sudans. An Chinas Außenpolitik, bestimmt durch unstillbaren Hunger nach Energiequellen und Märkten, wird sich die internationale Diplomatie noch für einige Jahre die Zähne ausbeißen – besonders auf dem Krisenkontinent Afrika. Der schwarze Erdteil, das ehemalige Experimentierfeld der europäischen Mächte, richtet sich, was seine maßgeblichen Wirtschaftsbeziehungen angeht, zusehends nach Asien aus. Dort wird Zusammenarbeit nicht vom Respekt für Menschenrechte abhängig gemacht, und dort sind auch die Vergleichsgrößen für humanitäre Katastrophen wie in Darfur zu suchen: in Ländern wie Afghanistan, Burma oder Nordkorea.
An den Sudan grenzen neun Nachbarländer, deren Gesamtbevölkerung sich mit den 40 Millionen Sudanesen zu 350 Millionen Menschen addiert, was gut einem Drittel aller Bewohner Afrikas entspricht. Der Sudan ist nur eines von 53 afrikanischen Ländern, aber das größte und das Zentrum eines multinationalen Konfliktherds, dessen Ausstrahlung auch über den Kontinent hinaus kaum zu überschätzen ist.
Wie bereits in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts wird noch im London Tony Blairs und Gordon Browns – und genauso im State Department in Washington – unermüdlich wiederholt: Dieses um die Islamistenhochburg Khartum gravitierende schwarze Loch ist nicht nur eine unerträgliche humanitäre Tragödie, es stellt außerdem für die internationale Ordnung eine Bedrohung dar, angesichts derer Untätigkeit inakzeptabel ist.
Der vorliegende Text ist eine gekürzte Fassung der Einführung zu: Winston S. Churchill, „Kreuzzug gegen das Reich des Mahdi“, ediert und übersetzt von Georg Brunold, Frankfurt am Main (Eichborn, Die Andere Bibliothek), erscheint im Juni 2008. Georg Brunold war Redakteur und Afrikakorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung. Heute ist er freier Journalist und Autor in Nairobi. Sein letztes Buch: „Ein Haus bauen. Besuche auf fünf Kontinenten“, Frankfurt am Main (Eichborn, Die Andere Bibliothek) 2006. © Le Monde diplomatique, Berlin